Chilla, Tobias Regionalentwicklung

Tobias Chilla, Olaf Kühne, Markus Neufeld

Regionalentwicklung

93 Abbildungen

16 Tabellen

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Haupttitel

Die UTB-Reihe

Über den Autor

Impressum

Vorwort

1Einführung

1.1Regionen und ihre Entwicklung – ein weites Feld

1.2Möglichkeiten regionaler Abgrenzung

1.2.1Auf Homogenität basierende Abgrenzung

1.2.2Funktionale Abgrenzung

1.2.3Administrative Einteilung

1.2.4Diskursive Regionalisierung

1.3Region – konzeptionelle Zugänge

1.3.1Essentialistische Ansätze

1.3.2Positivistische Ansätze

1.3.3Konstruktivistische Ansätze

1.4Normative Zugänge: Wie entwickelt man Regionen ?

1.4.1Das Gleichgewichtspostulat

1.4.2Die Polarisationsthese

1.5Akteure der Regionalentwicklung

1.6Zur Forschungspraxis der Regionalentwicklung: Methoden und Operationalisierung

1.6.1Regional(entwicklungs)analyse ?

1.6.2Fallstudien

1.7Der Blick zurück

1.7.1Vormoderne: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

1.7.2Modernisierung als Rationalisierung und Industrialisierung

1.7.3Postmoderne: (Sub-, Des-, Re-)Urbanisierung und Metropolisierung

1.8Stadt und Land in der Raumbeobachtung

1.9Begrifflichkeiten

2Das Instrumentarium der Regionalentwicklung

2.1Rechtliche Instrumente

2.1.1Europäische Ebene

2.1.2Bundesebene

2.1.3Länderebene

2.1.4Kommunale Ebene

2.1.5Prinzipien der rechtlichen Verzahnung

2.1.6Blick über die Grenzen

2.2Finanzielle Instrumente

2.2.1Europäische Ebene

2.2.2Bundesebene

2.2.3Regionale und kommunale Ebene

2.2.4Steuerwettbewerb

2.2.5Politische Bedeutung finanzieller Instrumente

2.2.6Synopse

2.3Persuasive Instrumente

2.3.1Begriffliches

2.3.2Europäische Ebene

2.3.3Bundesebene

2.3.4Länderebene

2.3.5Kommunale Ebene

2.3.6Das persuasive Instrumentarium im Überblick

2.4Synopse des Instrumentariums

2.4.1Auf einen Blick

2.4.2Überlappungen

2.4.3Instrumente und Paradigmen in West-/Gesamtdeutschland

2.4.4Besonderheiten in Ostdeutschland

2.4.5Evaluation

2.4.6Governance ?

3Handlungsfelder der Regionalentwicklung

3.1Wirtschaft

3.1.1Ökonomische Disparitäten

3.1.2BIP – das Maß aller Dinge ?

3.1.3Europäische Raumentwicklung

3.1.4Metropolenfieber ?

3.1.5Nähe als Erfolgsfaktor ? Cluster, Milieus, Innovationssysteme

3.1.6Kreative/innovative Region

3.1.7Regionalentwicklung – exportbasiert oder endogen ?

3.1.8Regionalprodukte 

3.1.9Schlüsselbranchen der Regionalentwicklung ?

3.2Gesellschaft

3.2.1Räumliche Gerechtigkeit ?

3.2.2Arbeitslosigkeit als Schlüsselindikator ?

3.2.3Demographischer Wandel

3.2.4Räumliche Bindung: Zwischen Heimat, Identifikation und Lebensstil

3.3Natur, Landschaft, Umwelt

3.3.1Aktuelle Dynamik

3.3.2Natur

3.3.3Naturschutz: Großschutzgebiete und Regionalentwicklung

3.3.4Der Landschaftsbegriff

3.3.5Energiewende und Klimawandel

3.3.6Instrumentelle Vielfalt

4Zusammenführung

4.1Synopse

4.2Die normative Perspektive: Nachhaltige Entwicklung ?

4.2.1Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit

4.2.2‚Schwache‘ und ‚starke‘ Nachhaltigkeit

4.3Beratung und Handlungsempfehlungen

4.4Ausblick

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Prof. Dr. Tobias Chilla, Jahrgang 1973, ist Professor für Geographie mit dem Schwerpunkt Angewandte und Europäische Regionalentwicklung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Wichtige Inhalte seiner aktuellen Forschung umfassen Fragen der räumlichen Governance, der Europäisierung und der grenzüberschreitenden Integration und zugleich lokale Projekte zur wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung. Er hat Geographie, Jura und Städtebau in Köln und Bonn studiert und in Köln auch promoviert. Seine Post-Doc-Stationen umfassten die Universitäten Köln, Bamberg und Luxemburg und die Habilitation an der Universität des Saarlandes.

Prof. Dr. Olaf Kühne, Jahrgang 1973, ist Professor für Stadt- und Regionalentwicklung an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Zuvor war er Professor für Ländliche Räume/Regionalmanagement an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und Stiftungsprofessor für Nachhaltige Entwicklung an der Universität des Saarlandes. Vor seiner Tätigkeit in der Wissenschaft war er in unterschiedlichen saarländischen Ministerien in den Bereichen Landesplanung, Regionalentwicklung und demographischer Wandel tätig. Der promovierte Geograph und Soziologe befasst sich primär mit Fragen der Stadt- und Regionalentwicklung, der sozialen Konstruktion von Landschaft und Fragen der räumlichen Auswirkung gesellschaftlicher Postmodernisierungsprozesse sowie der Transformation in Ostmitteleuropa.

Markus Neufeld, Dipl.-Geograph, Jahrgang 1983, studierte Geographie, BWL und Statistik in Bamberg. Nach seiner Tätigkeit in einer kommunalen Wirtschaftsförderung ist er seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am geographischen Institut der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dort forscht er über Kohäsion in Europa im Kontext der Wirtschaftskrise. Daneben bearbeitet er angewandte Projekte der Regionalentwicklung.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2016 Eugen Ulmer KG

Wollgrasweg 41, 70599 Stuttgart (Hohenheim)

E-Mail: info@ulmer.de

Internet: www.ulmer.de

Produktion: primustype Hurler GmbH | v1

ISBN 978-3-8252-4566-5 (Print)

ISBN 978-3-8463-4566-5 (E-Book)

Vorwort

Ein Lehrbuch zur regionalen Entwicklung ist eine wirkliche Herausforderung: Die möglichst kompakte und didaktische Bearbeitung dieses facettenreichen Gegenstands in seiner Breite, Aktualität und Interdisziplinarität ist immer inspirierend, aber selten trivial. Dass wir dieses Projekt dennoch angegangen sind, hat auch mit den vielfältigen Quellen zu tun, von denen wir profitieren konnten. Einige dieser Quellen seien zumindest kurz erwähnt.

Ein solches Lehrbuch ist zunächst nicht vorstellbar ohne die zum Teil langjährigen Überlegungen in den verschiedensten Projektarbeiten, in den vielfältigen Lehrveranstaltungen und in den Diskussionen mit den Fachkollegen auf Konferenzen, in Arbeitsgruppen, Forschungskonsortien und ‚auf dem Gang‘. Hier kann kein namentlicher Dank ausgesprochen werden, aber ein Lehrbuch ist immer auch Teil eines kollektiven Kommunikations- und Lernprozesses.

Eine wichtige Quelle dieses Buches ist zudem ein Onlinekurs der Virtuellen Hochschule Bayern (vhb): Seit dem Sommersemester 2014 werden dort unter dem Titel „Nachhaltige Regionalentwicklung“ verwandte Inhalte in einer regional auf Bayern zugespitzten Perspektive als 5-ECTS-Kurs angeboten. Viele der dort verwendeten Materialien und Argumentationen fanden Einfluss in dieses Buch, wobei die Ersterstellung von der VHB auch finanziell gefördert wurde, wofür wir an dieser Stelle danken.

In diesem Buch bemühen wir uns um eine möglichst verständliche Darstellung und auch um eine vielfältige Illustration. Dabei konnten wir dankenswerter Weise auf zahlreiche Abbildungen und Karten von Kollegen aus verschiedensten Institutionen zurückgreifen, die uns oft großzügig ihre Arbeiten zur Verfügung stellten. Großer Dank gilt in diesem Zusammenhang dem Erlanger Kartographen Dipl.-Geogr. Stephan Adler, der unsere Illustrationswünsche geduldig, ästhetisch und akkurat umsetzte. Herzlicher Dank gilt sodann Frau Melanie Reisch B. A., die mit ihren stets zielführenden und kreativen Recherchen und Zuarbeiten eine wichtige Stütze bei der Erstellung des Buches war. Zu danken habe wir darüber hinaus dem Ulmer Verlag in Stuttgart, wo uns Frau Sabine Mann M. A. eine außerordentlich freundliche und flexible Betreuung war.

Erlangen und Weihenstephan im Juli 2016

1Einführung

1.1Regionen und ihre Entwicklung –
ein weites Feld

Regionalentwicklung ist ein Themenfeld, das sich durch eine starke alltagsweltliche Verankerung auszeichnet: „Wie es so ausschaut“ in einer Region und wie sich diese entwickelt – diese Frage ist bei Weitem nicht nur von wissenschaftlichem Interesse. Die örtlichen Tageszeitungen berichten über aktuelle Entwicklungen in der Region, die Hausbesitzer beobachten die lokalen Immobilienpreise, der Unternehmer ist wegen des demographischen Wandels mit dessen Folgen für die Verfügbarkeit von Arbeitskräften besorgt, der Pendler macht sich im allmorgendlichen Stau Gedanken um metropolitane Verflechtungen, die Bürgermeisterin denkt an die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Gemeinde – Regionalentwicklung ist überall.

Das vorliegende Lehrbuch hat zum Ziel, dieses große und komplexe Thema so aufzubereiten, dass die wissenschaftliche und praktische Befassung mit dem Thema erleichtert wird. Im deutschsprachigen Bereich liegt bislang kein Lehrbuch zur Regionalentwicklung vor, im Gegensatz zur Situation in der englischsprachigen Literatur (z. B. Pike et al. 2011).

In einem solchen Zugang bestehen große Synergien mit benachbarten (und ‚überlappenden‘) Themenbereichen: Lehrbücher der Wirtschaftsgeographie (z. B. Braun & Schulz 2012), Raumplanung (z. B. Priebs 2013) und Regionalökonomie (z. B. Maier et al. 2012) sind hier wichtige Impulsgeber für die Befassung mit Regionalentwicklung. Auch Sammelbände mit sektoralen, konzeptionellen oder regionalen Ansätzen haben in den vergangenen Jahren einige Verbreitung gefunden (Kulke 2010, Gebhardt et al. 2013, Kühne & Weber 2015). Der interdisziplinäre Charakter der Analyse von regionaler Entwicklung setzt zwingend voraus, das Wissen aus verschiedenen Perspektiven einfließen zu lassen. Allerdings erscheint es sinnvoll, eine strukturierte, synoptische Arbeitshilfe für die Reflexion von regionaler Entwicklung zu formulieren, und diese möchte das vorliegende Lehrbuch bieten. Die Autoren des Bandes haben sich dabei vor allem an den folgenden Punkten orientiert:

Das vorliegende Lehrbuch stellt sich dieser recht umfassenden Aufgabe mit einem betont formalen Aufbau, insbesondere aus Gründen der Übersichtlichkeit: Kap. 1 erläutert die Begriffe ‚Region‘ und ‚Entwicklung‘, bevor Kap. 2 den ‚Werkzeugkasten‘ öffnet und rechtliche, finanzielle sowie persuasive Instrumente vorstellt. Kap. 3 erörtert die Handlungsfelder Wirtschaft, Gesellschaft und Natur vor dem Hintergrund des zur Verfügung stehenden Instrumentariums, bevor das Schlusskapitel Maßstäbe für eine ‚gute‘ Regionalentwicklung diskutiert und eine synoptische Betrachtung vornimmt.

Die textliche Argumentation ist um eine solide Verankerung in der fachlichen Diskussion und zugleich um die stete Illustration mit Fallbeispielen bemüht. Wo ausführlichere Informationen sinnvoll erscheinen, greifen wir zum einen auf Textboxen zurück, in denen zentrale Inhalte vertieft und ergänzend dargestellt werden. Besonders aussagekräftige Fallbeispiele werden ebenfalls aus dem Fließtext herausgenommen und als eigenes Format dargestellt. Beide Elemente können übersprungen werden, ohne dass der Argumentationsfluss unterbrochen wäre.

1.2Möglichkeiten regionaler Abgrenzung

Der vermeintlich klare Begriff der Region ist bei näherem Hinschauen oft nur schwer greifbar, selten eindeutig definierbar – zwei Beispiele aus dem Norden und dem Süden Deutschlands zeigen dies: Wo und was ist eigentlich das Allgäu ? Dies kann man als touristischen Kernraum nahe Oberstdorf verstehen oder als die institutionalisierte Planungsregion, die mehrere Landkreise und kreisfreie Städte umfasst (Lindner & Böckler 2002). Und was ist die Region Hamburg ? Wo fängt sie an, wo hört sie auf ? Man mag Hamburg als (Hanse-)Stadt oder als Metropolregion definieren (s. Abb. 1). Die Arbeitsmarktregion überschreitet die Grenzen des Stadtstaats erheblich und ist ein Argument für eine großräumigere Kooperation, wobei dann überrascht, dass in der Metropolregion Hamburg die Stadt Kiel nicht einbezogen ist, zu der erhebliche Pendel-Bezüge bestehen – das erklärt sich dann aus politischen Gründen.

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Abb. 1 Unterschiedliche Möglichkeiten der Abgrenzung der Region Hamburg (eigene Darstellung nach Metropolregion Hamburg o. J., Kropp & Schwengler 2011, BKG 2015)

Regionalisierungen können auf sehr unterschiedlichen Maßstabsebenen und implizit auch mit unterschiedlichen Abgrenzungskriterien argumentieren. Diese Antwort-Optionen lassen sich systematisieren, wie Tab. 1 zeigt. Übergeordnet lassen sich Regionen dabei zunächst definieren als „Ausschnitt der Erdoberfläche, der über bestimmte gemeinsame oder verbindende Merkmale und Eigenschaften definier- und abgrenzbar ist“ (Braun & Schulz 2012: 83). Im Speziellen ist dann zwischen funktionalen / homogenen, administrativen und diskursiven Abgrenzungsmöglichkeiten zu unterscheiden.

Tab. 1 Formen der Abgrenzung und Definition von Regionen (Regionalisierung)

Homogen

Funktional

Administrativ

Diskursiv

räumliche Einheit von ähnlichen/gleichen Merkmalsausprägungen

räumliche Einheit von miteinander verbundenen Elementen (Verflechtungen)

Raumeinheiten für die statistische Erfassung und/oder für die Organisation politischer bzw. administrativer Zuständigkeiten

Raumeinheiten in gesellschaftlicher Debatte (medial, politisch, alltagsweltlich)

1.2.1Auf Homogenität basierende Abgrenzung

Zunächst lassen sich Regionen nach ähnlichen oder gleichen Merkmalsausprägungen abgrenzen. Das Homogenitätsprinzip stellt somit auf die gemeinsamen Merkmale eines Raumes ab. ‚Bierfranken‘ ist eine Region, die sich über solche Merkmale abgrenzen lässt. Beispielsweise lässt sich der Indikator Brauereidichte (Brauerei-Standorte pro km²) dazu nutzen, um mittels eines Schwellenwertes Bierfranken vom Nicht-Bierfranken abzugrenzen.

Bei vielen ‚klassischen‘ Regionsabgrenzungen fällt es hingegen oft schwer, ein Argument der Homogenität für die jeweils gültige politische Abgrenzung zu finden, selbst die Operationalisierung von Klischees fällt schwer: Im Allgäu mag man über die Dichte von Käsereien und Milchwirtschaft auf den Alpen argumentieren; für die Region Hamburg ließe sich über die Firmen des Sektors maritime Wirtschaft diskutieren, die inzwischen auch in einem Cluster zusammengeschlossen sind. Häufig wird auch die Verbreitung eines Dialektes als Kriterium herangezogen: ein weitgehend homogener Sprachraum bildete dann auch eine Region (z. B. für das Fränkische, das über den nordbayerischen Raum auch nach Thüringen und Baden-Württemberg hineinragt).

1.2.2Funktionale Abgrenzung

Das Funktionalprinzip argumentiert nicht mit Ähnlichkeit, sondern mit Verflechtungen, also anhand von miteinander verbundenen Elementen. Abb. 2 zeigt den wohl wichtigsten Indikator für diese Form der Regionalisierung, die Pendlerbereiche. Diese Art der Abgrenzung ist für die praktische Raumbeobachtung – in Form von Arbeitsmarktregionen – von großer Bedeutung. Die Verfügbarkeit von amtlichen Daten zu Wohn- und Arbeitsort für die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist in Deutschland durch die Arbeitsmarktstatistik erfasst und flächendeckend verfügbar, sodass der Regionalentwicklung hiermit ein wichtiger Indikator zur Verfügung steht. Ebenso relevant wären beispielsweise wirtschaftsräumliche Verflechtungen, also insbesondere Handelsbeziehung entlang von Wertschöpfungsketten (z. B. im Automotive-Bereich), aber solche Daten müssen eigens erhoben werden und werden von statistischen Ämtern jedenfalls nicht kleinräumig erfasst.

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Abb. 2 Pendlereinzugsgebiete in Deutschland (verändert nach BBSR 2012: 79)

Die Karte zeigt, dass viele Abgrenzungen der Pendlerregionen nicht identisch sind mit administrativen Abgrenzungen wie z. B. Landkreisen oder gar Bundesländern. Es wird zugleich deutlich, dass Pendlerverflechtungen vor allem für städtische und metropolitane Raumabgrenzungen geeignete Argumente darstellen. Ländliche Räume stellen in dieser Perspektive primär Wohnräume von (potenziellen) Arbeitskräften der Metropolen dar, sie erscheinen hier gewissermaßen als ‚Ergänzungsräume‘. Um ländliche Räume voneinander abzugrenzen, müssen zumindest auch andere Kriterien herangezogen werden (so lassen sich mit diesem Indikator für das Allgäu kaum geeignete Argumente der Regionalisierung finden).

1.2.3Administrative Einteilung

Alle modernen Staaten sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nach einer territorialen Logik mehrere Ebenen des politisch-administrativen Handelns etabliert haben. Zwischen den Staaten unterscheiden sich diese Systeme erheblich, gerade auch im Hinblick auf das Konzept der Region: Während die deutschen Bundesländer aus europäischer Perspektive politisch sehr starke Regionen darstellen (d. h. sie verfügen politisch und administrativ über starke Kompetenzen, z. B. in den Bereichen Bildung und Raumordnung), haben die französischen Régions eine im Verhältnis recht schwache Position; und in Kleinstaaten wie Luxemburg gibt es keine vergleichbare Politikebene.

Die angesprochenen Beispielregionen Hamburg und Allgäu lassen sich administrativ unterschiedlich fassen: Die Region Hamburg kann als Stadtstaat (also wie ein Bundesland) verstanden werden oder auch als Metropolregion, die darüber hinaus etliche Landkreise und kreisfreie Städte des Umlands in anderen Bundesländern (z. B. Schleswig-Holstein) umfasst. Das Allgäu ist nur indirekt als Region institutionalisiert. Man kann es verstehen als die drei Landkreise Unter-, Ober- und Ostallgäu, zu denen dann auch die drei kreisfreien Städte Memmingen, Kempten und Kaufbeuren dazuzuzählen sind. Eher technische räumliche Umgriffe wie die Planungsregion Allgäu ergänzen diese Sichtweise.

In der statistischen Betrachtung von Regionen besteht ein enger Zusammenhang zu administrativen Grenzen. Seit den 1980er-Jahren hat das Amt für Statistik der Europäischen Union (Eurostat) eine Systematik entwickelt, die eine vergleichbare Betrachtung von Raumeinheiten unter den EU-Ländern ermöglichen soll (EUR-Lex 2014; Destatis 2015). Der Begriff der NUTS-Klassifikation leitet sich von der französischen Bezeichnung ab: Nomenclature des Unités territoriales statistiques (Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik).

Für Deutschland gilt die folgende Einteilung:

Die Zuordnung einer Region zu einer NUTS-Ebene erfolgt dabei auf Basis der Einwohnerzahlen und orientiert sich eng an der Verwaltungsgliederung der Staaten. NUTS-3-Regionen haben in der Regel zwischen 150 000 und 800 000 Einwohner. Auf der NUTS-2-Ebene variiert die Einwohnerzahl der Regionen zwischen 800 000 und 3 000 000 und NUTS-1-Regionen haben meist zwischen drei und sieben Mio. Einwohner. Ein Blick auf die europäische Karte zeigt, dass es nicht ganz einfach ist, eine wirkliche Vergleichbarkeit herzustellen (Abb. 3). Die politischen Traditionen in den Mitgliedsstaaten, aber auch die Bevölkerungsdichte ist in Europa sehr unterschiedlich, sodass auch die Systematik immer einen gewissen Kompromiss bedeutet: zwei Regionen derselben NUTS-Ebene mit einer vergleichbaren Einwohnerzahl können sich dadurch in der Fläche durchaus beträchtlich unterscheiden (vgl. bspw. die deutschen und die schwedischen NUTS-2-Regionen, Abb. 4).

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Abb. 3 Die NUTS-Systematik im Mehr-Ebenen-System

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Abb. 4 NUTS-2-Regionen in Europa

Die NUTS-Systematik setzt sich auch auf kleinräumigerer, kommunaler Ebene fort (Helmcke 2008). Die territoriale Einheit wird hier jedoch als Local Administrative Unit (LAU) bezeichnet. LAU 1 umfasst demnach Gemeindeverbände, also Verwaltungsgemeinschaften (Bayern), Samtgemeinden (Niedersachsen), Verbandsgemeinden (Rheinland-Pfalz) usw. Einzelgemeinden werden schließlich der LAU-2-Ebene zugeordnet. Nicht für alle Staaten ist die LAU-1-Ebene definiert, da es mitunter keinen administrativen Zusammenschluss von Gemeinden gibt (z. B. Italien, Niederlande). Ferner weisen nicht alle Staaten das gleiche Maß einer hierarchischer Gliederung auf: so sind Zypern oder Luxemburg jeweils sowohl NUTS-0-, -1-, -2- und -3-Region.

Statistische Raumeinheiten erscheinen auf den ersten Blick als ein technisches Hilfsmittel – in der Praxis sind sie aber hoch politisch. Zwei Beispiele verdeutlichen dies.

Für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist es Voraussetzung, eine NUTS-Systematik zu etablieren. Gerade für die osteuropäischen Transformationsstaaten (also Staaten, die einen Wechsel des vormals sozialistischen Politik- und Gesellschaftssystems vollzogen haben, z. B. Polen, Ungarn, Litauen) ist dies nicht ganz trivial: In sozialistischen Zeiten, zum Teil auch schon davor, hat zumeist ein recht zentralistisches Denken geherrscht, wonach nun die Regionalisierung ein wirkliches Umdenken erfordert. Die Einführung von subnationalen Einheiten geht dabei häufig mit der Etablierung von neuen politischen Ebenen einher, die aber nur schwer mit Leben zu füllen sind. Dieser Prozess der ‚Regionalisierung‘ wird vor allem dadurch befördert, dass die Vergabe europäischer Mittel die Etablierung einer regionalen Ebene voraussetzt (für das Beispiel Rumänien s. Benedek & Jordan 2007).

In Deutschland hingegen ist das föderale Denken in Bundesländern und auch der Bezug zu Regierungsbezirken recht etabliert. Allerdings ist anzumerken, dass die Ebene der Regierungsbezirke (NUTS 2) in einigen Ländern – beispielsweise in Rheinland-Pfalz oder Sachsen – politisch im Prinzip aufgelöst wurde, obwohl die statistische Einheit bestehen bleibt. In anderen Bundesländern haben Regierungsbezirke nie bestanden (z. B. Thüringen). Insbesondere in den neuen Bundesländern war die Abgrenzung von NUTS-Regionen auch für die Frage der Förderfähigkeit durch EU-Programme wichtig: Je nach Abgrenzung werden Schwellen der Förderfähigkeit über- oder unterschritten (s. Kap. 3.1).

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Abb. 5 Vergleichbarkeit von NUTS-Regionen: BIP pro Kopf auf NUTS-0- und NUTS-2-Ebene im Jahr 2011 (eigene Darstellung; Daten: Eurostat 2015a)

Die NUTS-Klassifizierung ist zweifellos ein wichtiges Instrument, um die Entwicklung von Regionen zu vergleichen – ganz trivial ist das im Detail aus verschiedenen Gründen allerdings nicht. Das Beispiel Luxemburg verdeutlicht dies recht plastisch (s. Abb. 5): Bei einem europaweiten Vergleich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit pro Kopf steht Luxemburg auf der Ebene NUTS 0 mit Abstand auf Platz 1 (ausführlich zum Indikator BIP s. Kap. 3.2) – kein anderer Staat ist pro Einwohner so wirtschaftsstark. Im Vergleich mit anderen NUTS-2-Regionen hingegen steht Luxemburg nur noch auf Platz 2 hinter Inner London, und der Abstand zu den nachfolgenden Platzierungen ist deutlich geringer ausgeprägt. Dieses – auf den ersten Blick überraschende – Bild erklärt sich dadurch, dass im Falle des Kleinstaates Luxemburgs NUTS 0 und NUTS 2 identisch sind.

1.2.4Diskursive Regionalisierung

Schließlich ist es offensichtlich, dass Regionsbezüge sich nicht zwingend aus wirtschaftlichen, landschaftlichen, kulturellen o. a. Argumenten ergeben. Vielmehr werden diese Argumente in politischen und gesellschaftlichen Debatten verhandelt, und dies häufig konflikthaft – und einige setzen sich eher durch als andere. In der wissenschaftlichen Debatte vertritt daher der Konstruktivismus die Ansicht, dass jedwede Regionsabgrenzung gesellschaftlich und diskursiv entstanden sei, mithin jede Region also in diesem Sinne konstruiert sei (Werlen 2007, s. u.). Das trifft dann auch auf administrative Regionen zu, die letztlich von durch die Bevölkerung legitimierten Politikern festgelegt und mitunter verändert wurden. Auch die Abgrenzung mittels funktionaler Indikatoren, wie oben geschildert, ist aus dieser Perspektive als (Re-)Konstruktion anzusehen – in dem Fall durch die jeweiligen Institutionen, Wissenschaftler, Planer usw.

Allerdings ist auch aus Sicht der angewandten Regionalentwicklung der Gedanke, dass Regionen positioniert und vermarktet werden, nichts Ungewöhnliches. Im Tourismus und im Standortmarketing geht es explizit darum, gute Label zu finden, diese bekannt zu machen und bestimmten Assoziationen zu verbinden (Steinecke 2013).

Das Beispiel Rothenburg illustriert, dass inhaltliche Verständnisse von Regionen konkurrieren können und ausgehandelt werden. In der Praxis ebenfalls umstritten und eng damit verbunden sind die räumlichen Zuschnitte. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte Makroregion Alpen, die seit 2013 etabliert wird. Diese Makroregion ist zugleich ein Beispiel dafür, dass Regionen nicht immer der inneren räumlichen Gliederung von Nationalstaaten dienen, sondern auch staatenübergreifend und großräumiger angelegt sein können. Im politischen Prozess stehen sich insbesondere die Alpenkonvention und die EUSALP (EU Strategy for the Alpine Region) gegenüber, wie die Makroregion abgekürzt wird.

Beispiel: Rothenburg ob der Tauber und die Metropolregion Nürnberg

Ein instruktives Beispiel findet sich in einer politischen Auseinandersetzung in Rothenburg ob der Tauber, wo über die Vereinbarkeit von regionalem Zugehörigkeitsdiskurs gestritten wurde:

„Bereits zum zweiten Mal hat am 26. Mai der Rothenburger Stadtrat über das Schicksal der beiden Hinweisschilder auf die Europäische Metropolregion Nürnberg (EMN) an den touristischen Tafeln an der Bundesautobahn A7 bei Rothenburg entscheiden müssen. Am 27. Januar 2011 wurde im Rat mit 14 zu 10 Stimmen entschieden, die bereits angebrachten Schilder wieder abmontieren zu lassen. Anlass war ein Antrag der SPD-Stadtratsfraktion, die die touristische ‚Marke‘ Rothenburg durch die Zusatzschilder verwässert sieht.

Aufgrund der heftigen Reaktionen aus Wirtschaft und Medien – aber auch aus der Bevölkerung – stellten Edith Hümmer und Dieter Seiferlein von den Bündnisgrünen, sowie die CSU-Fraktion den Antrag, das Thema im Rat nochmals zu behandeln und den Beschluss vom 27. Januar zumindest so lange auszusetzen, bis die touristischen Hinweistafeln überarbeitet worden sind. Durch die ohnehin angedachte Neugestaltung dieser Tafeln, könnten die unmittelbar darunter angebrachten Metropolregion-Schilder etwas in den Hintergrund treten und sich das Problem so entschärfen lassen. […]

Auch der Vorsitzende des IHK-Gremiums Rothenburg ob der Tauber, Gerhard Walther, hatte sich nach der Ratsentscheidung vom Januar in einem Schreiben mit einem Plädoyer für den Verbleib der Schilder an die Stadt gewandt. Darin heißt es, dass es nicht sinnvoll sei, sich ausschließlich als Tourismusregion zu profilieren. Es sei vielmehr notwendig, auch die Attraktivität und die Bekanntheit des Wirtschaftsstandortes zu stärken. Dies werde durch das Bekenntnis zur Metropolregion erreicht.“ (Rothenburg.info/blog. 2011)

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Abb. 6 Hinweisschilder an der A7 bei Rothenburg ob der Tauber (Foto: Rothenburg.Info Blog)

In jüngerer Zeit wird diskutiert, dass gerade den nicht oder nur schwach institutionalisierten Regionen eine zunehmende Bedeutung in der räumlichen Entwicklung zukommt. Bei großflächigen Planungsvorhaben, bei Metropolregionen oder bei europäischen Raumzuschnitten wird Politik häufig nicht exakt auf die Territorien der Gebietskörperschaften bezogen. Vielmehr werden ungefähre Abgrenzungen, grenzüberschreitende Perimeter und im zeitlichen Verlauf veränderbare Schwerpunkte zugrunde gelegt. Allerdings können sich solche ‚soft spaces‘ durchaus auch verfestigen und zu neuen Regionen verstetigen – die Debatte um Metropolregionen als Planungsraum zeigt dies (Allmendinger et al. 2014, 2015).

Beispiel: Alpenkonvention und Makroregion Alpen (EUSALP)

Die Alpenkonvention wurde als völkerrechtlicher Rahmenvertrag 1991 unterzeichnet und wurde in den darauffolgenden Jahren durch sog. Protokolle und Deklarationen der Mitgliedsstaaten konkretisiert. Der Schutzgedanke – vor allem im Hinblick auf den Naturraum als auch im Hinblick auf typische alpine Wirtschaftsformen – steht hierbei im Vordergrund. Abb. 7 zeigt, dass der Geltungsbereich der Alpenkonvention sich nicht auf das Territorium der Unterzeichner-Staaten erstreckt, sondern dass in den meisten Fällen nur Teilbereiche erfasst sind – hier ist also der sogenannte Vertragsraum (Anwendungsbereich der Konvention) deutlich kleiner als der Mandatsraum (Territorium der Unterzeichner). Die Abgrenzung erfolgte in den betroffenen Ländern technisch gesehen auf unterschiedliche Weise, aber zumindest implizit liegt hier das Homogenitätsprinzip zugrunde: Zum Anwendungsbereich der Alpenkonvention gehören die Gebiete, die durch alpines Relief (und meist auch einen ländlichen Charakter) gekennzeichnet sind.

Die EUSALP hingegen argumentiert inhaltlich und geographisch breiter: Inhaltlich gesehen ist der Schutzgedanke zumindest weniger deutlich, stattdessen geht es um Handlungsfelder wie Innovationsförderung und Wirtschaftswachstum, um Verkehrssysteme, auch um Naturschutz und Kulturpflege und einiges mehr. Und vor allem räumlich ist der Fokus breiter, indem nun eine ganze Reihe großer Metropolen einbezogen werden, wie z. B. München, Mailand oder Lyon. Dies hat zur Befürchtung geführt, dass der weitere räumliche Umgriff zu einer Aufweichung von Schutzfunktionen führen könne (so Bätzing 2012). Letztlich ist der politischen Diskussion um die EUSALP aber vor allem ein Regionalverständnis im Sinne des Funktionalprinzips zu entnehmen. Indem die Wasserversorgung, die Erholungsfunktion und die verkehrliche Einbindung der Metropolen der Alpen häufig in Bezug genommen werden, wird auf die Verflechtung der inneralpinen Raumfunktionen mit den umliegenden Metropolen betont. Dieses Beispiel illustriert, dass die Differenzierung von Kriterien der Regionalisierung weit mehr als eine akademische Übung ist, sondern immer hochgradig politisch.

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Abb. 7 Räumlicher Umgriff von Alpenkonvention und Makroregion Alpen – Konkurrenz oder Ergänzung ?

1.3Region – konzeptionelle Zugänge

Halten wir zunächst fest: Eine Region kann auf sehr unterschiedliche Weise erfasst und definiert werden – üblicherweise bezeichnet die Region jedenfalls einen Raumausschnitt, der überörtlich (überlokal), aber in der Regel subnational gefasst wird. Diese Art der Uneindeutigkeit besteht nicht nur im Hinblick auf Abgrenzungsfragen: Wie eine Region entsteht, was sie ausmacht und aus welcher Perspektive sie am besten zu analysieren ist, kann kaum allgemeingültig festgelegt werden. Vielmehr hängt die Antwort von analytischer Fragestellung oder auch politischer Zielsetzung, vom Weltbild und vom Wissenschaftsverständnis ab.

Eine wesentliche Unterscheidung besteht im Hinblick auf die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Grundperspektiven, die auf bestimmten Vorannahmen gründen. Im Wesentlichen lassen sich drei Ansätze in den Raumwissenschaften ausmachen: essentialistische, positivistische und konstruktivistische Argumentationen. Diese drei Ansätze werden im Folgenden kurz charakterisiert (s. a. Chilla et al. 2015).

1.3.1Essentialistische Ansätze

Der Essentialismus (vom Lateinischen essentia, Wesen) geht von der Grundannahme aus, Dinge verfügten über notwendige Eigenschaften, die ihr ‚Wesen‘ ausmachten. Eine Region wird im Sinne eines essentialistischen Verständnisses als eine beobachterunabhängige ‚Ganzheit‘ verstanden. Diese Ganzheit ist geprägt von einem ‚selbstständigen Eigenwesen‘, sie wird im Sinne eines ‚Superorganismus‘ gesehen. Die Herausforderung der Wissenschaft besteht demnach darin, dass diese Ganzheit „im Objekt selbst gesucht und begründet werden“ muss (Lautensach 1973 [1938]: 24). Sie muss hinter den unterschiedlichen Erscheinungsformen das ‚Wesen‘ des untersuchten Gegenstandes ausmachen. So gehen Essentialisten davon aus, jede Region habe einen Wesenskern, der sich in bestimmten wahrnehmbaren Phänomenen äußere, wie etwa Bauernhausformen, Flurformen oder Dialekten, die in der jeweiligen Region quasinatürlich prägend sind. Das eigenständige Wesen einer Region entsteht – gemäß essentialistischer Vorstellungen – durch eine spezifische wechselseitige Prägung von Kultur und Natur. Das heißt, infolge einer viele Jahrhunderte dauernden Besiedlung prägt die Natur der regionalen Kultur bestimmte Mechanismen des Umgangs mit ihr auf, wie auch diese Kultur die regionale Natur durch eine spezifische, an die Bedingungen der Natur angepasste Nutzung prägt (vgl. Knotter 2008, Kühne 2013; ausf. s. Kap. 3.3).

Das Allgäu ist als Region häufig in diesem Sinne abgegrenzt worden: Die Gründlandwirtschaft mit den charakteristischen Alpen und Käsereien, die Einöd-Höfe, aber auch die naturräumliche Prägung durch das Würmglazial sind hierfür herangezogene Kriterien, die letztlich das Typische einer Region ausmachen. Eine beispielhafte, typische Darstellung des Mainfränkischen zeigt Abb. 8.

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Abb. 8 Abbildung aus dem Franken-Porträt von Conrad Scherzer (1959: 209) – dort mit der Bildunterschrift „ungestörte[s] Siedlungsbild […]Frickenhausen, mainfränkische (Steildachformen)“ (© Strähle Luftbild)

Ein essentialistisches Verständnis lässt sich anhand von „Was ist … ?“-Fragen in der Forschung erkennen: Was ist Landschaft ? Was ist Region ? Was ist ein Deutscher ? Da es gemäß der Vorstellung des Essentialismus die „Annahme der Existenz wesentlicher, also essentieller, und zufälliger, akzidenteller Eigenschaften von Dingen“ (Albert 2005: 44) gibt, besteht für die Forschung die Aufgabe, die essentiellen Eigenschaften von den zufälligen zu unterscheiden. Schließlich geht es darum herauszufinden, was ein Ding „zu dem [macht], was es ist, während die akzidentellen Eigenschaften für die Existenz des Dinges keine solche Bedeutung haben“ (Albert 2005: 44). Entsprechend dieser Logik wird den essentiellen Dingen ein hoher und den akzidentellen ein geringer Wert zugewiesen, da Letztere nicht das Wesen des Objektes bestimmen. Für eine Region essentiell werden dabei zumeist Dinge verstanden, die als Ausdruck der wechselseitigen Bedingtheit von Kultur und Natur zum Ausdruck gesehen werden: Gehöftformen, Flurformen, Streuobstwiesen. Als akzidentelle Eigenschaften einer Region hingegen werden die Ergebnisse von überregionalen – heute insbesondere globalen – Prozessen angesehen, wie Einfamilienbungalows, Gewerbegebäude mit funktionalistischer Architektur, Flughäfen, Autobahnen, gegenwärtig insbesondere Windkraftanlagen. Infolge ihrer ‚Wesenhaftigkeit‘ lässt sich – gemäß der essentialistischen Sichtweise – eine Region klar von einer anderen abgrenzen: Diese andere Region habe ihr eigenes Eigenwesen, das sie wiederum zu einem ‚Individuum‘ mache.

Essentialistische Ansätze der Regionalforschung neigen stark zu normativen und moralischen Aussagen. Eine ‚gute‘ Entwicklung ist eine Entwicklung, die das ‚Wesen‘ der Region ausmacht und berücksichtigt, ‚schlecht und zu unterlassen‘ ist jenes, was dem ‚Wesen‘ widerspricht. In der Regionalforschung wird aus essentialistischer Perspektive häufig ein Bezug auf die ‚Landschaft‘ genommen, der als ‚historisch gewachsene Kulturlandschaft‘ ein Eigenwesen zugeschrieben wird, das durch Modernisierung und Internationalisierung bedroht werde. Deren bauliche Konsequenzen ‚verschandeln‘ die ‚historisch gewachsene Kulturlandschaft‘ und ihre Errichtung muss möglichst verhindert werden (z. B. bei Quasten 1997, Wöbse 1999, Nohl 2015). Das Verhältnis der Regionalwissenschaft zu den Bewohnern einer Region ist tendenziell hierarchisch geprägt: Aufgrund der langjährigen Auseinandersetzung mit der Region hat wissenschaftliche Reflexion das ‚Wesen‘ ergründet, während die Bewohner eher als Medien einer dem ‚Wesen‘ der Region entsprechenden Entwicklung gesehen werden, sofern sie insbesondere autochthonen Ursprungs (also aus der Region stammend) sind und keine alternativen funktionalen bzw. ästhetischen Ansprüche an die Region entwickeln (z. B. den Wunsch an das Autobahnnetz angebunden zu sein). Solche Wünsche werden gelegentlich als Ignoranz oder Fehlgeleitetheit durch den globalen Kapitalismus verurteilt (siehe dazu Kühne 2008).

Im aktuellen Diskurs der Energiewende werden die ‚Vermaisung‘ und die ‚Verspargelung‘ kritisch diskutiert. Die Vermaisung bezeichnet die Veränderung einer historisch gewachsenen Kulturlandschaft – wie eben des Dauergrünlandes im Allgäu – durch den vermehrten Anbau von Mais für die Energiegewinnung in Biogasanlagen. Die Sorge um die Vermaisung ist dabei nicht (nur) auf ein besonders traditionsbewusstes Regionsbild Einzelner zurückzuführen, sondern hat mit recht handfesten Bedenken der Tourismusbranche zu tun: Die hohen Pflanzen im Sommer verstellen die Aussicht, und die umgepflügten, dunklen Felder außerhalb der Vegetationsperiode enttäuschen die Hoffnungen auf eine lieblich-grüne Hügellandschaft. Auch aus ökologischer Sicht gibt es Bedenken: der Abstand der Maispflanzen wird als zu groß angesehen. Bei Starkregenereignissen kann es dann passieren, dass wertvoller Boden weggespült wird.

Die ‚Verspargelung‘ meint die zunehmende Zahl an Windkraftanlagen in der Landschaft. Ihre Türme erinnern aufgrund ihrer Form und Farbe vor allem die politischen Gegner an Spargelstangen. Die Akzeptanz von Windkraftanlagen hängt stark davon ab, inwiefern das Landschaftsbild gestört wird. Auch darauf werden wir später ausführlich zu sprechen kommen (s. Kap. 3.3).

1.3.2Positivistische Ansätze

Basieren essentialistische Ansätze letztlich auf einem vormodernen Wissenschaftsverständnis, lassen sich positivistische Ansätze als ein modernes Wissenschaftsverständnis verstehen: „Die moderne Wissenschaft versucht nicht mehr, einen allem seinen Wert verleihenden Sinn hinter oder über den Dingen zu finden, wie sie das vorher tat“ (Trepl 2012: 56). Eine Region ist entsprechend eines positivistischen Verständnisses ein Raum, der sich aufgrund von mess- und sichtbaren Verteilungen von Objekten von anderen Regionen unterscheidet. Diese Verteilungen werden als gegeben verstanden, unabhängig vom jeweiligen Beobachter. Dadurch können sie durch empirische Methoden weitgehend objektiv erfasst werden. Das wesentliche Ziel einer positivistischen Regionalwissenschaft besteht darin, zu einem möglichst genauen Abbild der zu untersuchenden ‚Realität Region‘ zu gelangen. Die positivistische Forschung beobachtet also Einzelphänomene und gliedert sie häufig in Ebenen (gegenwärtig häufig Layer genannt), die dann einer kartographischen Visualisierung unterzogen werden können: Die oben angeführten Pendlerverflechtungen und wirtschaftsräumlichen Konzentrationen sind typische Indikatoren für die positivistische Sicht, mit ihrem Fokus auf das Funktionieren von Raumeinheiten. Die gesammelten, kategorisierten und kartographisch dargestellten Informationen werden abstrahiert, d. h. sie werden „durch den Verstand induktiv generalisiert“ (Eisel 2009: 18). So wird aus der Zusammenschau der räumlichen Verteilung von Geologie, Geomorphologie, Böden und Vegetation z. B. die Abstraktion ‚Schichtstufenlandschaft Süddeutschlands‘. Aus der Synopse von Beschäftigtenanteilen nach Branchen, Wertschöpfungsanteilen und Patentanmeldungen wird beispielsweise die ‚Automobilregion Stuttgart‘.

Die positivistisch orientierte Forschung ist sich durchaus bewusst, dass die Forschungsergebnisse als Abstraktionen bestimmten Setzungen folgen, insbesondere den Entscheidungen darüber, was als relevant für die ‚Region‘ gilt und was nicht. Gemäß dieser Vorstellung ist Raum „eine Art Behältnis, in das man etwas hinein tun kann und [das] mit Objekten ausgestattet (möbliert) ist“ (Egner 2010: 98). In dieses Behältnis des ‚bewusstseinsunabhängigen Raumes‘ wird das, was als Region verstanden wird, ‚eingehängt‘. Die Abgrenzung dieser Region basiert – wie beschrieben – auf der Auswertung beobachteter Phänomene. Die Ergebnisse positivistischer Regionalforschung sind in der Regel stärker analytisch als normativ. Normative Aussagen werden in der Regel nicht auf die ‚Totalität‘ der Region bezogen, wie dies bei einem essentialistischen Verständnis für die normative Erhaltung ‚der historisch gewachsenen Kulturlandschaft‘ der Fall ist. Allerdings können Erkenntnisse auf der einen Ebene Aussagen für andere Ebenen nach sich ziehen. So kann die Feststellung, eine bestimmte geschützte Tier- oder Pflanzenart nehme in ihrem Bestand rapide ab, normative Aussagen in Bezug auf die Bewirtschaftung von Flächen nach sich ziehen. Konflikte zwischen Alternativen, z. B. dem Bau einer Autobahn gegen die Ansprüche des Artenschutzes, lassen sich durch die Betrachtung und Bewertung der einzelnen Ebenen im Kontext anderer Ebenen abwägen (z. B. Schmale 1994). Ein solches Abwägen ist dem Essentialismus fremd, da jeder Eingriff, der das Nicht-Autochthone repräsentiert, als Bedrohung des Wesens der historisch gewachsenen Kulturlandschaft verstanden wird.

BurckhardtKühne