Umschlag

Fabian Marcher, 1979 in Tegernsee geboren, ist gelernter Buchhändler und arbeitet als freier Autor. Zusammen mit seiner Frau Julia Lorenzer hat er im Emons Verlag bereits das Buch »111 Orte in Rosenheim und im Inntal, die man gesehen haben muss« veröffentlicht. Die beiden leben in Oberbayern und in Italien.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: schiffner/photocase.de
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-202-1
Oberbayern Krimi
Originalausgabe

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Woher kommt unser Leid? Es kommt daher,
dass wir Angst hatten zu reden.
Es wurde in Augenblicken geboren,
als sich Dinge in uns aufstauten,
über die wir vorzogen zu schweigen.

Gaston Bachelard

 

 

Die Zeitenfolge ist trügerisch.
Die Menschen fürchten
die Vergangenheit, die kommen kann.

Stanislaw Jerzy Lec

Prolog

Kriminalhauptkommissarin Tamara Stahl seufzte und ließ den Blick über die Berge von Papier auf ihrem Schreibtisch schweifen. Akten, Notizzettel, Verhörprotokolle, Zeitungsausschnitte – dazwischen die Fotos vom Fundort der Leiche und vom wahrscheinlichen Tatort. Anfangs hatte die Sache noch wie eine ganz normale Ermittlung gewirkt, doch schon im Laufe des ersten Tages war der Fall zu einem unübersichtlichen Gewirr unterschiedlicher Geschichten angewachsen, das sich jetzt auf ihrem Arbeitsplatz im Kommissariat in Rosenheim stapelte.

Tamara Stahl fuhr sich mit der rechten Hand durch das kurze blonde Haar und kniff die Augen zusammen. Um wie viele Tote ging es eigentlich inzwischen? Musste man den Alten mitrechnen, der friedlich in seinem Bett gestorben war? Dazu kamen noch mehrere Einbrüche in ein und dasselbe Haus. Was hatte es mit diesem alten Buch auf sich? Und war das Herzmedikament, das der junge Historiker gefunden hatte, von Bedeutung? Überhaupt, warum war dieser Mann anscheinend an allem beteiligt, was sich in letzter Zeit an seltsamen Dingen in dem kleinen, verschlafenen Nest im Inntal abgespielt hatte – obwohl er nach eigener Aussage in München wohnte und erst vor wenigen Tagen in Oberaudorf eingetroffen war? So naiv, wie er tat, konnte der doch nicht sein! Gut möglich, dass seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nur Fassade waren. Doch damit würde er bei ihr nicht durchkommen.

»Und jetzt erklären Sie mir mal, was jemand wie Sie in Oberaudorf sucht«, sagte die Kriminalhauptkommissarin, nachdem sie die Augen wieder geöffnet hatte. Aus ihrer schneidenden Stimme war der Zorn über das Durcheinander, mit dem sie bei dieser Ermittlung konfrontiert wurde, deutlich herauszuhören. Und Lorenz Kastner, der zerknirscht und nervös auf dem viel unbequemeren Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches saß, war an diesem Durcheinander alles andere als unbeteiligt, das stand bereits fest.

Tamara Stahl sah ihr Gegenüber durchdringend an. »Und bilden Sie sich bloß nicht ein«, fügte sie mit Nachdruck hinzu, »dass Sie mir Märchen auftischen können. Ich will die Wahrheit hören. Die ganze Wahrheit.«

Erster Teil

1

Den ganzen Tag lang war es warm – der erste sommerliche Tag im Jahr, und dann gleich so eine schwüle Hitze, die das Atmen schwer machte. Am Vormittag wurde der Aufstieg zum Brünnsteingipfel noch mit einer großartigen Aussicht belohnt. Weit in die Alpen hinein konnte man blicken, dorthin, wo die Berge fast das ganze Jahr über mit Schnee bedeckt waren und strahlend weiß leuchteten. Unten floss der Inn, der an dieser Stelle die Grenze zu Österreich markierte, grün und sanft dahin. Nur diejenigen, die den Fluss auf der hölzernen Fußgängerbrücke bei Urfahrn überqueren wollten, konnten, direkt über den Wassermassen stehend, die Kraft des längst gezähmten Stromes spüren, der im Frühsommer Unmengen von Schmelzwasser aus den Bergen Österreichs und der Schweiz mitbrachte.

Am Nachmittag trübte sich die Sicht langsam ein, die Hitze wurde drückend. Die, die jetzt vom Berg kamen, hatten rote Köpfe und schwitzten gehörig. Stunde um Stunde türmten sich Wolken auf, erst in der Ferne, dann immer näher, sodass sich über die kleine, zwischen Felswänden, Bergen und Fluss eingezwängte Ortschaft Oberaudorf immer wieder für einige Minuten Wolkenschatten legten.

Bei Sonnenuntergang kam der Wind. Das Wasser des Luegsteinsees kräuselte sich mit jeder Böe, die über die Hausdächer und durch das Tal fegte, und bildete dann bis zum nächsten Windstoß wieder eine glatte Oberfläche, in der sich die bedrohlichen Wolkenformationen des Abendhimmels spiegelten. Hinter dem kleinen See begann der Wald. Einige Wanderpfade führten zwischen den Bäumen hindurch zur Luegsteinwand hinauf, doch in diesem Moment, bei Einbruch der Dunkelheit und aufziehendem Gewitter, war es nicht ratsam, dort herumzulaufen.

Der junge Mann, dessen Stirnlampe immer wieder zwischen den Baumstämmen aufblitzte, schien sich darum nicht zu kümmern. Er marschierte zügig und ohne Pause, wie jemand, der sich auf vertrautem Terrain bewegt. Doch er atmete schwer – immerhin ging es steil zur Felswand hinauf – und konzentrierte sich, um nicht über eine Baumwurzel zu stolpern oder nach einem Fehltritt den Abhang hinabzurutschen.

Ein Blitz zuckte, gefolgt von langsam anschwellendem Donnergrollen. Der Mann hielt kurz inne und blickte auf. Oben, in der Luegsteinwand, gähnte ein großes tiefschwarzes Loch. Eine schmale hölzerne Leiter führte zur Höhle hinauf.

»Lena! Bist du da?« Er wartete einen Moment und lauschte, doch auf seinen Ruf folgte keine Antwort.

Schließlich setzte sich der Wanderer wieder in Bewegung. Die ersten Regentropfen fielen. Es war nicht mehr weit.

2

Lorenz Kastner sprang erschrocken zur Seite. Er drückte sich an die Felswand, als der Krankenwagen, dessen Martinshorn vor wenigen Sekunden noch sehr weit entfernt geklungen hatte, in halsbrecherischer Geschwindigkeit vorbeirauschte und hinter der nächsten Kurve verschwand. Die Straße glänzte an diesem Morgen vom nächtlichen Gewitterregen, der Wagen hinterließ eine Wolke aus feinen Wassertropfen, die noch in der Luft lag, als er schon längst nicht mehr zu hören war.

Lorenz löste sich von der Wand und blickte sich – in der Hoffnung, dass ihn niemand bei seinem wenig heldenhaften Manöver beobachtet haben möge – verstohlen um.

Glücklicherweise war keine Menschenseele zu sehen, doch was sich hinter den Gardinen der wenigen Häuser abspielte, die sich hier an die zu beiden Seiten steil aufragenden Felsen schmiegten und dabei gerade noch genug Platz für die gewundene Hauptstraße ließen, konnte er nur ahnen. Egal – es gab Wichtigeres, worum er sich kümmern musste. Entschlossen packte der junge Mann den Griff des kleinen Rollkoffers und setzte seinen Weg fort.

Doch schon nach wenigen Schritten hielt Lorenz Kastner wieder inne und blickte etwas ungläubig auf den Schriftzug, der ihm soeben ins Auge gefallen war: »Heimatmuseum« stand da in großen, ehemals roten und nun ziemlich verwaschenen Lettern. Danach hatte er gesucht – aber hier? Das konnte doch nicht sein!

Genau an der engsten Stelle der Straße spannte sich ein imposanter Torbogen. Lorenz Kastners geübter Blick erkannte sofort den mittelalterlichen Ursprung der Konstruktion an diesem Ort, der bestimmt schon vor Jahrhunderten von strategischer Bedeutung gewesen war. Über dem Bogen befand sich ein Aufbau von mindestens zwei Stockwerken mit kleinen quadratischen Fenstern in einer Fassade, die deutliche Spuren von den Abgasen der unzähligen Autos trug, die tagtäglich hier hindurchfuhren. Auf ihr waren die Buchstaben angebracht, die auf das Museum hinwiesen. Lorenz’ Blick wanderte die Felswand zu seiner Linken hinauf, die an dieser Stelle schätzungsweise fünfzig Meter beinahe senkrecht aufragte. Dort oben mussten sich die Reste der alten Auerburg befinden. Immerhin hätte er es nicht weit zu seinem Forschungsobjekt.

Lorenz Kastner schrak erneut zusammen. Ohrenbetäubend laut hallte die Sirene des Polizeiwagens zwischen den Felsen wider. Nur eine Sekunde lang ertönte sie, wahrscheinlich um eventuellen Gegenverkehr auf der schmalen, kurvigen Straße zu warnen. Wieder sprang Lorenz zur Seite, und so schnell, wie er gekommen war, war der Wagen auch schon durch das Tor gerauscht und dahinter verschwunden.

3

»Es ist nicht besonders groß, das weiß ich. Aber es ist alles da, was man braucht.«

Die rundliche Frau Anfang fünfzig hatte Lorenz, nachdem er an der Tür zum Heimatmuseum geklingelt hatte, freundlich begrüßt und sich als Maria Moratschek vom Förderverein des Museums vorgestellt. Lorenz solle einfach »Maria« zu ihr sagen. Sie stieg mit ihm eine enge und steile Wendeltreppe hinauf und zeigte ihm seine Unterkunft für die nächste Zeit. Die Frau wirkte etwas nervös. »Ich hab gestern extra noch mal gewischt … und ordentlich gelüftet. War ja schon länger niemand herinnen, wissen S’.«

Lorenz nickte höflich lächelnd, während er sich dazu gratulierte, nur einen sehr kleinen Koffer mitgebracht zu haben. Hätte er ein größeres Gepäckstück in das winzige Zimmer gestellt, wäre kein Platz mehr für ihn selbst gewesen. Ein betagtes Bettgestell aus dunklem Holz nahm den meisten Raum ein, daneben befand sich ein Nachttisch, auf dem Maria eine Vase mit frischen Schnittblumen platziert hatte. Offensichtlich ein verzweifelter Versuch, der düsteren Kammer im obersten Stockwerk des Torgebäudes eine etwas freundlichere Atmosphäre zu verleihen. Ein Kleiderschrank – auch dieser aus beinahe schwarzem Holz mit spärlichen Verzierungen – stand an der gegenüberliegenden Wand, sodass nur ein schmaler Durchgang zu dem kleinen quadratischen Fenster blieb, unter das noch ein schlichter Tisch und ein Stuhl in Kindergröße gezwängt worden waren. Als ein Kleinlaster unter dem Fußboden durch das Tor fuhr, erzitterten die Wände. So weit, so gut, dachte Lorenz und stieß einen kaum hörbaren Seufzer aus. Aber da fehlte doch noch 

»Und das Bad wäre dann … also …« Maria kratzte sich verlegen am Kopf, als wäre das Badezimmer irgendwo in ihrer üppigen Dauerwelle verloren gegangen. »Wenn Sie hier«, sie deutete vor die Zimmertür, »den Gang weitergehen, geradeaus durch die oberen Ausstellungsräume, dann finden Sie ganz hinten … äh … also, auf der linken Seite, eine Tür. Da ist das Bad. Und die Toilette.«

Lorenz zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Maria lächelte ihn ziemlich angestrengt an, so als hoffte sie, ihn mit ihrer intensiven Fröhlichkeit anzustecken.

»Sie werden sich ganz schnell daran gewöhnen. Es ist ja nicht weit. Und keine Angst, im Haus ist meistens nicht viel los. Das ist zwar schade für uns vom Förderverein, aber dafür können Sie hier bestimmt ganz ungestört arbeiten. Ach ja, und wenn wir nachts den Strom für die Ausstellungsräume abgestellt haben und Sie noch mal, äh …«, wieder fuhr Marias Hand nervös in die Dauerwelle, »rausmüssen, dann nehmen Sie am besten die hier mit.«

Sie zog die oberste Schublade des Nachtkästchens auf, in der eine Taschenlampe von der Größe eines Nudelholzes umherrollte. Maria hatte wirklich an alles gedacht.

4

Im Audorfer Hof war noch nicht viel los. Erst zur Mittagszeit würden die ersten Ausflügler zum Essen kommen und am frühen Abend dann die hungrigen Wanderer, die, nachdem sich das Gewitter der Nacht verzogen hatte, heute auf beste Bedingungen hoffen durften.

Kathi, die Bedienung, bekleidet mit rosa Dirndl und hellblauer Schürze, wischte in Ruhe die leeren Tische des Gastraumes ab. Nur ganz hinten in einer holzgetäfelten Ecke saßen zwei frühe Wirtshausbesucher. Der Hirschreiter Sepp und der Plenzinger Toni belegten diese Plätze so gut wie immer, sodass Kathi sie kaum noch wahrnahm und nur darauf achtete, den beiden regelmäßig ein frisches Weißbier vor die Nase zu stellen.

»Do host ja drauf wart’n kenna, dass des amoi kracht«, brummte der Hirschreiter Sepp in seinen grauen Schnurrbart. »Kimmt aus Amerika z’ruck und moant, er ko si glei wieda aufspuin!«

»Des war doch beim Markus oiwei scho so. Den hod no nia interessiert, dass’s a no andere Leit gibt auf dera Weit. Aber da Schorschi hod’s eam gestern zoagt, moan i.« Mit diesen Worten nahm der Plenzinger Toni einen ordentlichen Schluck Bier. »Und recht hoda!«, fügte er bestimmt hinzu, als er das Glas geräuschvoll wieder auf den Tisch stellte.

»Sowieso. Da Markus is wegganga, und dann hod die Lena an Schorschi g’heirat. Und jetz dad der feine Herr aus Amerika wieda daherkemma und um d’ Lena umananda doa und verzein, dass er sie oiwei no vui besser kennt. Koa Wunder, wenn da Schorschi durchdraht.«

Die beiden Männer schwiegen eine Weile und starrten gedankenverloren abwechselnd auf die karierte Tischdecke und in ihre Biergläser. Dann rückte der Hirschreiter Sepp mit einer kurzen Handbewegung seinen Trachtenhut zurecht. »Gestern is ja no nix g’wes’n. A bisserl g’rafft ham s’ hoid. Aber wenn der Schorschi wirklich durchdraht«, brummte er mit düsterer Miene, »dann kannt a Unglück passier’n.«

5

»Ihre Doktorarbeit führt Sie also aus München zu uns nach Oberaudorf?« Maria wollte Lorenz noch nicht allein lassen.

Der hatte gerade den Weg zur Museumstoilette, die für die nächsten Tage sein Badezimmer sein sollte, erkundet und schlenderte jetzt mit mäßigem Interesse durch die Ausstellungsräume, wobei er hier und da stehen blieb, um die Beschreibung eines Exponats zu überfliegen. »Ja.« Er deutete Richtung Decke. »Die Auerburg – oder besser gesagt das, was davon übrig ist – ist mein Forschungsobjekt.«

»Das ist ja spannend! Mein Mann und ich, wir haben einen Sohn, wissen S’? Ich hab auch immer gedacht, dass der vielleicht einmal in München studiert. Aber jetzt, wo er sein Abitur hat, will er nicht. Der Klausi weiß überhaupt noch nicht, was er eigentlich will. Die jungen Leute haben heutzutage ja alle Möglichkeiten … Das macht’s aber nicht unbedingt einfacher, wenn S’ mich fragen.«

»Mmhm«, brummte Lorenz, der jetzt vor einem Schlitten aus dem 19. Jahrhundert stand, mit dem laut Beschreibung früher Holz aus dem Wald transportiert worden war.

»Oben auf dem Schlossberg haben ja schon früher Ausgrabungen stattgefunden«, wechselte Maria wieder das Thema. »Das muss ungefähr … fünfzehn Jahre her sein. Wollen Sie denn auch wieder graben, Herr Kastner?«

»Bitte?« Lorenz war ganz vertieft in die Betrachtung des ungewöhnlichen Schlittens gewesen. »Nein, ich … ich grabe nicht. Ich bin Historiker, kein Archäologe.«

»Ah.« Maria schien ein klein wenig enttäuscht.

»Ich werde die Abstände der einzelnen Mauerreste noch einmal vermessen und kartieren, um eine Theorie zum mittelalterlichen Festungsbau zu überprüfen, die Prof. Dr. Beckstein – mein Doktorvater an der Universität München – seit einiger Zeit vertritt. Dabei geht es um –« Lorenz unterbrach sich, und Maria schien darüber nicht besonders enttäuscht. »Da fällt mir ein«, fuhr er kurz darauf wieder fort, »meine Vermessungsgeräte soll ich bei einer gewissen Frau …« Er kramte in seiner Hosentasche nach einem Zettel. Als er ihn gefunden hatte, faltete er ihn umständlich auseinander und las: »… Frau Leitner abholen. In der Gemeindeverwaltung. Die Universität hat sie per Kurierdienst dorthin geschickt, weil ich ja noch keine Adresse in Oberaudorf hatte.«

»Die Gemeindeverwaltung ist direkt am Marktplatz. Sie müssen einfach die Hauptstraße runtergehen, so wie Sie gekommen sind.«

Plötzlich schepperte es in kurzen Abständen blechern. Offensichtlich klingelte jemand hektisch unten an der Museumstür.

»So was, heute haben wir doch gar nicht geöffnet. Und dann klingelt’s gleich zweimal – erst Sie und jetzt noch jemand«, redete Maria vor sich hin, während die Klingel immer wieder schepperte und sie, so schnell es ihr möglich war, die enge Wendeltreppe hinunterstieg.

Lorenz folgte ihr. Er wollte sowieso gleich zur Gemeindeverwaltung, um diese Frau Leitner zu treffen und seine Instrumente zu holen.

Vor der Tür stand eine sichtlich aufgeregte Frau, etwa in Marias Alter, jedoch etwas schlanker und ohne Dauerwelle. Sie trug eine gelbe Schürze mit der Aufschrift: »Bäckerei Huber – Frisches aus Oberaudorf!«

»Anneliese! Was ist denn los?«, fragte Maria.

»Stell dir vor«, Anneliese war so aufgeregt, dass sie sich sichtlich konzentrieren musste, um ein Wort nach dem anderen zu artikulieren, »beim Grafenloch ist heut Nacht einer abgestürzt! Er ist tot, ham s’ g’sagt! Und weißt, wer’s g’wes’n ist?« Kurz war sie still und sah Maria und Lorenz nacheinander fragend an, als könnten die beiden tatsächlich wissen, wer der Unglückliche war. Dann brach es aus ihr heraus: »Der Bichler Markus, ham s’ g’sagt. Tot soll er sein, stell dir vor!«

6

Während er zum Marktplatz ging, war Lorenz Kastner in Gedanken versunken. Eine seltsame Ankunft hatte er da gerade erlebt. Erst die Überraschung, dass sich sein Zimmer in einem uralten Torhaus befand, unter dem eine viel befahrene Straße hindurchführte und in dem er, wenn er nachts auf die Toilette wollte, mit einer Taschenlampe herumirren müsste. Und dann dieses Unglück, von dem Anneliese, die Bäckereifachverkäuferin, gerade berichtet hatte. Ein verrückter Tag – und er hatte doch gerade erst begonnen!

Lorenz hatte noch mitbekommen, dass der Verunglückte namens Markus Bichler ein gebürtiger Oberaudorfer war, der die vergangenen Jahre hauptsächlich in Amerika verbracht hatte. Seit er aus beruflichen Gründen weggezogen sei, habe man ihn nicht mehr oft hier gesehen, hatte Maria gesagt. Vor einigen Wochen jedoch war sein Vater, Alfons Bichler, gestorben, der zuletzt allein in seinem Haus im Ort gelebt hatte. Markus Bichler war zurückgekommen, wahrscheinlich um die Erbangelegenheiten zu regeln und das Haus in Augenschein zu nehmen.

Anneliese und Maria hatten immer noch aufgeregt geredet, als Lorenz in Richtung Marktplatz aufgebrochen war. Obwohl er keinen der Beteiligten kannte, ging ihm die Geschichte so schnell nicht aus dem Kopf. Beim Grafenloch sei Markus Bichler abgestürzt, hatte Anneliese erzählt. Von dieser Höhle hatte Lorenz schon in der Fachliteratur gelesen: Sie lag in der Luegsteinwand, etwa eine halbe Stunde Fußmarsch von der Ortschaft entfernt, und sollte schon vor vielen Jahrhunderten Raubrittern als Unterschlupf gedient haben. Lorenz hatte gelesen, dass vor Ort noch Mauerreste zu sehen seien. Er würde das Grafenloch für seine Forschungsarbeit auf jeden Fall aufsuchen.

Auf dem Marktplatz drängten sich mehrere große Gebäude um ein kopfsteingepflastertes Areal, in dessen Mitte ein Maibaum kerzengerade in den strahlend blauen Himmel ragte. Lorenz sah sich um und erkannte eine Gastwirtschaft namens »Audorfer Hof«, ein Café mit dem Namen »Rechenberger«, ein Reisebüro und die Bäckerei Huber, bei der Anneliese – ihrer Schürze nach zu urteilen – arbeitete. Über dem Eingang zum imposantesten Gebäude am Platz stand in großen Buchstaben »Rathaus«. Lorenz ging hinein.

Etwas zaghaft klopfte er an die Tür im ersten Stock, zu der ihn eine Frau vom Einwohnermeldeamt im Erdgeschoss auf seine Frage nach Frau Leitner gewiesen hatte.

Die Tür öffnete sich, und eine junge Dame – wohl um die dreißig Jahre alt –, die ihre lockigen brünetten Haare zu einem losen Pferdeschwanz gebunden hatte, lächelte Lorenz freundlich entgegen. »Bitte? Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Lorenz Kastner. Ich bin heute aus München angereist und werde in nächster Zeit an den Resten der Auerburg Forschungsarbeit betreiben. Jetzt suche ich Frau Leitner.«

»Die steht vor Ihnen. Lena Leitner. Herzlich willkommen in Oberaudorf, Herr Kastner!« Sie strahlte Lorenz an und erstickte damit jeden Zweifel daran, dass die Begrüßung ehrlich gemeint war, im Keim.

»Vielen Dank.« Mehr konnte Lorenz in diesem Augenblick nicht sagen. Er war ein wenig perplex, hatte er sich Frau Leitner von der Gemeindeverwaltung doch in etwa so vorgestellt wie die ziemlich missmutige Frau um die fünfzig, die er gerade noch im Einwohnermeldeamt gesprochen hatte. Und jetzt stand da ein fröhliches, bezauberndes Wesen in einem schlichten türkisfarbenen Sommerkleid vor ihm und bot ihm an, Platz zu nehmen. Frau Leitner selbst setzte sich in einen Bürostuhl ihm gegenüber.

»Ich erinnere mich, mit jemandem von der Ludwig-Maximilians-Universität telefoniert zu haben, der mir erzählt hat, dass Ihre Messinstrumente zu uns geschickt würden. Aber«, Lena Leitners Lächeln wich nun einem aufrichtig bedauernden Ausdruck, »bis heute ist leider noch nichts angekommen.«

»Ach so.« Lorenz’ Kommunikationsfähigkeit war immer noch etwas eingeschränkt.

»Vielleicht bringt sie ja der Kurierdienst morgen? Sie können mir gern Ihre Telefonnummer hierlassen, dann melden wir uns, wenn die Instrumente da sind. Oh, Entschuldigung!«

Ein Mobiltelefon, das auf Lena Leitners Schreibtisch lag, hatte zu summen begonnen und bewegte sich zentimeterweise auf der Tischplatte hin und her.

Die junge Frau nahm das Handy an sich und drückte mit dem Zeigefinger einmal auf das Display. »Leitner.«

Sie hörte für ein paar Sekunden zu, wobei sehr schnell sämtliche Leichtigkeit aus ihren zarten Gesichtszügen verschwand.

»Ja. – Was?« Sie hielt sich die freie Hand vor die zitternden Lippen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber … Das kann doch nicht sein! … Gestern war er doch noch … Mein Gott!«

Lorenz rutschte peinlich berührt auf seinem Stuhl herum. Anscheinend war er gerade unbeabsichtigt in eine sehr persönliche Angelegenheit einer ihm fremden Frau geraten – und hatte keine Ahnung, ob er sich besser so schnell wie möglich zurückziehen oder bleiben und ihr eventuell seine Hilfe anbieten sollte.

Lena Leitner legte auf, schluchzte kurz und nahm ein Taschentuch aus einer Schreibtischschublade. »Entschuldigen Sie.« Sie versuchte mit sichtlicher Anstrengung, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Entschuldigen Sie«, wiederholte sie. Und nach einer kurzen Pause, in der sie einfach durch ihren betroffen schweigenden Besucher hindurchgestarrt hatte, fügte sie mit tonloser Stimme hinzu: »Es ist ein Unglück passiert.«

Lorenz hielt es für klüger, jetzt zu schweigen.

7

Ebenfalls im Rathaus, aber ein Stockwerk höher, seufzte Bürgermeister Rupert Stöttner laut in den Telefonhörer. Er saß nach vorne gebeugt in seinem großen schwarzen Bürosessel, die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte gestützt und eine Hand an die Stirn gepresst. »Was muass der Depp a do rumsteig’n mitten in der Nacht? So oana woaß doch, dass des g’fährlich is. Der Markus is doch vo Oberaudorf … g’wes’n.«

Das letzte Wort hatte der Bürgermeister nach einer kurzen Pause angehängt und dabei ungläubig den Kopf geschüttelt. Es war noch nicht vollständig in seinem Bewusstsein angekommen, dass man von Markus Bichler, den er von Kindesbeinen an gekannt hatte, ab sofort nur noch in der Vergangenheitsform sprechen würde. Doch der Anflug von Nachdenklichkeit wurde schnell durch seinen unverhohlenen Groll verdrängt.

»Des kennan mia jetzt überhaupt ned braucha. Seit oana Woch lafft der Wettbewerb. Und ab morgen san die Zeitungen voi von dera G’schicht. I sig’s scho vor mia.« Rupert Stöttner lehnte sich zurück und zeichnete mit der linken Hand eine fiktive Schlagzeile in die Luft. »›Wanderer stürzt bei Oberaudorf in den Tod!‹ So ein Schmarrn! Und i hob no g’sogd, mia miass’n die Leiter beim Grafenloch besser sichern. Des ham mia jetzt davo! Mia kennan den Preis glei abschreib’n … Morgen hob i an Termin mit dem Herrn aus Rottach-Egern, dem Mayr-Kittling. Der hod immer g’sogd, wenn mia des Gold-Dorf san, dann ziag’n seine Geschäftspartner auf jed’n Foi mid. Alpengolf-Ressort Oberaudorf! Des is a Chance, die gibt’s ned oft. Damit stengan mia ganz anders do, des sog i dir.« Er griff nach einem Zettel, auf dem er in seiner unleserlichen Handschrift einige Worte notiert hatte, und las die englischen Begriffe mit etwas Mühe ab: »›Superior-Class-Tourism‹, hod der Mayr-Kittling g’sogd. So wos gibt’s im ganzen Inntal no ned. Und ausgerechnet jetzt kimmt der Schmarrn daher!« Resigniert beugte sich der Bürgermeister wieder nach vorn und rieb sich die Stirn, während sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung redete.

»Aber oans dad mi wirklich interessier’n«, murmelte er schließlich leise, nachdem er sich kurz verabschiedet und den Hörer aufgelegt hatte. »Was hod der do ob’n g’suacht? In der Nacht, bei dem Sauweda? Do muass doch irgendwos g’wes’n sei …«

Eine Weile saß Rupert Stöttner einfach nur da und grübelte, dann nahm er entschlossen wieder den Telefonhörer zur Hand und wählte eine Nummer. »Servus, Karl!«, rief er in ganz anderem Ton als noch vor wenigen Minuten. »Du, sog amoi, is da Schorschi do?«

8

Die Ziegen beobachteten Lorenz aus sicherer Entfernung. Seit die Ausgrabungen in den neunziger Jahren beendet worden waren, wurden auf dem Schlossberg von Frühling bis Herbst Tiere gehalten, die mit ihrem Appetit auf Gras und Blattwerk verhinderten, dass Sträucher und Gestrüpp die Mauern der alten Festung binnen kürzester Zeit überwucherten. Doch die Ziegenherde, die den Berg zurzeit bevölkerte, wurde augenblicklich durch den unbekannten Besucher von ihrer wichtigen Aufgabe abgelenkt. Angeführt von einem schneeweißen Bock, der immer wieder ein vorlautes »Mähähä!« ausstieß, sobald sich der bereits auf halber Höhe schwer atmende Lorenz wieder ein kleines Stück genähert hatte, wahrte die Gruppe trotz allgemeiner Neugier einen Sicherheitsabstand zu diesem seltsamen Wanderer, der seine nachmittägliche Tour so wenig zu genießen schien.

Als Lorenz endlich sein Ziel erreicht hatte, ließ er sich erst einmal auf eine dankenswerterweise dort aufgestellte Sitzbank fallen und wischte sich mit einem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Dieser Aufstieg würde nun wohl täglich auf ihn warten. Und dann hätte er auch noch seine Instrumente dabei! Doch als Lorenz, immer noch hörbar schnaufend, seinen Blick rundum schweifen ließ, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Großartig! Überall ragten zwischen kleinen, grasbewachsenen Hügeln Mauerreste hervor. An einer Stelle waren sogar die Grundmauern mehrerer kompletter Räume zu erkennen. Die Ausgrabungen hatten wirklich viel Material zutage gefördert. Dieses würde er nun noch einmal genau vermessen und damit hoffentlich die Theorien von Prof. Dr. Beckstein bestätigen können.

Lorenz erhob sich wieder und schlenderte zur Felskante, an der es steil nach unten ging. Vor ihm breitete sich ein eindrucksvolles Alpenpanorama aus: zunächst die bewaldeten dunkelgrünen Berge rund um Oberaudorf, zwischen denen sich der Inn seinen Weg bahnte, und dahinter die schroffen, noch weit höher aufragenden Felsen des Wilden Kaisers. Als er ins Tal blickte, überkam Lorenz für eine Sekunde ein leichter Schwindel. Er sah die Dächer von Oberaudorf. Die Straße, die zum Luegsteinsee abbog. Dahinter musste der Wanderweg beginnen, der zum Grafenloch führte, dorthin, wo 

Es war ein seltsamer Moment gewesen, vorhin im Büro der jungen, sympathischen Frau Leitner. Lorenz hatte sich, nachdem sie die Nachricht von dem Todesfall erhalten hatte, verständnisvoll zurückgezogen. Nur seine Telefonnummer hatte er noch schnell notiert, damit sie ihn benachrichtigen konnte, sobald seine Messinstrumente eingetroffen waren. Der Verunglückte musste Frau Leitner nahegestanden haben, so wie sie reagiert hatte. Lorenz hatte in diesem unwirklichen Moment nicht nachgefragt. Er hatte nicht indiskret sein wollen, schließlich war er ja ein Fremder. Doch Frau Leitner tat Lorenz noch immer leid, und er fragte sich nun doch, ob er nicht mehr für sie hätte tun können.

Moment! Lorenz erblickte etwas, das ihn aus seinen trüben Gedanken riss. Unten, an der gegenüberliegenden Felswand, die sich vom Torhaus, in dem er untergebracht war, bis zum Luegsteinsee zog und dann hinter dem See zur Luegsteinwand mit dem unglückseligen Grafenloch wurde, erkannte er ein sehr außergewöhnliches Haus: Eigentlich handelte es sich nur um die Fassade eines Hauses, die direkt vor die an dieser Stelle deutlich überhängende Wand gebaut worden war. Es wirkte skurril, so als hätte sich der Felsen vorgearbeitet und das Gebäude beinahe zur Gänze verschlungen.

»Der ›Weber an der Wand‹. Beeindruckend, oder?«

Lorenz zuckte zusammen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Die Männerstimme war laut und tief direkt hinter ihm erklungen. Er hatte niemanden kommen hören und fuhr herum.

»Entschuldigung! Ich hab Sie nicht erschrecken wollen.« Ein älterer, etwas korpulenter Mann, in dessen kurzem grauen Vollbart nur noch vereinzelte dunkle Strähnen zu sehen waren, stand hinter ihm. Er war mit einem rot-weiß karierten Hemd und einer Kniebundlederhose bekleidet. Seinen Kopf zierte ein Schlapphut, der seine besten Tage schon lange hinter sich hatte. »Das da unten«, der Mann zeigte in Richtung des Hauses, das Lorenz gerade so fasziniert betrachtet hatte, »ist ein altes Wirtshaus. Der Name ›Weber an der Wand‹ kommt daher, dass ein Webermeister vor zweihundert Jahren eine Eremitenhöhle zu diesem Haus umgebaut hat. Das war damals eine Attraktion, da haben bayerische Könige drin gesessen. Und der russische Zar! Und dann sind die Maler gekommen, die Künstler aus München, die die Berge zeichnen wollten … Entschuldigung noch mal, wenn ich Sie überrumpelt hab. Korbinian Prantl mein Name.« Er lächelte und reichte Lorenz die Hand zu einem kräftigen Händedruck.

9

Karl Ettenhofer öffnete das Fenster und holte einige Male tief Luft. Draußen standen auf einem weitläufigen Rangierplatz mehrere große Lastwagen mit der Aufschrift »Spedition Ettenhofer«, dunkelgrün auf weißem Grund, dazwischen liefen emsig einige Arbeiter umher, seine Angestellten. Insgesamt zählte der Betrieb mehr als fünfzig Beschäftigte. Und Karl Ettenhofer trug für sie alle die Verantwortung, seit er vor drei Jahren das Unternehmen von seinem Vater übernommen hatte.

Natürlich machte ihm die Arbeit Freude, und er war stolz, das Erbe fortführen zu können, in das sein Vater jahrzehntelang seine gesamte Lebensenergie gesteckt hatte. Doch manchmal ermüdete ihn das Ganze auch: die ständigen Telefonate, die Termine, die Fragen der Sekretärin, die Gespräche mit den Angestellten, die alle sicherlich ihre eigenen Probleme hatten, von denen Karl Ettenhofer wenig wusste, auf die er aber dennoch Rücksicht nehmen musste und wollte. Manchmal hatte er einfach genug davon. Dann fragte er sich, wie es wohl wäre, den Laden zu verkaufen und etwas Neues anzufangen. Etwas Eigenes.

Aber was dachte er da eigentlich? Es war doch seine Spedition, es waren seine Mitarbeiter. Er durfte sich nur nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen von solchen Gesprächen wie dem, das er gerade mit dem Bürgermeister Rupert Stöttner geführt hatte.

Georg Leitner, den trotz seiner sechsunddreißig Jahre immer noch alle nur »Schorschi« nannten, war einer seiner besten Leute. Ja, ungeduldig war er und manchmal aufbrausend, aber eben auch zuverlässig und alles andere als faul. Den Schorschi musste man nur zu nehmen wissen, musste ihm Verantwortung übertragen, dann war der sich für nichts zu schade. Er lieferte immer gute Arbeit ab – und zwar nicht nur in seinem eigentlichen Aufgabengebiet, der Disposition, sondern überall, wo er gebraucht wurde. Und wenn die Aufträge noch nicht abgearbeitet waren, blieb er abends auch mal länger, ohne zu murren. Der Mann war in vielerlei Hinsicht ein Idealist. Nicht nur, was die Heimat und den Naturschutz betraf, sondern eben auch, was seine Arbeit anging.

Was kümmerte es Karl Ettenhofer, ob sich der Schorschi gestern im Audorfer Hof mit dem Markus geprügelt hatte, weil der der Lena nachgestiegen war? Abgesehen davon, dass die Lena sich bestimmt nicht Hals über Kopf mit ihrem Verflossenen einlassen würde, nur weil der zufällig gerade wieder verfügbar war. Dafür hat diese Frau zu viel Klasse, dachte Ettenhofer.

Plötzlich versetzte ihm die Erinnerung an einen launigen Spätsommerabend vor zwei Jahren einen Stich. Wie sie ihn angesehen hatte, damals, als er sie nach dem Betriebsausflug zum Rosenheimer Herbstfest mit zurück nach Oberaudorf genommen hatte. Der Schorschi war damals noch länger im Bierzelt geblieben und froh gewesen, dass seine Frau auf diesem Weg sicher nach Hause kam. Und dann hatte Karl Ettenhofer sich ein Herz gefasst und sie einfach geküsst. Im Auto, vor ihrem Haus. Und sie hatte es sich gefallen lassen und ihn danach weiter so angesehen. Ein bisschen verwundert vielleicht, aber ihre Augen hatten diesen ganz besonderen Glanz gehabt. Karl Ettenhofer schüttelte die Erinnerung schnell wieder ab. Das war Vergangenheit. Er und Lena hatten sich stillschweigend darauf verständigt, die Sache als einmaligen Ausrutscher zu betrachten.

Warum also musste der Rupert anrufen und scheinheilige Fragen stellen, nur weil der Bichler Markus letzte Nacht dumm genug gewesen war, am Grafenloch herumzuklettern und sich dabei den Hals zu brechen? Ettenhofer war sich sicher, dass der Rupert wieder Angst wegen der nächsten Wahl oder wegen irgendeines anderen wichtigen Projekts hatte, das er als Bürgermeister angeschoben hatte und jetzt nicht gefährdet sehen wollte. Als Mitglied des Gemeinderates wusste der Speditionsleiter, wie nervös der Bürgermeister in solchen Situationen werden konnte.

Karl Ettenhofer war gerade im Begriff, das Fenster wieder zu schließen, als er sah, dass ein Polizeiauto auf das Speditionsgelände fuhr und vor dem Eingang zum Bürogebäude hielt.

Vor ein paar Monaten hatte der Zoll dem Betrieb auf den Zahn gefühlt. Bei einer Routinekontrolle auf einem Rastplatz in Niederösterreich hatte man in einem »Ettenhofer«-Lastwagen zwischen den offiziell geladenen Elektronikbauteilen für eine Fertigungsanlage in Bulgarien eine Kiste mit Navigationsgeräten gefunden, die, so stellte sich heraus, aus deutschen Nobelkarossen gestohlen worden waren. Der Fahrer war einer der beiden Rumänen gewesen, die seit langer Zeit für die Spedition tätig waren. Es war harte und nervenaufreibende Arbeit für Karl Ettenhofer gewesen, die Zollbeamten davon zu überzeugen, dass die Speditionsleitung von der illegalen Aktion nichts gewusst hatte. Außerdem hatte er schweren Herzens den Fahrer entlassen müssen – obwohl bis zum Schluss nicht klar geworden war, ob er vorsätzlich gehandelt oder nur seinen Lastwagen fahrlässigerweise nicht ständig im Auge behalten hatte, sodass es möglich geworden war, ihm die gestohlene Ware unterzuschieben.

Heute kamen die Uniformierten nicht vom Zoll. Zwei Polizisten entstiegen einem normalen Streifenwagen.

Ettenhofer konnte sich schon denken, warum die hier waren. Der Dorfklatsch war demnach also bereits bis zur Staatsgewalt durchgedrungen. Er wandte sich vom Fenster ab, warf einen kurzen Blick in den Spiegel, der neben seiner Bürotür hing, richtete seinen Hemdkragen und machte sich auf den Weg nach unten. Er würde Georg Leitner jetzt nicht im Stich lassen.

10

Auf der Bank auf dem Schlossberg saßen Lorenz und Korbinian Prantl inzwischen nebeneinander und unterhielten sich über die lange Geschichte dieses Ortes. Nachdem Lorenz von seiner Forschungsarbeit erzählt hatte, zeigte sich der Mann mit dem Schlapphut und der tiefen Stimme richtiggehend begeistert und begann, dem jungen Besucher aus München haarklein die Historie der Auerburg nachzuerzählen. Angefangen bei den ältesten Funden aus der Bronzezeit über die Theorie einer ersten Festungsanlage aus dem 12. Jahrhundert und den Ausbau zum Burgschloss bis zu dessen Zerstörung im Jahr 1748.

»Das hier«, mit Stolz und Ehrfurcht in den Augen deutete Korbinian Prantl mit dem Zeigefinger auf den Boden zwischen seinen Wanderschuhen, »ist der Ort, von dem aus die Wittelsbacher jahrhundertelang das Inntal kontrollierten.«

Lorenz wusste das alles natürlich längst, und zu so mancher Geschichte hätte er noch weitere Aspekte und Korrekturen hinzufügen können. Doch die Begeisterung des Mannes für die Geschichte seiner Heimat war zu groß, um ihn zu bremsen oder kleinlich daran herumzumäkeln. Und im Wesentlichen hatte er durchaus recht: Dieser Ort war für sehr lange Zeit immens wichtig gewesen.

»Wie schade, dass die Burg nach den Bestimmungen des Friedensvertrages von Füssen abgebrochen werden musste. Stellen Sie sich nur vor, hier stünde noch diese riesige Festung!« Korbinian Prantls Stimme zitterte ein wenig, so traurig schienen ihn die Ereignisse von vor über zweihundertfünfzig Jahren zu stimmen. »Aber immerhin sind Sie jetzt hier! So wird diesem Ort wenigstens in der Forschung die Ehre zuteil, die ihm gebührt.«

»Hoffentlich«, sagte Lorenz nachdenklich. »Da fällt mir etwas anderes ein: Am Grafenloch …« Er wartete einen Augenblick, ob sein Gesprächspartner erkennen ließ, dass er von dem gestrigen Unglück gehört hatte.

Doch Korbinian Prantls Miene blieb ungerührt.

»Dort soll eine Vorgängeranlage zu dieser Burg gestanden haben.«

Sein Gesprächspartner nickte stumm.

»Ich habe mich nur gefragt, was es mit dem seltsamen Namen auf sich hat. ›Grafenloch‹. Von ›Grafen‹ ist in der Geschichtsschreibung der Gegend nie die Rede, weder hier oben noch drüben in der Luegsteinwand.«

»Ha! Das ist tatsächlich so!«, lachte der stämmige Mann. »Wissen Sie, ich habe da ein hervorragendes Buch, in dem steht die Antwort auf Ihre Frage und noch viel mehr, das Sie interessieren könnte. Das bringe ich Ihnen morgen vorbei. Im Torhaus sind Sie untergebracht, haben Sie gesagt?«

Lorenz nickte.

»Gut, dann sehen wir uns morgen früh. Jetzt muss ich aber wieder runter, meine Frau wartet sicher schon.« Und augenzwinkernd fügte er hinzu: »Die macht sich immer Sorgen, wenn ich mich am Abend noch draußen rumtreib.«

Lorenz warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Tatsächlich – während ihres Gesprächs waren eineinhalb Stunden vergangen.

»Eins noch.« Korbinian Prantl war schon im Begriff gewesen zu gehen, drehte sich dann aber doch noch einmal um. »Bei uns hier, da sagen wir Du. Ich bin der Korbinian. Servus!«

»Servus!«, antwortete Lorenz lachend und beschloss, vor dem Abstieg noch ein wenig den Blick auf die Berge zu genießen.

11

Die Augen vom Plenzinger Toni waren glasig und schienen müde, wie so oft am Abend, wenn der Tag im Audorfer Hof schon früh begonnen hatte und sich länger hinzog.

Der Hirschreiter Sepp hingegen wirkte energisch wie eh und je. »I hob’s da g’sogt! Oda?« Er blickte seinem Kameraden direkt ins Gesicht. »Hob i’s da ned g’sogt?«

Der Plenzinger Toni nickte kaum merklich, das musste als Antwort auf diese rhetorische Frage genügen.

Kathi brachte gerade zwei frische Weißbier. Sie war sich nicht sicher, ob die beiden schon wieder hier waren oder noch immer.

»Die Polizei is scho drunt g’wes’n, beim Ettenhofer. Aber mitg’nomma ham s’ an Schorschi ned«, stellte der Hirschreiter Sepp fest. »Und des is a richtig so. Wei, wenn da Schorschi den Markus hed umbringa woin, dann war der doch desweg’n ned mid eam zum Grafenloch auffiganga. Na, na!« Er schüttelte energisch den Kopf. »Der Markus is do bestimmt aloa drob’n g’wes’n. Frog mi ned, warum. Do muasst ja bläd sei, in der Nacht und bei dem Weda.« Er nahm einen Schluck vom frischen Bier und wischte anschließend mit dem Handrücken den Schaum aus seinem Schnurrbart. »Aber vielleicht hod eam da Schorschi im Hirnkastl wos durchananderbracht, bei dera Schelln, die er eam verpasst hod.«

Wieder nickte der Plenzinger Toni, dann raffte er sich auf, um ebenfalls noch einen Schluck Bier zu trinken.

Vorsichtig füllte Lorenz das heiße Wasser in den Plastikbecher und stellte den Wasserkocher anschließend wieder unter den winzigen Tisch. Instantsuppe. Für heute sollte das genügen, morgen würde er dann Marias Rat befolgen und zum Essen in den Audorfer Hof gehen.

»Da haben Sie dann auch Internet, hat mir die Kathi g’sagt. Und das brauchen Sie doch bestimmt«, hatte die liebenswürdige Frau vom Förderverein des Oberaudorfer Heimatmuseums ihm freudig verkündet.

Lorenz pustete auf den dampfenden Inhalt seines Bechers und sah aus dem kleinen Fenster seiner Kammer. Jetzt waren draußen kaum noch Fußgänger unterwegs, und Autos fuhren glücklicherweise auch nicht mehr viele unter dem Haus hindurch.

Es seien nicht ausreichend Mittel vorhanden, um ihm ein Zimmer im Audorfer Hof zur Verfügung zu stellen, hatte Prof. Dr. Beckstein vor einigen Wochen gesagt. Aber er habe da Kontakt zum örtlichen Museum, dort werde man bestimmt eine Lösung finden. Hätte Lorenz damals schon geahnt, dass diese Lösung weder Fernseher noch Internet, aber dafür eine Toilette beinhaltete, die sich am anderen Ende des Gebäudes befand – und dass unter dieser Lösung eine Hauptverbindungsstraße hindurchführte –, dann hätte er wohl nicht so gleichmütig reagiert. Und jetzt? Sollte er sich beschweren? Die Leute hier, allen voran Maria, waren wirklich nett und bemüht, seinen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Man musste eben das Beste daraus machen.

Der Klingelton von Lorenz’ Mobiltelefon drang gedämpft aus seinem Koffer. Schnell kramte er es heraus – es handelte sich um ein extrem veraltetes Modell, an das er sich aber so sehr gewöhnt hatte, dass er es keinesfalls gegen ein zeitgemäßes eintauschen wollte – und meldete sich. »Ja? – Ah, Herr Prof. Dr. Beckstein!« Lorenz zog den Kinderstuhl näher zum Tisch und setzte sich aufrecht vor seine noch immer dampfende Instantsuppe. »Ja! – Nein, ich bin gut untergebracht, alles in Ordnung. – Nein, ich war heute schon im Rathaus, aber die Instrumente sind leider noch nicht eingetroffen. – Ja, vielleicht morgen. – Danke. Ihnen ebenfalls, Herr Prof. Dr. Beckstein. – Gute Nacht.«

Lorenz schaltete das Handy aus und warf es wieder in seinen Koffer. Dann nahm er den Plastikbecher in die Hand, schob den Kinderstuhl zurück und legte sich auf das Bett – wobei er augenblicklich tief in der Matratze versank, die anscheinend direkt aus dem Fundus des Museums stammte und schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. Vorsichtig nahm Lorenz einen ersten Schluck von der Suppe. Die schmeckte doch gar nicht mal so übel. Ja, er musste eben das Beste aus den Gegebenheiten machen.

12

Längst war die Sonne untergegangen, und diesmal war die Nacht über dem Inntal lau und ruhig. Hinter keinem Fenster in Oberaudorf brannte mehr Licht, das Dorf lag still und dunkel in tiefem Schlaf. Im Wasser des Luegsteinsees spiegelten sich vereinzelte Sterne und eine schmale Mondsichel. Aus dem Wald hinter dem See drang der Ruf eines Kauzes, und jemand, der sich mir Greifvögeln auskennt, hätte wohl bemerkt, dass es sich um einen Warnruf handelte. Der Kauz schlug Alarm, weil er die dunkle Gestalt bemerkt hatte, die sich durch die Bäume langsam in Richtung Luegsteinwand vorarbeitete.

Obwohl keine Wolke am Himmel war, hatte die Gestalt ein Regencape mit Kapuze übergezogen. Im schwachen Mondlicht stolperte sie immer wieder über Wurzeln oder blieb mit der Kleidung an einem Ast hängen. In regelmäßigen Abständen hielt der geheimnisvolle Wanderer an, blickte sich um und lauschte, ob in der Stille der Nacht noch andere auffällige Geräusche zu hören waren als die, die er selbst verursachte. Nach wenigen Sekunden ging es wieder weiter, hinauf zur Felswand, dorthin, wo die Leiter zu der dunklen Höhle führte, die man seit jeher »Grafenloch« nannte.

Endlich am Fuß der Leiter angekommen, hielt die Gestalt erneut inne, kramte unter ihrem Regencape eine kleine Lampe hervor und knipste sie an. Der Lichtkegel traf die Felswand, bewegte sich entlang der Holzsprossen hinauf und wieder hinunter und erkundete dann systematisch den Boden unterhalb der Leiter. Anschließend wanderte der Lichtkegel weiter nach rechts, den Abhang hinunter, dorthin, wo man am vergangenen Morgen den Toten gefunden hatte und wo jetzt noch die Spuren zu sehen waren, die Rettungsdienst und Polizei hinterlassen hatten.

Vorsichtig kletterte die Gestalt Stück für Stück durch das steil abfallende Gelände und suchte zwischendurch immer wieder mit der Lampe die Umgebung ab. Dann arbeitete sie sich wieder in die entgegengesetzte Richtung vor, und als sie erneut unter dem Grafenloch stand, steckte sie die Taschenlampe ein, griff nach der Leiter und stieg vorsichtig nach oben.

13

Die blecherne Klingel riss Lorenz jäh aus dem Schlaf. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu erinnern, wo er sich befand. Ach ja, die Kammer im Turmhaus. Er seufzte und rieb sich müde die Augen. Es klingelte noch einmal. Wie spät war es? Er kroch aus dem Bett und fand auf dem Tisch unter dem Fenster seine Armbanduhr. Sieben Minuten nach sechs! Welcher Geisteskranke wollte um diese Zeit ins Museum? Schlaftrunken holte er seine Hose unter dem Bett hervor, zog sie an und warf sich ein ungebügeltes Hemd aus seinem Koffer über. Während er die Wendeltreppe hinunterstieg, klingelte es zum dritten Mal.

»Ich komm ja schon!«, rief Lorenz, wobei der Groll über das allzu frühe und abrupte Ende seiner Nachtruhe kaum zu überhören war. Als er die Tür aufriss, blickte er in Korbinian Prantls erstauntes Gesicht.

Der Mann wirkte frisch und munter, trug einen Wanderstock in der Hand und einen Rucksack auf dem Rücken, an dem der Schlapphut hing, den er tags zuvor auf dem Schlossberg getragen hatte. Auch die Kniebundlederhose war wieder im Einsatz. »Hab ich dich aufgeweckt?«, fragte der morgendliche Besucher, obwohl er sich angesichts dessen, dass Lorenz’ Haare in alle Richtungen abstanden und sein Gesicht noch ziemlich zerknittert wirkte, die Antwort selbst hätte geben können.

»Ach«, Lorenz’ Miene hellte sich etwas auf, als er den Mann erkannte, mit dem er sich gestern so gut unterhalten hatte, »das macht doch nichts. Was führt dich zu mir?«

»Das hier.« Korbinian nahm seinen Rucksack ab, öffnete ihn, zog ein Buch mit grünem Umschlag heraus und hielt es Lorenz hin. »Ich hab dir doch gestern gesagt, dass du da drin viel Interessantes finden wirst.«

»Sagen und Legenden aus dem bayerischen Inntal« stand in verschnörkelter Schrift auf dem Cover. Lorenz hatte gar nicht mehr an Korbinians gestriges Versprechen gedacht. »Das ist wirklich nett von dir, danke. Und entschuldige, dass ich eben noch ein bisschen verwirrt war.«

»Kein Problem, passt scho!«, lachte Korbinian. »Ich muss jetzt los, ich bin nämlich schon spät dran. Heut geht’s auf den Brünnstein. Ich würd dich ja mitnehmen, aber bis du startklar bist, kommen schon die ganzen Touristen – und dann will ich längst wieder herunten sein.«

»Das verstehe ich.« Lorenz war alles andere als traurig darüber, zu dieser Tageszeit noch keinen Berggipfel erklimmen zu müssen. »Vielleicht ein anderes Mal«, fügte er noch hinzu, wobei er das »Vielleicht« im Geiste dreimal unterstrich.

»Also, servus! Und viel Spaß beim Lesen.«

»Und dir viel Vergnügen bei deiner Wanderung. Servus!« Lorenz schloss die Tür, blickte noch einmal kurz auf das Buch in seiner Hand, gähnte und trottete langsam wieder die Treppe hinauf.

Etwa drei Stunden später stand er – inzwischen ordentlich frisiert und mit sehr viel wacheren Augen – an einem kleinen Bistrotisch neben der Verkaufstheke der Bäckerei Huber und biss in ein Croissant mit Marmeladenfüllung.

Anneliese brachte ihm eine Tasse Kaffee. »Bitte schön. Möchten Sie die Zeitung lesen?«

Lorenz nickte erfreut. Guter Kaffee, ein frisches Croissant und dazu sogar noch die Zeitung! Hier würde er ab jetzt regelmäßig frühstücken, so viel stand fest.

Als er die Schlagzeile der aktuellen Ausgabe vom »Rosenheimer Tagblatt« auf dem Titelblatt sah, zog Lorenz neugierig die Augenbrauen hoch: Wanderer stürzt bei Oberaudorf in den Tod.

Er war gespannt, wie die Zeitung das Unglück, das am vergangenen Tag das ganze Dorf in Aufruhr versetzt hatte, beschreiben würde. Er nahm noch einen Schluck Kaffee und begann zu lesen:

Nächtliche Klettertour endet tragisch.

Am sogenannten Grafenloch bei Oberaudorf ist ein 34-jähriger Mann in der Nacht zum Dienstag tödlich verunglückt. Seine Leiche wurde am Dienstagmorgen von Wanderern entdeckt, die sofort den Notarzt alarmierten. Dieser konnte nach seinem Eintreffen nur noch feststellen, dass der Mann, der wohl beim Aufstieg zur Höhle in der Luegsteinwand abstürzte, bereits seit mehreren Stunden tot war. Warum Markus B., der in Amerika lebte und nur auf Besuch in seiner Heimat weilte, bei Nacht und schlechtem Wetter in dem schwierigen Gelände unterwegs war, ist noch nicht bekannt. Zuletzt wurde er am Abend in einer Gaststätte in Oberaudorf gesehen, wo es nach Augenzeugenberichten zu einem heftigen Streit zwischen Markus B. und einem anderen Gast gekommen sein soll. Die Polizei ist bemüht, die genauen Umstände des Unglücks aufzuklären, und hat zu diesem Zweck verschiedene Zeugen befragt.

Rupert Stöttner, der Bürgermeister von Oberaudorf, spricht von einem »tragischen Unglücksfall«, der die Gemeinde in einen Schockzustand versetzt habe. Die Frage, ob man den Zugang zum Grafenloch, der schon mehrfach als sehr gefährlich für ungeübte Wanderer bemängelt wurde, nicht schon längst besser hätte sichern müssen, beantwortet er mit dem Verweis darauf, dass die Wanderwege im Gemeindegebiet allen Vorschriften entsprächen. Außerdem sei Markus B. keineswegs ein unerfahrener Wanderer gewesen.

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