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Inhalt

Versiebt

Eine Notlüge

Gewitter und Sturm

Bernhard kommt in Fahrt

Bibi wünscht sich weit, weit fort …

Dieses Haus muss weg!

Ein Lichtstreif am Horizont

¡Mi casa – tu casa!

Hexerei mit Haken

Bibi fasst sich ein Herz

¡Olé!

Vergnügt und sorgenfrei

Für immer

Ein verhängnisvoller Fehler

Hilfe!

Zwei Hexen aus zwei Generationen

Ein letzter Wunsch

Destrucción

¡Fiesta!

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Versiebt

Bibis Hände waren eiskalt. Ihre Finger, die krampfhaft den Füller festhielten, zitterten. Seit Minuten verharrte die Feder über derselben Stelle in ihrem Matheheft.

Minuten?, dachte Bibi. Waren es nicht eher Stunden? Tage? Jahre? Sie hatte das Gefühl, schon eine Ewigkeit regungslos dazusitzen und auf ihr Heft zu starren, auf diese unbarmherzigen kleinen Karos, die sie mit Zahlen füllen sollte. Doch in ihrem Kopf war nur eine schwarze Leere. Abwechselnd liefen ihr heiße und kalte Schauer über den Rücken. Auf nichts konnte sie sich konzentrieren – am allerwenigsten auf Zahlen.

„Ihr habt noch zehn Minuten!“, verkündete Frau Müller-Riebensehl vorne am Lehrerpult.

Bibi schreckte zusammen. Zehn Minuten? Dann saß sie schon über eine halbe Stunde an dieser Mathearbeit! Und was hatte sie bisher geschafft? So gut wie nichts! Sie hatte die erste Aufgabe in ihr Heft übertragen. Doch kaum war die erste Zeile gerechnet, blieb sie auf einmal stecken. Nichts war mehr gegangen. Dabei wusste sie zuerst genau, wie sie die Aufgabe lösen musste, doch plötzlich war alles wie weggeblasen. Schließlich hatte Bibi die zweite Aufgabe ins Heft übertragen, doch auch da war sie nicht weitergekommen. Dann hatte sie die dritte abgeschrieben und die vierte – und jedes Mal war es dasselbe gewesen.

Komm schon, Bibi, reiß dich zusammen!, dachte sie. Wenn sie wenigstens eine Aufgabe lösen würde! Dann könnte es noch für eine Vier reichen. Eine Vier für diese Arbeit hieß eine Vier in Mathe im Zeugnis, und damit wäre ihre Versetzung nicht mehr gefährdet. Bibis Mutter Barbara würde zwar vor Freude keine Luftsprünge machen, aber immerhin würde Bibi nicht sitzen bleiben. Doch wenn sie mit einer Fünf nach Hause kam … Und ausgerechnet jetzt, wo Barbara ohnehin schon völlig gestresst war wegen der Vorbereitung für einen internationalen Hexenkongress auf dem Blocksberg.

Bibi hörte schon, was ihre Mutter zu dieser Katastrophe sagen würde: „Das hast du dir alles selbst zuzuschreiben! Immer hast du andere Sachen im Kopf!“

Dabei stimmte das gar nicht! Diesmal jedenfalls nicht. Ja, zugegeben, dachte Bibi, für die anderen Mathearbeiten habe ich vielleicht nicht ganz so viel gelernt …

Aber diesmal hatte sie sich schon zwei Wochen vorher fast jeden Nachmittag mit Florian zusammengesetzt und geübt. Gestern noch konnte sie alle Aufgaben auf dem Übungsbogen. Warum ging das denn heute nicht? Das war so verflixt ungerecht!

Zu allem Überfluss schien niemand sonst in der Klasse Probleme mit der Arbeit zu haben. Alle schrieben sie und schrieben. Selbst Marita, die neben Bibi saß und nun wirklich kein As in Mathe war, schien mit dem Rechnen gut voranzukommen. Gerade nahm sie ihr Lineal und unterstrich zweimal das Ergebnis einer Aufgabe.

„So, noch eine, dann bin ich fertig“, hörte Bibi ihre Freundin murmeln.

Und wenn sie ganz vorsichtig einen Blick auf Maritas Heft warf? Einmal hatte sie es schon versucht und war prompt von Frau Müller-Riebensehl erwischt worden. Ihre Klassenlehrerin war heute besonders wachsam. Vor allem hatte sie Bibi von Anfang an nicht aus den Augen gelassen.

Vielleicht sollte sie lieber hexen? In ihrer Verzweiflung hatte Bibi schon ein paar Mal daran gedacht. Doch eine solche Hexerei würde bestimmt auffliegen – nicht zuletzt, weil ihr mit dieser gähnenden Leere im Kopf ganz sicher nicht der richtige Hexspruch einfallen würde.

Nein, dann wollte sie lieber noch einmal versuchen, von Marita abzuschreiben. Diesmal würde Frau Müller-Riebensehl sie nicht erwischen! Sie musste sich nur ein bisschen geschickter anstellen. – Wenn ich den Kopf nicht herumdrehe, kriegt die Riebensehl das bestimmt nicht mit, dachte Bibi.

Sie zupfte sich ein paar Ponyfransen tief in ihre Stirn und schielte zu Marita hinüber. Doch sie sah nur Maritas Federtasche und den Aufgabenbogen neben ihrem Heft. Noch ein kleines Stück …, dachte Bibi. Sie schielte schon so heftig, dass ihr die Augen tränten, konnte von Maritas Heft aber immer noch nichts sehen. Es half nichts – sie musste vorsichtig den Kopf herumdrehen.

Ganz langsam, dachte Bibi. Ganz, ganz langsam und unauffällig.

„Bibi Blocksberg!“, donnerte es plötzlich vom Lehrerpult.

Bibi zuckte zusammen. „Was denn?“, fragte sie und versuchte vergeblich, eine unschuldige Miene aufzusetzen.

„Du weißt genau, was ich meine!“, fuhr Frau Müller-Riebensehl sie an. „Noch so ein grober Täuschungsversuch, und du bekommst eine Sechs!“

„Mensch, Bibi, pass bloß auf!“, flüsterte Marita ihr zu.

In ihrer Verzweiflung hörte Bibi ihre Freundin kaum. Eine Sechs, dachte sie. Die kriege ich jetzt ja sowieso … Aber das durfte nicht passieren! Es durfte einfach nicht! Irgendwie musste sie das Schlimmste verhindern!

Noch einmal raffte sie sich auf und beugte sich über ihr Heft. Die Zahlen tanzten ihr vor den Augen und ihr war übel. Es fühlte sich an, als hätte sie eine schwere bleierne Kugel in ihrem Magen.

Da ertönte schon wieder Frau Müller-Riebensehls Stimme: „So, Kinder, die Zeit ist vorbei! Schlagt bitte eure Hefte zu. Ich gehe herum und sammle sie ein.“

Die übliche Hektik breitete sich im Klassenzimmer aus. Manche Schüler versuchten, in aller Eile noch ein paar Zahlen hinzukritzeln, bevor sie die Arbeit abgeben mussten.

Bibi starrte wie gelähmt auf ihr Heft. Nicht eine einzige weitere Zahl hatte sie mehr geschrieben. Dort, wo die Spitze ihres Füllers das Papier berührte, hatte sich ein großer blauer Fleck breitgemacht.

Sie hörte, wie Frau Müller-Riebensehl mit festen Schritten auf ihren Tisch zukam. Marita hatte noch die letzte Aufgabe lösen können. Mit einem Seufzer der Erleichterung unterstrich sie das Ergebnis und gab dann ihr Heft ab. Schon tauchte das rüschenbesetzte altrosa Kleid ihrer Lehrerin vor Bibi auf. Frau Müller-Riebensehl pochte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte.

„Heft zu, Bibi Blocksberg!“, mahnte sie.

„Nein, bitte“, bettelte Bibi. „Noch eine Minute!“

„Gleiches Recht für alle!“, sagte die Lehrerin und zog Bibi die Arbeit unter der Nase weg.

Bevor Frau Müller-Riebensehl das Heft zuschlug, fiel Bibis Blick ein letztes Mal auf die erschreckend leere Seite. Höchstens zu zwei Dritteln hatte sie sie vollgeschrieben, und davon waren ein großer Teil die übertragenen Aufgaben vom Arbeitsbogen.

Das war’s, dachte Bibi. Es gab keinen Zweifel: Sie hatte die Mathearbeit völlig versiebt.

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