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Über das Buch

Vor mehr als dreitausend Jahren verdammte der sterbende Pharao Echnaton seinen Mörder zu ewigem Leben. Dieses düstere Vermächtnis zieht seinen magischen Bogen bis in die heutige Zeit. Der junge Aton ist ausersehen, Echnatons Fluch aufzuheben und gegen jene dunklen Mächte zu kämpfen, die das verhindern wollen. Und so steht er in der entscheidenden Nacht im Land der Pyramiden der ägyptischen Götterwelt gegenüber …

Inhalt

Prolog

3300 Jahre später

Das Museum

Herr Petach

Der Schattenwald

Anubis

Die Katastrophe

Petachs Geschichte (1)

Der Überfall

Sascha

Petachs Geschichte (2)

Die Rolltreppe

Das Ankh

Der Derwisch

Die Gestern-Klinik

Das Wagenrennen

Kriegsrat

Ein Anruf mit Folgen

Das sichere Haus

Böse Mächte

Petachs Geschichte (3)

Willkommen in Kairo

Eine Nacht im Hotel

Yassir

Das Geheimnis der Pyramide

Die Prophezeiung

Der Fluss nach Bubastis

Der Tempel der Katzengöttin

Der lange Traum

Das Tal der Könige

Duell der Götter

Der gebrochene Fluch

Prolog

Fast alle seine Krieger waren tot. Und die wenigen, die noch am Leben waren, würden in wenigen Augenblicken sterben und keine Macht des Himmels konnte sie noch retten. Die Feinde waren zu übermächtig – auf einen seiner Krieger kamen zehn von ihnen, ein Verhältnis, gegen das aller Mut und alle Tapferkeit nichts nutzten. Er wusste es. Hier oben, zwischen den sonnendurchglühten, geborstenen Felsen der Schlucht, in die er sich geflüchtet hatte, war die Luft erfüllt gewesen von Staub, dem scharfen Schweiß von Mensch und Tier, dem Klirren von Waffen und den dumpfen Lauten zusammenprallender Körper, in das sich gellende Schmerz- und Todesschreie mischten.

Aber nun war der Höhepunkt überschritten und aus dem verbissenen Ringen derer, die geschworen hatten, sein Leben mit den ihren zu verteidigen, war längst ein verzweifeltes Rückzugsgefecht geworden; ein Kampf, der keinem anderen Zweck mehr diente als dem, den Feind aufzuhalten, einige wenige Augenblicke mehr Leben für ihn selbst, nach denen ihn nichts anderes erwartete als ein schmachvoller Tod.

Echnaton wusste es. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben als Mensch und Gott, als Herrscher über Ägypten und als Stellvertreter des einen und einzigen Gottes war ihm seine eigene Sterblichkeit wirklich bewusst geworden; nicht die Vorstellung des Todes als abstrakter Begriff, als etwas, was irgendwann und irgendwo einmal geschehen würde, sondern hier und jetzt. Er spürte keine Angst. Vielleicht weil er sofort begriffen hatte, dass es kein Entkommen geben würde, als er das gewaltige Heer sah, das der Verräter aufgeboten hatte, um ihn zu vernichten. Aber er fühlte keine Angst.

Nur Verbitterung und Schmerz.

Und eine tiefe, mit Zorn gemischte Enttäuschung, dass dies nun alles gewesen war, ein grausamer Tod in dieser sonnendurchglühten Wüste.

Er wusste nicht, warum er sterben musste.

Er wusste nicht, wer seine Mörder waren, und vielleicht war das das Schlimmste: sterben zu sollen ohne zu wissen, warum, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. All diese Männer, die den Eid, den sie ihm geschworen hatten, nun auf so grausame Weise einlösten, mussten sterben, ohne dass er einen Grund dafür hätte nennen können, ohne dass er seine Mörder auch nur kannte.

Echnaton schleppte sich weiter durch den schmalen Felsspalt nach oben. Das grelle Sonnenlicht machte ihn fast blind. Jeder Schritt war eine größere Anstrengung als der davor, jeder Atemzug eine Qual, der kleine feurige Schmerzpfeile durch seinen Körper schießen ließ. Er wusste, dass er die Anstrengung nicht mehr lange ertragen würde. Er war kein starker Mann. Anders als die anderen Pharaonen vor ihm war er selten auf die Jagd gegangen und hatte niemals an einem Kriegszug teilgenommen, ja, seinen Palast in Achet-Aton während der letzten fünf Nilschwemmen nicht einmal mehr verlassen. Vielleicht rächte sich dieses Versäumnis jetzt. Hinter ihm lag nichts als die sonnenverbrannte Wüste, aber ein wirklich kräftiger Mann hätte es vielleicht geschafft, sich nach Theben durchzuschlagen, der Hauptstadt des Kelches, die das Ziel seiner Reise gewesen war. Echnaton überlegte, ob sie vielleicht nicht nur das Ziel seiner Reise, sondern auch der Grund für diesen heimtückischen Überfall war. Er hatte mit vielen alten Regeln gebrochen beim Aufbau seines neuen Königreiches, nicht nur die alten Götter, sondern auch ihre Priester erzürnt und er war nicht ganz so einfältig, wie viele glaubten: Natürlich wusste er, dass viele seines Volkes insgeheim noch der alten Religion und dem alten Irrglauben anhingen, und es waren einflussreiche Männer darunter, Priester und Generäle. Aber es gab keinen unter ihnen, denen Echnaton einen Aufstand zutraute oder gar den Mord an einem Pharao! Hätte er noch die Kraft dazu gehabt, dann hätte er vielleicht gelacht, als er begriff, dass er über sich selbst bereits wie über einen Toten dachte. So wurde nur ein Verzerren der Lippen daraus, das eher eine Grimasse der Pein war als ein Lächeln.

Er erreichte das Ende der schmalen, steilen Klamm und blieb einen Moment stehen um zurückzublicken. Über dem Tal hing eine gewaltige Staubwolke, sodass der Großteil des grauenhaften Anblickes verhüllt wurde. Es waren die tapfersten der Tapferen, die dort unten gekämpft hatten, doch selbst die Kräfte eines Löwen mussten erlahmen, wenn er von hundert Schakalen gleichzeitig angegriffen wurde. Bald würden die letzten seiner Männer fallen und dann würden sie kommen und ihn töten. Ein Gefühl tiefer, schmerzlicher Verbitterung machte sich in Echnaton breit. Warum? Was hatte er getan, dass sie die Hand gegen ihn erhoben, gegen den Herrscher des Landes, gegen einen Gott? Und was hatte er getan, dass jener andere, mächtigere Gott, dessen Größe und Lob er sein ganzes Leben und das seines Volkes gewidmet hatte, ihn im Stich ließ?

Zitternd wandte er sich wieder um und hob den Blick zur Sonne, deren Licht grell und schmerzhaft in seine Augen stach. Aton, dachte er, warum hast du mich verlassen? Warum wendest du dich ab von deinem Sohn, dem du doch die Herrschaft über die Menschen in meinem Lande gegeben hast und der deinen Ruhm gemehrt und alle anderen Götter vertrieben hat?

Aber die lodernde Sonnenscheibe am Himmel antwortete nicht. Nur ihr Licht brannte weiter in Echnatons Augen und ihre Hitze sengte auch noch das letzte bisschen Feuchtigkeit aus seinem Körper. Er hatte Durst. Entsetzlichen Durst. Er, der niemals gewusst hatte, was es hieß, zu dursten oder zu hungern, dem zeit seines Lebens jeder Wunsch von den Augen abgelesen worden war und der nicht einmal wusste, was das Wort Entbehrung bedeutete, hätte die letzten Augenblicke, die ihm noch zu leben verblieben, gegen einen Schluck Wasser eingetauscht.

Taumelnd ging er weiter. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu rennen – und er wollte es auch gar nicht. Etwas in ihm hatte längst begriffen, dass es vorbei war. Es gab nichts mehr, wohin er flüchten konnte, und jeder Schritt, den er sich weiter vom Schlachtfeld entfernte, verlängerte seine Qual nur noch.

Trotzdem blieb er nicht stehen, als er zwischen den geborstenen Felsen hindurchtrat und auf die gewaltige, steinerne Ebene hinausblickte. Irgendwo, unendlich weit entfernt, glaubte er die Schatten der Berge zu sehen, aber vielleicht war es auch nur die Schwäche, die dunkle Nebel vor seinen Augen wallen ließ. Mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen, halb tot vor Durst und Erschöpfung. Seine Glieder hingen wie Blei an seinem Körper und die Luft, die er atmete, war wie flüssiges Feuer. Seine Füße waren längst zerschunden und hinterließen blutige Abdrücke auf dem glühenden Stein, über den er wankte, und auf dem Weg nach oben war er ein paar Mal gestürzt und hatte sich die Hände am rauen Stein aufgerissen. Fr wusste nicht mehr, warum er nicht einfach aufgab und darauf wartete, dass sie kamen und ihn töteten. Der Tod erschien ihm wie eine Erlösung. Und doch trieb ihn etwas in ihm dazu, sich weiterzuquälen, immer wieder ein Bein vor das andere zu setzen, ganz egal, welche Pein es bedeutete.

Schließlich verfing sich sein Fuß in einer Felsspalte. Er stolperte, versuchte den Sturz ungeschickt aufzufangen und spürte, wie sein linkes Handgelenk brach, als er zu Boden fiel und es mit dem ganzen Gewicht seines Körpers belastete. Der Schmerz war grauenhaft und trotzdem sonderbar irreal – als wäre es schon gar nicht mehr er selbst, der ihn verspürte, sondern bereits ein anderer, der tote Mann, der er vor Ablauf einer Stunde sein würde, ein toter König, ein toter Gott und doch ebenso tot wie der geringste seiner Untertanen.

Eine Weile blieb er benommen liegen und wartete darauf, dass sich die große Dunkelheit nach ihm ausstreckte, aber seine Zeit war noch nicht gekommen. Ganz im Gegenteil spürte er, wie das Leben noch einmal in seinen geschundenen Körper zurückfloss, und es war ein sehr eigenartiges Gefühl: Er war zu Tode verwundet und er fühlte all die kleinen Verletzungen, aus denen das Blut aus seinem Körper herausfloss, und doch war es plötzlich, als hielte ihn etwas zurück, als strecke eine andere, ungleich mächtigere Kraft als der Tod seine Hand nach ihm aus und stieße ihn zurück in die Welt der Lebenden, weil es für ihn noch nicht an der Zeit war, den dunklen Fluss des Todes zu befahren, weil es da noch etwas gab, was er zu tun hatte.

Hatte sich Gott Aton am Ende doch seines Kindes erinnert? Echnaton stöhnte vor Schmerz, als er die Lider hob und ihm sein eigenes Blut, vermischt mit salzigen Tränen, in die Augen floss. Mit dem letzten bisschen Kraft, das er in seinen zerbrochenen Gliedern fand, wälzte er sich auf den Rücken und zwang sich die weiß glühende Sonnenscheibe über sich anzustarren. Seine Augen würden verbrennen, wenn er dies länger als einige Momente lang tat, aber welche Rolle spielte das jetzt noch?

Aton?, dachte er. Bist du gekommen? Ist es deine Allmacht, die ich spüre?

Und tatsächlich – etwas bewegte sich vor der lodernden Sonnenscheibe am Himmel. Ein Schatten, groß, mächtig und schwarz, mit dem schimmernden Bronzeblitz einer Lanze in der Hand, und für einen Moment machte sich eine wilde, verzweifelte Hoffnung in Echnaton breit und gab ihm noch einmal die Kraft, sich auf die Ellbogen hochzustemmen.

Dann klärten sich die Schleier vor seinen Augen und er sah, wer es wirklich war.

Die Erkenntnis ließ ihn aufstöhnen. Für einen Moment vergaß er alles: seine Schmerzen, das furchtbare Pochen in seiner linken Hand und das Feuer in seinen Lungen. Aus ungläubig aufgerissenen Augen blickte er die schlanke, hochgewachsene Gestalt an, die sich direkt aus der Sonne heraus auf ihn zubewegte, einen zerschrammten Schild am Arm, eine blutende Wunde an der Stirn und eine blutige Lanze in der Hand haltend.

»Du?«, flüsterte er ungläubig. Und dann noch einmal und mit einem solchen Entsetzen, dass das Wort wie ein Schrei klang: »DU?«

Sein Mörder trat so dicht an ihn heran, dass sich sein Schatten wie ein schwarzes Leichentuch aus Spinnweben über Echnatons Gesicht legte, ehe er stehen blieb. Die Lanze in seiner Hand zitterte und er hatte die Faust so fest darum geschlossen, dass seine Knochen weiß durch die Haut stachen.

»Ja«, sagte er. »Ich, du Narr!«

»Aber … warum?«, flüsterte Echnaton. Er verstand es nicht. Nicht er. Nicht dieser Mann, der seine religiöse Reform so unterstützt hatte, der sein Freund gewesen war!

»Warum?«, flüsterte er noch einmal.

»Warum?«, wiederholte der Verräter und lachte. »Weißt du das nicht selbst, du Narr?« Er hob die Lanze, als wollte er unverzüglich damit zustoßen, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, aber dann ließ er den Arm wieder sinken.

»Weil du der Untergang für unser Land bist!«, sagte er hasserfüllt. »Weil du die alten Götter verraten und Ägypten an den Rand des Ruins gebracht hast! Du bist kein Pharao! Du bist es nie gewesen. Du bist nichts als ein Narr, ein Kind, das niemals auf den Thron dieses Landes gehört hätte! Dich zu erschlagen ist noch eine Ehre für dich. Ich sollte dich einfach hier liegen und den Schakalen zum Fraß lassen!«

»Den … Untergang?« Echnaton blickte in das schmale, jugendhafte Gesicht des Verräters über sich und versuchte vergeblich Hass oder auch nur Zorn zu empfinden. »Aber ich habe euch … den Frieden gegeben!«

»Den Frieden!« Der Verräter lachte schrill. »Nicht einmal jetzt begreifst du es! Frieden, sagst du? Unsere Feinde sind zahlreicher und stärker als je zuvor! Sie schleichen um unsere Grenzen wie die Hyänen und suchen nach einer Stelle, an der sie zubeißen können! Die Menschen im Lande wollen deinen Gott nicht und die Priesterschaft ist in Aufruhr! Das ist dein Frieden!« Plötzlich schrie er: »Dieses Land wird untergehen an deinem Frieden, du verfluchter Narr! Es ist nicht Friede, den dieses Land braucht! Es sind keine Kunstwerke und schönen Worte, die es nötig hat, sondern einen starken Herrscher, der seine Macht und Größe stärkt und seine Feinde in Furcht auf die Knie sinken lässt!«

Echnaton blickte den Verräter schweigend an, ehe er leise sagte: »Also das ist es, was du willst. Du willst Pharao werden.« Er lächelte matt. Etwas von seinem eigenen Blut floss ihm in die Kehle und verwandelte seine nächsten Worte in einen qualvollen Hustenanfall. Schließlich fand er die Gewalt über seine Stimme wieder.

»Es wird dir nicht gelingen, mein Freund«, sagte er sanft. »Ich mag ein schlechter Pharao gewesen sein und vielleicht wirklich der schwache Herrscher, als den mich viele sehen. Aber eines war ich nie: ein Verräter wie du. Niemals wird ein Mann den Thron Ägyptens besteigen, an dessen Händen das Blut seines rechtmäßigen Besitzers klebt.«

Der Verräter schüttelte den Kopf. »Sei beruhigt, Echnaton. Niemand wird je erfahren, was hier geschehen ist, dass man dich ermordet hat. Du hast Achet-Aton nie verlassen.« Einen Moment lang war Echnaton verwirrt. Ein ungläubiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Das wird niemand glauben«, sagte er.

»O doch«, antwortete der Verräter. »Und selbst wenn – hast du vergessen, dass ich selbst es war, der dir von dieser Reise abgeraten hat?«

Echnaton lachte bitter und leise. »Nachdem du mich vorher auf den Gedanken gebracht hast, ja.«

»Das stimmt. Der Plan ist aufgegangen. Und auch meine anderen Pläne werden aufgehen. Dieses Land wird mir gehören. Vielleicht nicht morgen, vielleicht nicht nach der nächsten Nilschwemme, aber irgendwann.«

»Nach mir kommen andere«, sagte Echnaton. »Willst du sie alle umbringen?«

»Andere?« Der Verräter lächelte. »Oh, du meinst Tutanchaton? Er ist ein Kind. Ein Kind, das Berater und Freunde braucht, um dieses Land zu regieren. Ägyptens Thron ist zu groß, als dass ein Knabe wie er ihn allein ausfüllen könnte. Auch du brauchtest Freunde – hast du das schon vergessen?«

Echnatons Gesicht verdüsterte sich. »Du hast es vom ersten Tag an geplant, nicht wahr?«, fragte er.

»Nicht vom ersten Tage«, erwiderte der Verräter. »Aber schon lange, ja. Ich hasse dich, Echnaton. Du hast unser Land an den Rand des Unterganges geführt. Du hast die alten Götter verschmäht und die alte Ordnung zerstört. Dafür werde ich dich töten. Und ich werde mit dir tun, was du mit den Namen der Götter getan hast: Ich werde jede Erinnerung an dich austilgen. Es wird dich nicht gegeben haben, Amenophis der Vierte, der du dich selbst Echnaton genannt hast! Künftige Generationen werden nicht einmal mehr wissen, dass es dich gegeben hat.« Er lachte leise und hässlich. »Und so wird mich auch niemand einen Mörder nennen können, nicht wahr? Ich kann keinen Mann ermorden, der nie gelebt hat!«

»Du … bist ja wahnsinnig«, flüsterte Echnaton.

»Vielleicht«, antwortete der Verräter. »Aber vielleicht braucht es einen Wahnsinnigen, um einen Wahnsinnigen zu stürzen!« Und damit hob er seine Lanze und rammte sie Echnaton so tief in die Brust, dass die Spitze knirschend gegen den Stein in Echnatons Rücken stieß und abbrach.

Schwer atmend richtete sich der Verräter wieder auf und blickte noch einen Moment auf die verkrümmte, plötzlich so erbärmlich wirkende Gestalt. Als er sich umwandte, um zu seinen Kriegern zurückzugehen, öffnete Echnaton stöhnend die Augen. Der Verräter erstarrte. Ein Ausdruck abgrundtiefen Entsetzens breitete sich auf seinen Zügen aus. Der Pharao … lebte!

»Verräter!«, flüsterte Echnaton mit ersterbender Stimme. »Du … hast mich belogen. Du hast … den Eid gebrochen, den du mir geleistet hast, und du hast … den Schwur gebrochen, den du Gott Aton geleistet hast! Du hast … mich getötet. Ich verfluche dich.«

»Schweig!«, schrie der Verräter. Seine Stimme war schrill und seine Augen flackerten. Aber er wagte es nicht, sich der Gestalt am Boden zu nähern.

»Du hast … mich getötet«, flüsterte Echnaton noch einmal. »Und dafür verfluche ich dich! Aber nicht mit dem Tod, denn das wäre zu einfach. Du sollst … leben. Du sollst niemals Ruhe finden. Du sollst leben … bis … zu dem Tag, an dem … ein Toter all diese Krieger wieder aus ihrer Ruhe erweckt! Erst dann kannst du sterben! Das ist der Fluch, den Amenophis der Vierte von Ägypten über dich ausspricht, Verräter!« Und damit starb er. Sein Körper sank mit einem letzten Aufbäumen zurück und der Verräter konnte sehen, wie das Leben aus seinen Augen wich. Er blieb lange neben dem Leichnam Echnatons stehen und blickte auf ihn hinab und er versuchte vergeblich den unheimlichen Klang dieser letzten Worte aus seinen Gedanken zu verbannen: »Du sollst leben. Du sollst niemals Ruhe finden, bis zu dem Tag, an dem ein Toter all diese Krieger wieder aus ihrer Ruhe erweckt …«

3300 Jahre später

Das Museum

»Aton? Sagtest du tatsächlich Aton?«

Aton schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und beließ es bei einem verlegen wirkenden Lächeln und einem Achselzucken. Beides Antworten, für die allein Werner ihm noch nicht die Zähne einschlagen würde. Es war so, dass Werner nicht unbedingt einen Grund brauchte, um jemandem mit seinen Fäusten ins Gesicht zu schlagen, manchmal reichte es, dass er gerade Lust dazu hatte. Es machte ihm Spaß, anderen wehzutun.

Aton war alles andere als ein Feigling und schon gar nicht schwächlich oder klein. Aber neben Werner mit seinen knapp ein Meter achtzig und seiner Sylvester-Stallone-Schulterbreite wirkte er trotzdem wie ein Zwerg und er hatte sehr wenig Lust, die letzten vier Tage vor den Ferien in der Krankenstation des Internats zu verbringen, die im Moment nur einen einzigen Patienten beherbergte: Ricky, einen seiner Klassenkameraden. Ricky hatte vor zwei Wochen den Fehler begangen, Werner zu sagen, wofür er ihn wirklich hielt.

»Deine Eltern müssen ’ne ganz schöne Macke gehabt haben, wie?«, fuhr Werner mit einem anzüglichen Grinsen fort und rammte die Fäuste in die Taschen seiner Bomberjacke. »Oder war dein Alter einfach zu geizig für das zweite ›n‹ in Anton?« Er lachte laut und meckernd über seinen eigenen Witz und Aton hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. Insgeheim stimmte er Werner zu: Der Name, den seine Eltern ihm gegeben hatten, war schon des Öfteren Anlass zu schrägen Blicken oder Sticheleien gewesen. Aber niemand hatte es bisher so gehässig getan.

»Es hat nichts mit Anton zu tun«, sagte er, so freundlich er konnte. »Aton ist der Name des alten ägyptischen Sonnengottes. Meine Eltern haben eine besondere Vorliebe für Ägypten«, fügte er mit einem kaum hörbaren Seufzer hinzu.

Werner runzelte die Stirn. »Sonnengott, so.«

»Nicht direkt«, erklärte Aton weiter, ohne auf die innere Stimme zu hören, die ihm zuflüsterte, dass er jetzt besser die Klappe hielt.

»Eigentlich hieß der Sonnengott Re und Aton war die Bezeichnung für die Sonnenscheibe. Aber später hat dann Pharao Echna– «

Er verstummte mitten im Wort, als er das Funkeln in Werners Augen gewahrte. Werner war ein Idiot mit dem Intelligenzquotienten einer Küchenschabe – dummerweise einer von hundertsiebzig Pfund Kampfgewicht.

Aber das Gefährliche an ihm war, dass er das wusste. Und entsprechend ungehalten reagierte, wenn man es ihn zu deutlich spüren ließ.

Aber es sah so aus, als käme Aton für heute noch einmal davon. »Aton«, wiederholte Werner noch einmal, dann zuckte er mit den Achseln, drehte sich um und marschierte über den weitläufigen Innenhof des Sänger-Internats davon, gefolgt von den drei Mitgliedern seiner Bande. Einer Bande, die die unumstrittene Herrschaft über das Internat ausübte und die im nächsten Schuljahr in Atons Klasse Einzug halten würde. Bis zu den großen Ferien dauerte es zwar noch mehr als ein halbes Jahr, aber Direktor Zombeck hatte Werner bereits mitgeteilt, dass er noch eine Ehrenrunde drehen durfte: Er würde sitzen bleiben, nicht zum ersten Mal, und die drei Idioten, die er um sich versammelt hatte und abwechselnd als Laufburschen, Prügelknaben und Schlägertrupp einsetzte, gleich mit ihm.

Aton unterdrückte ein neuerliches Seufzen. Er fragte sich, womit um alles in der Welt er dieses Schicksal verdient hatte. Das Sänger-Internat an sich war gar nicht so übel – die teure, in der Welt draußen so gut wie unbekannte Privatschule lag auf einem kleinen Hügel über Crailsfelden, einem winzigen Ort in der Nähe der Hauptstadt, der auf den meisten Straßenkarten nicht einmal verzeichnet war. Es war ein Internat für ausschließlich hochbegabte Jugendliche, leider aber auch für solche, deren Eltern Geld und Einfluss genug hatten, dass es niemand wagte, ihnen zu sagen, wie es wirklich um ihre Lieblinge stand. Wie sich Werner und seine drei Anhänger hierher verirrt hatten, das war nicht nur Aton ein Rätsel. »Hallo, Aton!«, sagte eine Stimme hinter ihm, und als Aton sich herumdrehte, erkannte er Ronald Bender, den Hausmeister, der den drei Jungen einen forschenden Blick nachwarf. »Gab es Ärger?«, fragte er.

Aton schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wir haben uns nur bekannt gemacht. Werner und seine Freunde sind ab nächstem Jahr meine Klassenkameraden.«

Bender grinste, enthielt sich aber sonst jeden Kommentars. »Der Bus ist schon da«, sagte er. »Du weißt doch, dass Direktor Zombeck nicht gerne wartet.«

Und ob Aton das wusste! Von allen Eigenschaften trafen geduldig und großzügig auf Direktor Zombeck wohl am allerwenigsten zu. Wenn er sagte, dass der Bus um elf Uhr abfuhr, dann meinte er damit elf Uhr, nicht etwa eine Sekunde später! Also bedankte sich Aton mit einem Kopfnicken bei Bender und steuerte das Tor auf der anderen Seite des Innenhofes an.

Auf dem Parkplatz des festungsähnlichen Klosters, in dessen Mauern sich das Sänger-Internat befand, wartete ein zweistöckiger Bus auf die Zöglinge, die heute die Ehre hatten, an einem Ausflug mit Direktor Zombeck teilzunehmen.

Aton war offensichtlich der Letzte, denn die Tür schloss sich hinter ihm, kaum dass er im Wagen war, und der Fahrer startete den Motor. Der Bus war nahezu voll – immerhin hatte Zombeck gleich vier Klassen dazu verurteilt, ihn bei einem seiner heiß geliebten Museumsbesuche in die Hauptstadt zu begleiten – und zu seinem Entsetzen entdeckte Aton auch Werner und seine Freunde auf einer der hinteren Bänke. Zombeck deutete auf einen freien Platz weiter vorne, unmittelbar in seiner Nähe. Aton setzte sich hastig.

Die Fahrt dauerte eine gute Dreiviertelstunde, und da er fast neben dem Direktor saß, verlief sie für Aton ziemlich langweilig. Er nahm es gelassen – vermutlich war es ohnehin nur der Auftakt zu einem jener Tage, die man getrost aus dem Kalender streichen konnte.

Von den mehr als hundert Schülerinnen und Schülern im Bus war Aton vielleicht der Einzige, der sich nicht auf den Besuch der Sonderausstellung freute. Und das hatte einen ganz bestimmten Grund. Als er Werner vorhin erzählt hatte, dass sein Vater eine Vorliebe für das alte Ägypten und alles, was damit zusammenhing, hatte, da war das wohl die Untertreibung des Jahres gewesen. Seine Eltern waren beide geradezu vernarrt in das Land der Pharaonen. Sein Vater verbrachte das halbe Jahr – mindestens – beruflich in Ägypten, und so lange sich Aton erinnern konnte, hatten die Eltern auch jeden Urlaub dort verlebt. Das Haus, in dem Aton aufgewachsen war, glich einem ägyptischen Museum. Er war mit Geschichten von Amun und Re, von Isis und Osiris, von Anubis und Bastet groß geworden. Sobald er lesen konnte, hatten ihm seine Eltern Bücher mit Farbfotos von Pyramiden, Wandmalereien und Statuen in die Hand gedrückt. Um es deutlich auszudrücken – dieser ganze Ägypten-Kram kam Aton zu den Ohren heraus und das seit Jahren! Es war wahrhaftig kein Wunder, dass er sich nicht besonders darauf freute, eine Ausstellung über das alte Ägypten zu besuchen. Atons linke Schulter begann zu jucken. Er hob die Hand und fuhr gedankenverloren mit den Fingern darüber. Er konnte die Ursache dieses Juckens sogar durch den Stoff der Jacke hindurch fühlen. Es war eine winzige, harte Erhebung unter seiner Haut, die er hatte, solange er denken konnte, und die sich immer dann meldete, wenn er nervös oder aufgeregt war. Seine Eltern hatten ihm erzählt, dass es sich um einen Steinsplitter handelte, der in seinen Körper gedrungen war, als er bei einem Explosionsunglück verletzt wurde. Er war damals fünf Jahre alt gewesen, und da der Fremdkörper keine Gefahr darstellte, hatte man nie daran gedacht, ihn zu entfernen.

Atons Mutmaßungen, was den weiteren Verlauf des Tages anging, schienen sich zu bewahrheiten. Die Ausstellung an sich war gar nicht einmal schlecht. Die Veranstalter hatten sich Mühe gegeben. Der große, normalerweise kalt und unpersönlich wirkende Marmorsaal war durch geschickt aufgestellte Lampen und große Wandschirme in eine Anzahl kleinerer, heller Inseln unterteilt, in deren Mitte jeweils ein ganz besonderes Ausstellungsstück stand. Es gab große, meistenteils sogar farbige Bilder an den Wänden und etwas kleinere Abbildungen an den aufgestellten Raumteilern und in den Glasvitrinen waren alle möglichen Fundstücke zu sehen, daneben hatte man kleine Schildchen angebracht, auf denen das jeweilige Ausstellungsstück beschrieben wurde. Atons kundiges Auge entdeckte natürlich sofort den einen oder anderen kleinen Irrtum, der den Veranstaltern unterlaufen war und der den Besuchern kaum auffallen würde.

So schlenderte Aton mit lässig in den Jackentaschen vergrabenen Händen zwischen den Vitrinen und gläsernen Schränken umher, warf einen Blick auf dieses und jenes, studierte die Schildchen – und blieb plötzlich vor zwei nebeneinanderstehenden, verschieden großen Vitrinen stehen. Die eine Vitrine, eigentlich ein Würfel aus sorgsam poliertem Plexiglas, stand auf einem hohen Sockel aus schwarzem, Granit vortäuschenden Kunststoff, in der etwas ausgestellt war, was auf den ersten Blick wie ein Haufen schmuddeliger, halb verrotteter Lumpen aussah. Das kleine Schildchen daneben verriet, dass es sich um eine Katzenmumie aus der achtzehnten Dynastie handelte, gefunden auf dem berühmten Katzenfriedhof von Bubastis.

Aton runzelte die Stirn und wandte sich der zweiten, viel größeren Vitrine zu.

KRIEGERMUMIE,

behauptete das Schildchen daneben,

GEFUNDEN BEI GRABUNGEN IN SAKKARA

»Was für ein Unsinn«, murmelte Aton, und im selben Moment sagte eine Stimme hinter ihm:

»Der Typ sieht aus wie Ricky nach meiner letzten Unterhaltung mit ihm.«

Aton musste sich nicht herumdrehen um zu wissen, wer hinter ihm stand.

Er tat es trotzdem – und begegnete dem Blick aus Werners Augen, deren tückisches Glitzern in krassem Gegensatz zu seinem aufgesetzten Grinsen stand.

Aton versuchte vorsichtig den Rückzug anzutreten. Er kam genau einen Schritt weit, dann machte Werner eine Handbewegung und sofort vertrat ihm einer seiner beiden Begleiter den Weg.

»Wieso ist das Unsinn, was auf dem Schild steht?«, wollte Werner wissen. Seine Augen wurden schmal und sein Lächeln erlosch. Aton wich etwas zur Seite und hielt Hilfe suchend nach Zombeck oder einem der anderen beiden Lehrer, die mitgekommen waren, Ausschau. Keine Chance. Der Rest der Gruppe befand sich fast am anderen Ende des Saales. Er hätte schon lauthals um Hilfe schreien müssen, um überhaupt gehört zu werden.

»Weil Krieger nicht mumifiziert wurden«, antwortete er zögernd.

»Mumiwas?«, fragte Werner auf eine Art und mit einem Gesichtsausdruck, als denke er angestrengt darüber nach, ob sich hinter diesem Wort vielleicht eine Beleidigung versteckte oder irgendein anderer Anlass, endlich den Streit vom Zaun zu brechen, auf den er schon lange aus war. »Sie haben keine Mumien aus ihnen gemacht«, erklärte Aton hastig.

»Ich dachte, sie hätten alle ihre Toten so beerdigt«, murmelte Werners rechtes Anhängsel. Werner schenkte ihm einen strafenden Blick und Aton schluckte die spöttische Antwort, die ihm auf den Lippen lag, im letzten Moment hinunter.

»Das wäre viel zu aufwendig gewesen«, erklärte er.

»Was? Die Toten in ein paar Lappen zu wickeln?« Aton bemühte sich, möglichst geduldig zu klingen, ohne dass Werner es als überheblich auslegen konnte. »So einfach war das nicht«, sagte er. »Einen Toten zu mumifizieren ist eine ungeheuer komplizierte Sache und die alten Ägypter waren wahre Meister darin. Den Toten wurden die inneren Organe entfernt – «

»Gib es auch äußere?«, fragte Werner.

Aton überging den Einwurf. » – bis hin zum Gehirn.«

»Echt?« Werner musterte die angebliche Kriegermumie mit neuem Interesse. »Sie haben den Schädel aufgeschnitten und das Hirn rausgeholt? Geil!«

Irgendwann in seiner frühesten Jugend musste jemand dasselbe mit Werner gemacht haben, dachte Aton. »Nein«, sagte er laut. »Dazu haben sie einen Draht benutzt und das Gehirn durch die Nasenlöcher herausgezogen.«

»Brrrr«, machte Werners linkes Anhängsel und schüttelte sich. Werner selbst schien die Vorstellung eher zu gefallen – und Aton beging den Fehler, sein Grinsen als die Andeutung von Interesse zu deuten, und fuhr mit seiner Erklärung fort: »Die herausgenommenen Organe haben sie dann zusammen mit den Körpern beerdigt, in eigens dafür vorgesehenen Krügen, den Kanopen, weißt du?«

»Und was ist mit dem Typen da?«, wollte Werner wissen. »Besonders Furcht einflößend sieht er ja nicht aus. Die Burschen waren nicht sehr groß, wie?«

Damit hatte er recht – der Krieger überragte Aton nur um eine Handbreit, aber das lag nur daran, dass er innerhalb seiner Vitrine auf einem Sockel stand, ohne den er vermutlich kleiner als Aton gewesen wäre.

»Die Menschen waren damals alle nicht viel größer«, erklärte Aton. »Außerdem hat die Größe nicht viel zu besagen. Die ägyptischen Heere galten lange Zeit als unbesiegbar.«

»Ja – deswegen sitzen ihre Nachfahren ja heute auch in der Wüste und züchten Kamele«, sagte Werner abfällig.

Die Worte machten Aton zornig. Obwohl er wusste, dass es viel klüger wäre, den Mund zu halten, drehte er sich zu Werner herum und maß ihn mit einem leicht verächtlichen Blick. »Immerhin hat das Pharaonenreich einige tausend Jahre überdauert«, sagte er. »Ich bin gespannt, ob man das später auch einmal von unserer Kultur behaupten kann.«

»Wen interessiert das schon?«, fragte Werner. Er zog eine Grimasse und Aton gab ihm in Gedanken recht – aber vielleicht war es ganz gut, wenn zumindest gewisse Vertreter besagter Kultur von diesem Planeten verschwanden, ohne allzu deutliche Spuren ihrer Existenz zu hinterlassen.

Einer von Werners Begleitern deutete jetzt auf die kleinere Vitrine und fragte erstaunt: »Was ist denn das?«

»Eine Katze«, beeilte sich Aton zu antworten. »Sie haben sie mumifiziert – so wie ich es euch vorhin erklärt habe. Und dann beerdigt.«

»Eine Katze?«, fragte Werner zweifelnd. »Wieso sollten sie sich mit dem Viehzeug solche Mühe machen?«

»Katzen waren heilige Tiere im alten Ägypten«, erklärte Aton. »Sie wurden von den Menschen verehrt.«

»So wie heute die Inder ihre blöden Kühe?«

»Viel mehr«, antwortete Aton. »Sie hatten eine Katzengöttin. Manche von den Tieren lebten in eigenen Tempeln und eine Katze umzubringen zog schwere Strafen nach sich. Viele Katzen wurden mumifiziert, nachdem sie gestorben waren. Es gab sogar einen eigenen Friedhof, auf dem nur Katzen beigesetzt wurden, und das unter großen Ehren. Es gibt ihn noch heute. Er liegt in Bubastis, wo auch der große Tempel der Bastet stand, der Katzengöttin.«

Werner schnaubte. Er warf einen misstrauischen Blick auf den in graue Leinenstreifen eingewickelten kleinen Körper, dann richtete er sich kopfschüttelnd auf und wandte sich wieder dem Krieger zu.

»Dieses Vieh haben sie eingesalbt und beerdigt, und den armen Kerl da haben sie bloß eingewickelt und dann liegen gelassen.«

Auch Aton drehte sich wieder dem Krieger zu. Vermutlich hatte Werner recht. Das Schildchen neben der Vitrine behauptete zwar, dass der Körper neben der Mastaba von Sakkara gefunden worden war – einem steinernen Grab, das zwar nicht ganz so beeindruckend war wie eine Pyramide, aber noch immer gewaltig –, doch Aton nahm an, dass es sich dabei wohl eher um einen Zufall handelte. Die Pyramiden waren ausnahmslos Königen, Hohepriestern oder allenfalls noch hohen Beamten vorbehalten gewesen. Die normalen Menschen – Krieger, Beamte, Bauern und Handwerker – waren im Wüstensand begraben oder in Gemeinschaftsgräbern beigesetzt worden.

Die angebliche Kriegermumie war keine richtige Mumie – nicht in dem Sinn, in dem er das Wort gerade Werner und seinen Begleitern erklärt hatte. Was unter den halb vermoderten Stoffstreifen, die nachlässig um ihn gewickelt worden waren, von seiner Haut sichtbar war, das war zu etwas vertrocknet, das fast wie schwarzes, zähes Leder aussah. Es waren nicht Menschen gewesen, die ihn sorgsam präpariert und für die Ewigkeit geschützt hatten, sondern die glühende Wüstensonne und die Trockenheit hatten seinem Körper alle Flüssigkeit entzogen, sodass er nicht in Fäulnis übergehen und weiter verfallen konnte – was in der Vitrine stand, das war ein Toter, der jahrtausendelang im Wüstensand begraben gelegen haben mochte, ehe er gefunden und hierher gebracht worden war.

Links von der seltsamen Mumie lehnte ein oben bogenförmig zulaufender Schild, rechts eine verrostete Lanze und zu seinen Füßen lag ein Dolch, der ganz so aussah, als ob man ihn nach all der langen Zeit noch gut verwenden könnte. Irgendwie fühlte sich Aton unbehaglich. Er sagte sich selbst, dass es albern war, und trotzdem empfand er es als ungerecht: Dieser Mann hatte Jahrtausende in seinem Grab im Sand der Wüste gelegen und es war einfach nicht richtig, ihn aus seiner ewigen Ruhe zu reißen und hier auszustellen, wo er begafft wurde wie ein Tier im Zoo. Und als hätte er seine Gedanken gelesen und wollte ihm beipflichten, öffnete der Krieger in diesem Moment die Augen und sah ihn an.

Und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Werner heulte auf, als Aton zurückprallte und ihm so kräftig auf die Zehen trat, dass der Schmerz ihm die Tränen in die Augen trieb, trotzdem packte er Aton und schleuderte ihn gegen einen seiner Freunde. Dieser geriet aus dem Gleichgewicht, krallte sich an Aton fest und stürzte mit ihm zu Boden – und das so unglücklich, dass Aton ihm dabei unabsichtlich den Ellbogen in den Magen rammte. Der andere keuchte vor Schmerz und versetzte Aton einen Hieb auf die Nase, der bunte Sterne vor seinen Augen tanzen ließ – und Aton hob die Hand, um dem Burschen eine Ohrfeige zu verpassen. Doch bevor er die Bewegung ausführen konnte, fühlte er sich von kräftigen Händen am Gürtel gepackt und hochgezerrt.

»So!«, brüllte Werner. »Du willst also Streit, wie? Den kannst du haben.«

Aton riss instinktiv die Hände hoch, um sich vor den Ohrfeigen zu schützen, die ihm Werner gleich verpassen würde, und drehte den Kopf etwas zur Seite. Dabei fiel sein Blick auf die große Vitrine und sein Herz schien einen regelrechten Sprung in seiner Brust zu machen. Der Krieger hatte sich bewegt!

Die Lanze lehnte nicht mehr neben ihm, sondern befand sich plötzlich in seiner Hand, und auch der Schild war nicht mehr an seinem Platz, sondern hing am Arm der Mumie. Die ganze Gestalt wirkte angespannt, als wollte sie sich im nächsten Moment auf Werner stürzen, der kaum einen Meter vor der Glasvitrine stand.

»Pass auf!«, schrie Aton entsetzt. »Hinter dir!«

Werner lachte und versetzte Aton die erwartete Ohrfeige, die ihn bunte Lichtblitze sehen ließ. Trotzdem konnte Aton die Augen nicht von dem Mumienkrieger wenden. Er hatte sich wieder bewegt. Die Lanze war jetzt fast ganz erhoben, der linke Arm mit dem Schild angewinkelt und die Drähte, an denen der Krieger hing, waren bis zum Zerreißen gespannt. Werner wollte erneut zuschlagen – da taumelte der Krieger in einem Regen aus zersplitterndem Glas aus der Vitrine hervor und stieß gegen ihn. Die Lanzenspitze verfehlte Werners Brust um Haaresbreite, zerriss aber seine Jacke und das Hemd darunter und hinterließ eine lange, blutige Schramme auf seiner Haut und der Schild prallte so heftig in Werners Kniekehlen, dass dieser mit einem keuchenden Laut das Gleichgewicht verlor. Mit wild rudernden Armen suchte er irgendwo Halt, erreichte aber damit nur, dass er zur Seite fiel und dabei an den kleineren Vitrinenschrank mit der Katzenmumie stieß.

Die beiden Burschen, die Aton gepackt hielten, ließen ihr Opfer unverzüglich los und eilten Werner zu Hilfe – und damit war das Chaos endgültig perfekt.

Einer der beiden stolperte und geriet in die Bahn der Mumie, die just in diesem Moment wie in Zeitlupe nach vorne kippte und den Jungen unter sich begrub; der andere versuchte Werner festzuhalten, wurde aber von diesem mit zu Boden gerissen – und der Glaswürfel kippte endgültig von seinem Sockel, stürzte auf die beiden hinunter und zerbrach in tausend Stücke. Die Katzenmumie rollte heraus und landete direkt auf Werners Gesicht. Aus seinen Schreien wurde ein hysterisches Kreischen, das einen Moment später in einem erstickten Laut unterging.

»Was zum Teufel ist denn hier los?«, schrie eine Stimme hinter Aton. Erschrocken wandte er sich um und erblickte Zombeck, der im Laufschritt herbeigeeilt kam, dicht gefolgt von den beiden anderen Lehrern und dem Rest der Schüler. »Was tut ihr denn hier? Seid ihr – o Gott! Aufhören! Sofort aufhören!«

In jeder anderen Situation hätte Aton sicher seine helle Freude an dem entsetzten Ausdruck auf Zombecks Gesicht gehabt, aber jetzt schenkte er ihm nur einen flüchtigen Blick, ehe er sich wieder zu Werner und dessen beiden Freunden herumdrehte.

Sie boten einen grotesken Anblick. Einer der Jungen lag, alle viere von sich gestreckt, unter der Mumie, die durch eine Laune des Zufalls tatsächlich so über ihn gefallen war wie ein Krieger, der seinen Gegner unter sich begrub: Der Schild drückte Schultern und Kopf des Jungen gegen den Boden, während sich die Lanzenspitze nur Millimeter unter seiner Achsel hinweg tief in den Fußboden gegraben hatte, sodass der arme Kerl zwar unverletzt geblieben war, aber trotzdem regelrecht an den Boden genagelt wurde. Der zweite Junge hockte benommen inmitten eines gewaltigen Scherbenhaufens und betrachtete seine Hände, die mit winzigen Schnitten übersät waren, und Werner selbst bot einen grotesken Anblick: Er lag auf dem Rücken, strampelte mit den Beinen und gab gurgelnde Laute von sich, während er mit beiden Händen versuchte, eine dreitausend Jahre alte Katze von seinem Gesicht hinunterzustoßen, die sich tief in seine Haut gekrallt zu haben schien.

Zombeck allerdings fand den Anblick nicht im Geringsten komisch. Ganz im Gegenteil: Er sah aus, als träfe ihn jeden Augenblick der Schlag. Mit einem einzigen Satz war er an Aton vorbei, stürzte sich auf Werner – und erstarrte mitten in der Bewegung. Offensichtlich begriff er erst jetzt wirklich, was hier geschehen war.

Seine Augen quollen förmlich aus den Höhlen, während sein Gesicht die Farbe wechselte. »Was – ist – hier – los?«, stammelte er schließlich fassungslos.

Werner hatte sich mittlerweile endlich von der toten Katze befreit. Keuchend setzte er sich auf, fuhr sich angeekelt mit beiden Händen über das Gesicht und versetzte der Mumie einen Tritt, der sie gegen den Sockel schleuderte, von dem sie heruntergestürzt war. Sie zerbrach in zwei Teile. Zombeck gab einen Laut von sich, als würden ihm sämtliche Zähne auf einmal gezogen (und zwar ohne Narkose). Dann verdunkelte jäher Zorn sein Gesicht.

»Werner!«, sagte er. »Natürlich. Wer auch sonst!« Er machte einen Schritt auf ihn zu und blieb wieder stehen, als Werner aufstand. Er bot einen geradezu erschreckenden Anblick: keuchend vor Furcht und Ekel und mit einem Gesicht, das aussah, als hätte er eine Auseinandersetzung mit einer Brotschneidemaschine gehabt.

In diesem Moment kamen die anderen herbei. Frau Steller schlug entsetzt die Hand vor den Mund, als sie sah, was geschehen war, während Herr Dufeu sich hastig neben dem Jungen niederkniete, der unter der Mumie begraben worden war, und versuchte, den toten Krieger von ihm herunterzubringen. Allerdings gab er sein Vorhaben sofort wieder auf, denn unter seinen zupackenden Fingern zerfielen die morschen Stoffstreifen, die den toten Körper umhüllten, zu Staub.

»Um Gottes willen!«, keuchte Zombeck. »Seien Sie vorsichtig!«

Dufeu wirkte plötzlich sehr nervös – vermutlich war ihm zu Bewusstsein gekommen, welch ungeheuren Wert das darstellte, was da wie ein Haufen vermoderter Lumpen auf dem Jungen lag. Unsicher streckte er ein zweites Mal die Hände aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern griff nach den Füßen des Jungen, um ihn behutsam unter dem Mumienkrieger hervorzuziehen. Es gelang ihm erst, als ihm Frau Steller und zwei weitere Schüler dabei halfen, und selbst dann blieben ein paar zerrissene Stoffstreifen und kleine, grauschwarze Brocken auf dem Boden zurück.

Zombeck sah wortlos zu, bis die Befreiungsaktion zu Ende war. Dann richtete er sich auf und ließ seinen Blick eisig über die Gesichter der drei Übeltäter streifen. Zuletzt wandte er sich an Aton.

»Was ist hier passiert?«, fragte er. »Von Werner und diesen beiden habe ich nichts anderes erwartet, aber du? Was habt ihr nur getan? Habt ihr auch nur eine Vorstellung davon, was diese Dinge wert sind?«

»Ich … es … es ist nicht meine Schuld«, stammelte Aton. Er war noch immer zutiefst verwirrt. Er starrte die Mumie an, die wieder zur Reglosigkeit erstarrt war, und für eine Sekunde war er fest davon überzeugt, dass sie im nächsten Augenblick aufspringen und einfach davonmarschieren würde.

Natürlich geschah das nicht. Der Krieger hatte sich nie bewegt. Nicht wirklich. Alles war nur Einbildung gewesen – ein Streich, den ihm seine Angst gespielt hatte. Werners Ohrfeige hatte ihn ja halb bewusstlos gemacht. Und trotzdem … es war so realistisch gewesen.

»Ich warte«, sagte Zombeck. Seine Stimme zitterte. Er hatte alle Mühe, sich noch zu beherrschen.

»Ich … es tut mir leid«, stieß Aton mühsam hervor. »Ich wollte das nicht. Aber Werner …«

»Werner.« Dieses Wort allein schien Zombeck als Antwort auszureichen. »Natürlich – wer auch sonst? Wo immer es Ärger gibt, bist du dabei, nicht? Und wenn es keinen gibt, dann machst du eben welchen.« Er wandte sich zu Werner um und starrte ihn finster an. Werner erwiderte seinen Blick trotzig – aber Aton bemerkte auch, dass er viel von seiner gewohnten Selbstsicherheit eingebüßt hatte. Unter all dem Blut und Schmutz auf seinem Gesicht war er kreideweiß geworden. Seine Hände zitterten.

»Hast du überhaupt eine Ahnung, was ihr getan habt?«, fuhr Zombeck fort und beantwortete seine Frage gleich selbst, indem er den Kopf schüttelte. »Natürlich nicht. Diese Dinge hier sind unvorstellbar wertvoll. Mit Geld gar nicht aufzuwiegen! Und ihr … ihr – « Er brach ab. Ihm fehlten einfach die Worte.

»Ich glaube, wir sollten einen Arzt rufen«, sagte Frau Steller. Sie deutete auf Werners blutiges Gesicht und den hässlichen Kratzer an seiner Seite. »Wenn er sich an der Mumie verletzt hat, dann kann er sich alle möglichen Infektionen zuziehen.« Sie maß die beiden anderen Jungen mit einem prüfenden Blick, stellte fest, dass sie unverletzt waren, und wandte sich schließlich Aton zu.

»Was ist mit dir? Deine Nase blutet.«

»Das war Werner«, antwortete Aton. Ihm fiel zu spät ein, dass sich diese Worte wie ein Vorwurf anhörten, nicht wie die Beruhigung, die sie sein sollten. Erschrocken sah er zu Werner auf, aber der schien seine Antwort gar nicht mitbekommen zu haben: Er starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die tote, zweigeteilte Katze hinab, die am Fuße des Sockels lag. Zum ersten Mal, solange Aton Werner kannte, sah er echte Angst in dessen Augen. Und plötzlich war er gar nicht mehr so sicher, dass er sich wirklich alles nur eingebildet hatte. »Sie haben recht«, sagte Zombeck. »Nehmen Sie sich ein Taxi und fahren Sie mit den Jungen ins nächste Krankenhaus. Sie sollen sie gründlich untersuchen. Und wir …« Er seufzte tief und drehte sich zu Dufeu herum, der noch immer dastand und mit unglücklichem Gesichtsausdruck auf die Mumie hinuntersah, »… werden den Direktor des Museums suchen. Ich fürchte, wir haben ihm eine Menge zu erklären.«

Herr Petach

Klar, dass Aton den Rest des Tages abhaken konnte – er verlief ganz genau so, wie er nach der Katastrophe im Museum erwartet hatte, allerhöchstens noch ein bisschen schlimmer: Nach ihrer Rückkehr ins Internat wurden sie alle zum Direktor zitiert, wo ihnen eine Standpauke blühte, nach der Aton noch am Abend die Ohren klingelten, und selbstverständlich war das, was passiert war, den ganzen Tag über das Gesprächsthema überhaupt. Aton ging an diesem Abend ungewöhnlich früh zu Bett, und das vor allem deshalb, weil er es leid war, immer wieder dieselben Fragen zu hören und immer wieder dieselbe Geschichte zu erzählen.

Aber nicht nur aus diesem Grund.

Nachdem sich seine Aufregung ein wenig gelegt hatte, hatte er die ganze Geschichte noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren lassen und dabei war etwas sehr Seltsames geschehen: Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, sich das unheimliche Erwachen der Mumie nicht eingebildet zu haben. Die offizielle Version – die sowohl Werner als auch Aton zu bezweifeln sich gehütet hatten! – war, dass Werner gegen die Vitrine gestolpert war und sie dabei zerschlagen hatte. Aber Aton wusste, dass das nicht stimmte; und Werner und seine beiden Freunde im Grunde wohl auch.

So war es eigentlich kein Wunder, dass Aton in dieser Nacht nicht besonders viel Ruhe fand. Er schlief erst lange nach Mitternacht ein und schrak ein paar Mal schweißgebadet und mit heftig klopfendem Herzen aus einem Albtraum auf, an den er sich zwar nicht erinnerte, der aber schrecklich gewesen sein musste, denn er erwachte jedes Mal mit einem Gefühl von Beklemmung und Furcht, wie er es selten zuvor verspürt hatte. Schließlich, es musste schon fast Morgen sein, sank er dann doch in einen tiefen, endlich traumlosen Schlummer – und verschlief prompt den Wecker.

Es war der Lärm, der vom Schulhof heraufdrang, der ihn schließlich weckte. Aton setzte sich auf, blinzelte einen Moment benommen – und fuhr wie von der Tarantel gestochen in die Höhe, als sein Blick auf die grünen Leuchtziffern des Radioweckers fiel. Es war zwanzig nach acht. Der Unterricht hatte vor fünf Minuten begonnen und sein allererster wirklich klarer Gedanke war der, dass sie in der ersten Stunde Kunst mit Frau Steller hatten, die nun wahrlich keinen Spaß verstand, was Unpünktlichkeit anging. Und nach dem, was gestern geschehen war, vermutlich noch weniger als sonst.

Aton war zwar von allen Beteiligten am besten davongekommen, aber wie es mit solchen dummen Geschichten nun einmal ist – ganz egal, ob schuldig oder nicht, es reichte aus, irgendwie darin verwickelt zu sein, damit etwas hängen blieb. Aton war mit einem Satz aus dem Bett. Er brachte das Kunststück fertig, sich in weniger als einer Minute komplett anzuziehen, und riss im Hinausgehen seine Schulmappe an sich. So schnell er konnte, rannte er die Treppe hinunter, durch die große Halle und die Stufen auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinauf, wobei er immer zwei, drei auf einmal nahm. Seine Klasse lag im ersten Stockwerk des weitläufigen Gebäudes, aber ganz am Ende. Aton legte die Strecke in einer persönlichen Rekordzeit zurück – was aber nichts daran änderte, dass der Unterricht schon seit mehr als zehn Minuten lief, als er endlich in den entsprechenden Korridor einbog und zum Endspurt ansetzte. In Gedanken legte er sich schon eine passende Entschuldigung zurecht, damit Frau Stellers Zorn sich nicht gar zu heftig über ihm entlud.

Um ein Haar hätte er sie über den Haufen gerannt.

Die Klassentür wurde in der Sekunde aufgestoßen, in der er die Hand nach der Klinke ausstreckte, und Aton konnte im allerletzten Moment zur Seite springen, als Frau Steller heraustrat. Auf ihrem Gesicht erschien ein überraschter Ausdruck, als sie Aton vor sich sah. Sie schloss die Tür hinter sich und wies mit der anderen Hand in die Richtung, aus der er gekommen war. »Ich wollte dich gerade suchen.«