Cover

Jean-Luc Seigle

Ich schreibe Ihnen
im Dunkeln

Roman

Aus dem Französischen
von Andrea Spingler

C.H.Beck

Über das Buch

Einfühlsam und poetisch erzählt Jean-Luc Seigle in diesem dichten, intensiven Roman von der Leidenschaft und den Wünschen einer Frau, die, schön und talentiert, mit ihrem Begehren immer wieder scheitert. Es ist eine wahre Begebenheit, die Jean-Luc Seigle in seinem neuen Roman von der Hauptfigur Pauline erzählen lässt, als sie, in einem Haus in Marokko sitzend, ihre Geschichte aufschreibt. Die tragische Geschichte einer jungen und begabten Frau, die während der deutschen Besatzung Frankreichs für einen deutschen Militärarzt arbeitet und dessen Geliebte wird. Nach der Befreiung Frankreichs üben Männer der Résistance fürchterliche Rache an ihr. Später studiert Pauline in Paris, will sich ihrer großen Liebe Félix offenbaren und wird wegen ihrer Vergangenheit von ihm abgewiesen. Im Affekt tötet sie ihn. Sie wird 1950 zum Tode verurteilt, die Strafe wird in lebenslänglich umgewandelt. Währenddessen dreht der Regisseur Henri-Georges Clouzot auf der Grundlage ihres Schicksals den Film «Die Wahrheit» mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle. Aus dem Gefängnis entlassen, muss Pauline sich mit diesem Film konfrontieren und wandert schließlich nach Marokko aus. Wieder verliebt sie sich, wieder will sie sich erklären, will herausfinden, was denn ihre Wahrheit ist.

Über den Autor

Jean-Luc Seigle, 1959 in Clermont-Ferrand geboren, ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Er lebt in Nordfrankreich am Meer. Romane, Drehbücher und Theaterstücke gehören zu seinem Werk. Bei C.H.Beck erschien 2014 auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler «Der Gedanke an das Glück und an das Ende», für den Seigle den Grand Prix RTL-Lire 2012 und den Prix Octave-Mirbeau erhielt.

Über die Übersetzerin

Andrea Spingler, 1949 in Stuttgart geboren, lebt in Oldenburg und Südfrankreich. Sie übersetzte u.a. Werke von Marguerite Duras, Jean-Paul Sartre, André Gide, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano und Maylis de Kerangal. 2007 erhielt sie den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis, 2012 den Prix Iémanique de la traduction.

INHALT

VORWORT

ERSTES HEFT

ZWEITES HEFT

DRITTES HEFT

EPILOG

HINWEISE

Für Élodie C.
Für meine Mutter

Denn das Leben eines Menschen, und sei es auch noch so bescheiden, ist stets eine Uraufführung einer Folge einzigartiger Erfahrungen. Der Zeuge kann also nur dann ein Urteil fällen, wenn er bis zum Schluss bleibt. Wer weiß, ob die letzte Minute ein allem Anschein nach ehrbares Leben nicht urplötzlich entwertet oder ein abscheuliches rehabilitiert?

Vladimir Jankélévitch, Der Tod

VORWORT

Als die Medizinstudentin Pauline Dubuisson ihren ehemaligen Verlobten Félix Bailly tötete, ahnte sie nicht, dass sie dadurch indirekt einen weiteren Tod verursachen sollte, nämlich den ihres Vaters, der sich am folgenden Tag, nachdem er von ihrer Verhaftung erfahren hatte, das Leben nahm. Mit einundzwanzig Jahren kam die Schuldige ins Gefängnis, anstatt ihr Examen zu machen. Drei Jahre später, 1953, stand sie vor Gericht. Die Leumundszeugen verwiesen mit Nachdruck darauf, dass man ihr in der Zeit der Befreiung ja den Kopf kahlgeschoren hatte; sie vergaßen zu erwähnen, dass sie damals erst sechzehneinhalb Jahre alt gewesen war. Das sind die Fakten, und sie sind unstreitig. Pauline ist die einzige Frau, für die je von der Staatsanwaltschaft, das heißt von der französischen Gesellschaft, wegen eines im Affekt begangenen Verbrechens die Todesstrafe gefordert wurde, ohne dass sich damals irgendjemand aufregte, nicht einmal Simone de Beauvoir, die in ihr doch ein schönes Beispiel für ein von Männern zerstörtes Frauenleben gefunden hätte.

Paulines Verbrechen nimmt einen winzigen Moment in ihrem Leben ein, die Zeit, um drei Revolverkugeln zu verschießen, kaum eine Minute. Man kann sie mit dem schöpferischen Augenblick vergleichen, dem geheimnisvollen Phänomen des künstlerischen Schaffens, derselbe Taumel, dieselbe plötzliche Inspiration, dasselbe Von-sich-selbst-Fortsein, um mit Stefan Zweig zu sprechen. Doch das Verbrechen ist kein Wunder der Kreativität, es ist eine Lücke in Paulines Leben, ein Riss, der sich in ihrem Dasein auftut, eine unendlich kurze und verdichtete Zeit.

Leider haben die Biografen Paulines Lebensgeschichte ganz auf diese Zeitspanne ausgerichtet; sie beschränken sich auf die Fakten, sie belasten und verurteilen Pauline ihrerseits. Ich glaube, das ist ein Verbrechen der Literatur, es sei denn, man nimmt es als Paradox hin, dass eine Biografie im Unterschied zum Roman am Leben vorbeischreibt. Paulines Geschichte darf, wie alle Geschichten, nicht nur an den Fakten entlang erzählt werden, sie muss das Verborgene ihres Lebens ergründen, nicht nur ihre Kindheit und ihre Träume, sondern das Verborgene der Kindheit und das Verborgene der Träume.

Die Zeit ihres Heranwachsens war eine verzweifelte Jagd nach Liebe, ausgelöst vom Verlust der beiden kurz hintereinander gefallenen älteren Brüder. Sie hegte nur eine Hoffnung: erlöst zu werden, von allem erlöst, von ihrer Kindheit, von der Eifersucht der anderen Mädchen, von der Böswilligkeit, Verachtung und Feigheit der Männer in einer Zeit, die von Krieg, Niederlage und Besatzung gekennzeichnet war. Der Krieg ist ein bestimmendes Element in Paulines Leben, prägend und zerstörerisch. Ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre Intelligenz, der historische Rahmen ihres Lebens zwischen dem Gespenst des Krieges ihrer Kindheit, 1914–1918, und der Realität des Krieges ihrer Mädchenjahre, 1939–1945, machen sie zu einer der wenigen Figuren in der Geschichte des Verbrechens, die eine mythische Dimension erlangen können. Was wären Iphigenie, Helena, Elektra, Klytemnästra und Penelope ohne den Trojanischen Krieg? Was wäre Iokaste ohne die Bedrohung durch die Sphinx, die Angst und Schrecken verbreitet?

Clouzot witterte bei Paulines Prozess diese Dimension sofort und wählte für die Hauptrolle seines Films mit dem gefährlichen Titel Die Wahrheit eine Schauspielerin, die im französischen Kino schon zu der Zeit einen Mythos verkörperte: Brigitte Bardot.

Doch Clouzot kam mit seinem Thema nicht zurecht. Während der schwierigen Arbeit am Drehbuch scheint er von anderen Ideen besessen gewesen zu sein, die ihn von seiner ursprünglichen Intention ablenkten, obwohl doch auch er bei der Befreiung nicht ungeschoren davongekommen war; man hatte ihn wegen Kollaboration angeklagt und mit lebenslänglichem Drehverbot belegt. Was kann es für einen Filmemacher Schlimmeres geben? Er schrieb das Drehbuch wieder und wieder um, bis er sich schließlich von seiner Frau Véra helfen ließ. Doch sie war weder Szenaristin noch Schriftstellerin, sondern Schauspielerin und auch nur unter der Regie ihres Mannes. Warum zog er all den großen Drehbuchautoren der Zeit ausgerechnet sie vor? Oder wollte er sich bloß mit einem weiblichen Koautor vor der eigenen Misogynie schützen, die dann doch wieder die Oberhand gewann?

Dass Clouzot in derselben Zeit, da Fellini La Dolce Vita (Das süße Leben) drehte, einen kunstlosen Film und aus Paulines Geschichte ein flaches Drama um weiblichen Narzissmus machte, ist nicht so schlimm. Schwieriger zu akzeptieren ist dagegen, dass er eine reale Geschichte verfilmte, ohne einen Gedanken daran zu verlieren, dass Pauline, die ihn dazu angeregt hatte, sich eines Tages im Kino Die Wahrheit ansehen könnte. Sie ist daran letztlich zerbrochen. Sie floh aus Frankreich und lebte unter falscher Identität in Marokko, in der Hoffnung, dem Unglück endlich zu entkommen. Mit dem Sadismus des Schicksals hat sie nicht gerechnet.

Hier beginnt das Buch.

ERSTES HEFT

Ich liebe die arabische Sprache. Was die marokkanischen Frauen unten auf der Straße sagen, verstehe ich nicht, so wenig wie ich die Sprache der Vögel verstand, als ich ein kleines Mädchen war und meinen Vater auf die Jagd begleiten musste; doch ihr Gesang beruhigte mich. Weil ich nicht wusste, wie ich meinem Vater dieses Phänomen erklären sollte, habe ich einmal zu ihm gesagt, dass die Vögel mit mir sprächen. Er erwiderte, ich hätte zu viel Phantasie, wie alle Mädchen, und die Phantasie sei eine Form der Lüge. Von diesem Tag an hörte ich den Gesang der Vögel nicht mehr.

Französisch zu lesen tröstet mich manchmal, aber ich habe es zu oft als Anklage oder Verurteilung hören müssen. Nur wenn ich es schreibe, kann in der Stille etwas in mir heilen.

Bisher beschränkte sich meine Erfahrung mit dem Schreiben wie bei fast allen Frauen auf Liebesbriefe, die man abschickt, ohne sie je wieder zu lesen, auf das geheime Tagebuch der Jugendzeit, das spurlos verschwunden ist, und auf Schulaufsätze. Ich erinnere mich insbesondere an einen Aufsatz, da war ich acht. Das Thema lautete: «Beschreibe die Person, die du am meisten bewunderst.» Ich hatte mir meinen Vater ausgesucht. Wegen eines Rechtschreibfehlers bekam ich nicht die beste Note; ich hatte das viele Male von mir verwendete Wort «héros» ohne h geschrieben. Der Aufsatz löste bei meiner Mutter, ihrer Freundin und Buchhändlerin Suzanne und meiner Lehrerin, die uns regelmäßig besuchte, Gelächter aus. Ich beobachtete sie im Wohnzimmer, wie sie kichernd, mein Heft in der Hand, Sätze daraus vorlasen und jedes Mal losprusteten, wenn ich das Wort «éros» geschrieben hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, der Grund für ihre Heiterkeit zu sein, ich dachte, die drei Frauen hätten sich gegen meinen Vater verschworen, gegen seine Tressen, die er als Oberst trug und sich in Verdun erworben hatte, auch wenn er darüber niemals sprach. Je bescheidener er zu diesen Kriegstaten schwieg, desto größer erschien mir sein Heldentum. Erst Jahre später konnte ich sein Schweigen anders deuten. Damals fand ich meine Mutter gemein, scheinheilig, eifersüchtig; ich war überzeugt, sie nahm mir übel, dass ich nicht sie zum unanfechtbaren Gegenstand meiner Bewunderung erkoren hatte. Dieses Missverständnis stand lange Zeit zwischen uns. Müsste ich diesen Aufsatz heute noch einmal schreiben, fiele er anders aus.

Nach neun Jahren Haft war ich mit meiner Mutter in eine Wohnung in der Rue du Dragon gezogen, die sie wegen ihrer Nähe zur medizinischen Fakultät gemietet hatte, in der ich mich wieder einschrieb.

Ich verdankte meine Freilassung allein der Hartnäckigkeit meines Anwalts Maître Baudet, eines ernsten Mannes mit dem Aussehen eines Jesuiten, der insgeheim die Poesie liebte, ohne die er mich nie hätte verteidigen können, nicht weil er mich für einen poetischen Fall hielt, aber er sagte mir einmal: «In der Dichtung finde ich eine andere Art, die Welt zu betrachten.» Niemand hatte mir je einen derartigen Satz gesagt, nicht einmal mein Vater, und ich wusste sofort, dass dieser spröde und ein wenig steife Mann mich niemals so sehen würde, wie mein Vater und die anderen Männer mich ansahen.

Meine Mutter wollte nicht, dass ich mir den Film mit Brigitte Bardot anschaute, und erfand alle möglichen Gründe, um mich daran zu hindern. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Die Wahrheit, wenn sie ins Kino kam, die Anonymität aufheben würde, in die ich mich durch einen geänderten Vornamen hatte flüchten können. Ich nannte mich Andrée. Ich hatte den Vornamen meines Vaters angenommen. Trotzdem wurde ich von den Journalisten sehr schnell ausfindig gemacht, manche passten mich sogar, unter dem Vorwand, meine Meinung über den Film hören zu wollen, am Eingang der medizinischen Fakultät in der Rue des Saints-Pères ab, ohne zu bedenken, wie verheerend sich diese Aufdringlichkeit auf meine Umgebung auswirken könnte.

Niemand in der Fakultät wusste, wer ich bin, auch wenn alle sich für diese Studentin interessierten, die mit einunddreißig ihr Studium im vierten Jahr wieder aufnahm. Ich ging sofort nach den Vorlesungen nach Hause, den Blick aufs Pflaster geheftet, vor lauter Angst, erkannt und beschimpft zu werden (das kam zweimal vor). Manchmal, selten, erlaubte ich mir, auf der Terrasse des Bonaparte einen Kaffee zu trinken.

Eines Tages begegnete ich dem Blick eines jungen Mannes; er musste um die achtzehn sein, vielleicht jünger. Er war groß und schlank. Er erinnerte mich an Félix. Alle jungen Männer, denen ich begegnete, erinnerten mich an ihn. Ein Schilfrohr mit fiebrigem Blick, so wirkte er. Er hatte mich erkannt, ich habe es an seinen Augen gesehen. Aber es war das erste Mal, dass ein wohlwollender Blick auf mir lag, ein wenig ungeschickt, ein wenig schüchtern, der Blick eines jungen Mannes, der noch alles von der Zukunft erwartet und nicht weiß, wie sie beschaffen sein wird. Ich glaube, er war verlegener als ich.

Patrick. So riefen ihn seine beiden Freunde. Ich meinte zu verstehen, dass er der Sohn einer Schauspielerin war. Ich lauschte unauffällig. Es gefiel mir, was sie sagten, diese leidenschaftlichen jungen Leute. Sie sprachen von nichts anderem als von Schönheit, sie stritten für die Idee der Schönheit und stellten sie der Politik, der Geschichte und den ständigen Lügen der Welt gegenüber. Die Welt ist etwas Wunderbares, dachte ich beim Zuhören.

Das Schilfrohr musste im Viertel wohnen, denn ich traf ihn erneut auf der Straße, und wir lächelten einander zu. Nur das. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass ein Lächeln die Tage, meine Tage verändert – bis zum nächsten feindseligen Blick. Das ist schon viel.

Je standhafter ich mich weigerte, den Film mit der Bardot anzusehen, desto mehr verfolgte er mich, sogar bis auf die Straße, wo überall Plakate klebten. Ich hatte das Gefühl, dass alle Welt Zugang zu meinem Leben hatte außer mir. Dann entschloss ich mich doch. Ohne meiner Mutter etwas davon zu sagen, ging ich in Die Wahrheit. Der Titel ließ mich erbeben.

Ich huschte in den dunklen Saal des Kinos Saint-André-des-Arts. Der Film fing gerade an. Mit dem schönen Gesicht Brigitte Bardots, so hoffte ich, würde tatsächlich die Wahrheit gehört, nicht die Wahrheit, die entlastet, wohl aber diejenige, die nicht für immer verdammt. Die Bardot war schön (sie ist es immer noch), schöner als ich (ich bin erloschen), obwohl ich nicht hässlich bin. Es hieß sogar, ich sei recht hübsch, trotz meiner roten Haare. Ich weiß nicht, warum ich schreibe «trotz», ich habe meine Rita-Hayworth-Mähne, wie Félix sie nannte, immer gemocht, auch wenn ich die Haare heute kurz trage. Meine Haare haben ebenfalls eine Geschichte. Außerdem dachte ich, die Bardot und ich hätten noch andere Gemeinsamkeiten, nach dem Eifer zu urteilen, mit dem die Zeitungen sie fertigmachen wollten. Auch ich hatte am Eingang des Justizpalasts die Bisse der Fotoapparate im Gesicht gespürt, und ich wusste schon lange, dass sich die Menge in eine reißende, johlende Bestie verwandeln kann, wenn ihr vorgesetzt wird, was sie empört, was sie erregt oder erschreckt. Ich hatte über die Bardot gelesen, dass sie diesen Rummel um ihre Person nicht gesucht habe, dass sie gern wie alle anderen Frauen gewesen wäre und die Journalisten anflehte, sie in Ruhe zu lassen. Verbrecher wünschen sich das ebenfalls.

Niemand hatte für diesen Film meine Familie oder auch nur meinen Anwalt befragt und schon gar nicht mich. Ein Drehbuch über meine Geschichte kam mir umso unwahrscheinlicher vor, als ich bisher überhaupt nichts von der Wahrheit gesagt hatte, nicht einmal bei meinem Prozess; niemand außer mir wusste, was in der Nacht des Verbrechens vorgegangen war.

Ich fürchtete mich nur vor der Szene des Selbstmords meines Vaters am Tag nach meiner Verhaftung. Ich konnte mir vorstellen, dass es schwierig war, einen Mann zu zeigen, der sich mit Gas tötet und dabei darauf achtet, niemanden in Gefahr zu bringen; er hatte einen Gummischlauch vom Warmwasserboiler in seinen Mund geführt. Ich hoffte, der Regisseur würde zeigen, in welche Verzweiflung sein Tod mich gestürzt hatte, eine so tiefe Verzweiflung, dass ich auch nicht mehr leben wollte. Ich dachte da noch, ich sei für seinen Tod verantwortlich.

Aus Cinémonde und Paris Match hatte ich erfahren, dass der Film hauptsächlich von meiner Tat und dem Prozess handelte. Ich hätte aufs Schlimmste gefasst sein müssen, als ich entdeckte, dass eine der Drehbuchautorinnen des Films die Assistentin von Maître Floriot war, dem Anwalt der Nebenkläger, der mich im Prozess die ganze Zeit unter Beschuss genommen hatte – vielleicht auch, weil ich es abgelehnt hatte, von ihm verteidigt zu werden. Selbst in der Welt der Justiz kommt es nicht alle Tage vor, dass eine Einundzwanzigjährige verurteilt wird, weil sie aus nächster Nähe ihren Exverlobten erschossen hat; so lautete die Beschreibung meines Verbrechens.

Ich gebe auch zu, dass ich einen gewissen Stolz bei der Vorstellung empfand, an meiner Stelle Brigitte Bardot im Spiegel zu sehen. Véronique, eine ehemalige Mitgefangene, mit der ich immer noch befreundet bin, hatte mir gesagt, eine Leinwand sei kein Spiegel. Trotzdem ist der Spiegel zersprungen. Mein Vater wird im Film auf eine unbedeutende Figur reduziert, einen müden, schwachen Mann, den Durchschnittsfranzosen mit der Fratze des Verräters oder Denunzianten; er stirbt ganz plötzlich, noch bevor die Heldin ihr Verbrechen verübt. Die Einzige, die sich in diesem Film umbringt, bin ich, ganz am Schluss. Ich habe mich in einem Gesicht und in einem Körper sterben sehen, die mir nicht gehören. Und doch besteht kein Zweifel, dass es um mich geht, auch wenn die Heldin nicht Pauline, sondern Dominique heißt, auch wenn sie blond ist und ich rothaarig bin. Niemand kann sich vorstellen, was ich empfunden habe, als ich mich in Großaufnahme auf der Leinwand als Tote sah, denn in der Gestalt Brigitte Bardots erkannte ich mich. Ich war so naiv gewesen zu glauben, im Unterschied zur Justiz werde der Film mich als Person wahrnehmen. Es war viel schlimmer. Der Regisseur hatte den Traum meiner Richter verwirklicht, mich zu vernichten. Letzten Endes habe ich in neun Jahren Haft weniger gelitten als in den anderthalb Stunden im dunklen Kinosaal.

Ohne diesen Film wäre ich niemals aus Frankreich weggegangen. Das Land zu verlassen, in dem mein Vater begraben war, machte mir zunächst Angst, es war eine höllische, verzweifelte Flucht in der Hoffnung, in einem anderen Land dem Schicksal zu entgehen, das mich ständig im Blick hatte wie das Auge hinter dem Objektiv eines Fotoapparats, das seine Beute nicht entkommen lässt.

Heute preise ich jeden Tag den Film dafür, dass er mich zum Weggehen bewegt hat, denn hier in Essaouira habe ich das Gefühl, wieder zu leben.

Ich muss aufrichtig sein. Der Film war nicht der einzige Grund, warum ich weggegangen bin. Einige Tage zuvor schob ich mich mit meiner Mutter durch die überfüllten Gänge der Haushaltsmesse, in die sie mich geschleppt hatte, und sah fassungslos die vielen Frauen, die sich für Elektrogeräte begeisterten. Ich hatte gedacht, die Frauen seien freier, unabhängiger geworden, und erkannte, wie sehr sie weiterhin in der Vorstellung von Familie verhaftet waren.

Meine Mutter fühlte sich in diesem den Hausfrauen gewidmeten Tempel offensichtlich in ihrem Element. Am meisten beeindruckten sie das Fernsehen und die hübschen Sprecherinnen, diese absoluten Vorbilder der modernen Frau, vor allem Catherine Langeais, die sie für ihre Eleganz, ihre ruhige Stimme, ihr strahlendes Lächeln und ihre tadellosen Frisuren bewunderte. Meine Mutter war von einer kindlichen Neugier, die mich zuerst belustigte; sie interessierte sich für alles, was sie sah, besonders für jenes kleine Bataillon perfekter Ehefrauen, die um den Titel «Fee des trauten Heims» wetteiferten. Alles begeisterte sie.

Sie machte mich auf die Bräute aufmerksam, die noch keinen Ehering, sondern einen schlichten Saphir am Ringfinger trugen. Die Mädchen, viel jünger als ich, leicht toupiert, stolzierten am Arm ihrer Verlobten durch die Gänge und versuchten herauszufinden, ob ihre Zukünftigen bereit waren, sich zu verschulden, um ihnen all den modernen Komfort zu bieten. Diese jungen Paare gefielen meiner Mutter. Mich befremdeten sie ein wenig. Sie fand die Mädchen immer entzückender. Ich fand sie immer unfreier. Die jungen Männer mit ihren Keilhosen und ihren zu engen Popelinejacken wiederum fand sie zunehmend unmännlich. Ich fand sie zunehmend tröstlich. Aber ich hütete mich, meine Meinung zu äußern.

Schließlich zeigte sie lebhaftes Interesse an der Vorführung einer Waschmaschine durch eine bezaubernde blonde Hostess mit blauen Augen, die in geblümtem, steifem Kleid auf einem Podium stand und eine amerikanische Zigarette mit goldenem Mundstück rauchte, während sie darauf wartete, dass die Wäsche fertig wurde. Ich ahnte nicht, was dieses Bild in ihr auslösen sollte, nachdem wir hinausgegangen waren, um in der Bar des Claridge, wohin ich sie eingeladen hatte, einen Eiskaffee zu trinken. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich Zeit nahm, ihren Gedanken zu formulieren. Sie löffelte etwas Schlagsahne von ihrem Kaffee und hielt inne. Sie frage sich, was die jungen Frauen wohl mit all der freien Zeit anfingen, denn sie zweifle nicht daran, dass die modernen jungen Frauen der Versuchung all dieser Elektrogeräte erliegen würden. «Die Versuchung», sagte sie, «ist ja eine biblische Geschichte bei den Frauen, und natürlich wissen das die Werbeleute!»

Sie amüsierte mich, und ich versuchte, ihr zu erklären, dass vor allem die Emanzipation den Frauen erlaube, außerhalb des Hauses zu arbeiten, und diesen nicht unerheblichen Fortschritt hätten wir Frauen ja weit mehr Moulinex und Electrolux zu verdanken als Simone de Beauvoir. Doch sie hatte keinen Sinn für meinen Humor, und ihre Gedanken, wie die der Frauen in Balzacs Philosophie des Ehelebens, die ich gerade noch einmal gelesen habe, kreisten plötzlich nur noch um all die neuen Dinge.

Nach einer Pause fügte sie hinzu: «Das wolltest du doch immer, außer Haus arbeiten.»

Weder verblüfft noch eigentlich überrascht, wartete ich darauf, dass sie mir das erklärte, doch das Gespräch schweifte zu meinem Vater und der Erziehung, die er mir hatte angedeihen lassen. Ich sah, wie sie in einem Abgrund versank, während sie mit dem Kaffeelöffel einen Strudel in ihrer Tasse erzeugte, in der kein Gramm Schlagsahne übrig war. Ich erinnere mich, erwidert zu haben, mein Vater hätte sicher gewollt, dass ich eine unabhängige Frau werde. Sie antwortete lediglich: «Mit unabhängigen Frauen konnte er nichts anfangen …»

Unbewusst hatte sie an den dunklen Teil meiner Geschichte gerührt, und offenbar setzte sie sich seit Langem mit etwas auseinander, was für sie weit mehr eine Abnormität als ein Rätsel zu sein schien. Jetzt, da ich mit meiner Mutter allein war, und nach den Jahren der Haft zerbrach zum ersten Mal etwas in meinem Verhältnis zum Vater, auch wenn ich mir noch lange nicht vorstellen konnte, worauf meine Mutter mit dieser Geschichte von den modernen Frauen hinauswollte.

«Gib zu», sagte sie, «du hättest nie in Betracht gezogen, dich um einen Haushalt zu kümmern, auch wenn du geheiratet hättest.»

Mit der Erwähnung des Heiratens spielte sie auf Félix an, von dem wir nie gesprochen hatten, nicht einmal bei ihren Besuchen im Gefängnis. Ich spürte, dass ich die Dinge so schnell wie möglich klarstellen musste, als sie, noch bevor ich antworten konnte, ihren Gedanken zu Ende führte.

«Du siehst ja, wohin dich das gebracht hat.»

Eine Ohrfeige wäre mir lieber gewesen. Sie hatte es geschafft, zwischen der freien Zeit der modernen Frau und meinem Verbrechen einen Zusammenhang herzustellen. Sie war überzeugt, dass Frauen, die sich selbst überlassen sind, so wie ich es ihrer Ansicht nach gewesen war, und die sich allerlei Gedanken machen, während sie ihre Zigaretten rauchen, so wie ich meine Royales rauchte, dass solche Frauen Gefahr liefen, ihren niedrigsten Instinkten zu folgen und kriminell zu werden, in etwa so wie die Bardot im Film eben. Bis dahin hatte ich nie das Gefühl gehabt, dass sie mir Vorwürfe machte, aber nun war im Zittern ihrer Stimme ein Zorn auf mich zu spüren, den sie all die Jahre bezähmt hatte. Vielleicht war es auch der Film, der die Dämonen einer untadeligen Frau und gekränkten Mutter in ihr weckte, nachdem sie all die Jahre klaglos mitgespielt hatte, ohne je über mich zu richten.

Als ich meine Tränen hinuntergeschluckt hatte, merkte ich, wie meine Mutter auf ihrem Stuhl ganz klein wurde, sich ihrer Grausamkeit schämte. Da empfand ich unendliche Zärtlichkeit für sie. Ich erkannte, in welchem Ausmaß sie fähig gewesen war, von ihrer Moral und ihrem Mutterschmerz abzusehen, als sie versuchte, mich zu retten. Im Grunde zürnte sie mehr meinem Vater als mir. Trotzdem spürte ich, dass es Zeit war zu gehen, Abstand zu all dem zu gewinnen, zu meiner Geschichte, zu meinem Verbrechen, zu meiner Familie, zu ihr und sogar zu meiner Muttersprache, die mich am Ende immer verurteilte. Ein paar Tage später bestärkte mich der Film in dieser Überzeugung.

Am Tag meiner Ankunft in Essaouira zog ich in das Haus mit den weißen Wänden und den blauen Läden, in dem ich noch heute lebe. Ich nahm es in Besitz. «Besitz» ist das richtige Wort, ohne dass ich weiß, ob ich dieses Haus besitze oder ob es mich besitzt. Es herrscht vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Stein und meinem Körper, zwischen dem Mittelpunkt des Hauses und meinem Herzen, zwischen seinem Schatten und meinem Innersten – genau das Gegenteil vom Gefängnis, wo es nur Trennung gibt zwischen Mauern und Körpern. In zwei Jahren habe ich nie das Bedürfnis verspürt, die Einrichtung zu verändern. Kein Luxus, nur das Wesentliche. Ich kam mit einem Koffer hier an, heute habe ich nicht viel mehr, abgesehen von einem Plattenspieler, Langspielplatten, der Aufnahme des Mozart-Requiems von Karl Richter, die Véronique mir gerade geschenkt hat, und ein paar Büchern, Die menschliche Komödie, die ich im Gefängnis noch einmal ganz gelesen habe, Verbrechen und Strafe, das einzige Buch, das ich gestohlen habe, als ich La Petite Roquette verließ, und Lettera amorosa