Umschlag

Robert de Paca lebt seit 1997 in Südfrankreich. Er kennt den Midi nicht nur aus der Sicht eines Angestellten der Luxushotellerie und Gastronomie, sondern auch durch seine Tätigkeit als Berater und freiberuflicher Übersetzer bestens. Nach fünfzehn Jahren an der Côte d’Azur lebt er heute mit seinen zwei Kindern in der Provence und betreibt eine Internet-Kochschule für mediterrane Küche. Bei Emons erschien bereits sein Debüt-Krimi »In den Straßen von Nizza«.

Die in diesem Buch geschilderte politische Geschichte Nizzas hat sich tatsächlich so ereignet, genauso wie einige der beschriebenen politischen und juristischen Machenschaften. Die Protagonisten des Romans sind aber fiktiv, die ihnen hier zugeschriebenen Handlungen haben nichts mit realen Personen zu tun.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Steffen Hauser/botanikfoto/Alamy
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christine Derrer
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-209-0
Côte d’Azur Krimi
Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

1

Die Diskussion mit ihrer Tochter um die mangelnde Rentabilität der Kanzlei hatte vor wenigen Minuten – wie schon so oft – damit geendet, dass sich jeder stur auf seinen eigenen Standpunkt versteifte. Somit würde sich an der Situation wohl auch in nächster Zukunft nichts ändern: Ihre Tochter würde weiterhin stolz ihre prätentiösen Visitenkarten verteilen, und sie würde weiterhin am Ende eines jeden Monats diskret die finanziellen Löcher stopfen.

Genervt überflog sie die zwischenzeitlich eingetrudelten Nachrichten auf ihrem Telefon, während sie zielstrebig die kleine Straße hinunterging, die zwei Ecken weiter auf den prestigeträchtigen Boulevard Carabacel stieß, dort, wo die erfolgreicheren Nizzaer Anwälte ihre Kanzleien betrieben.

Als wollte sie jede Spur des gerade geführten Streitgesprächs eliminieren, strich sie im Gehen sorgfältig über ihr Kostüm, zog ein paar kleine Fältchen glatt und überprüfte den korrekten Sitz ihrer Garderobe. Perfekt! Und ganz und gar gemäß der Regel Nummer eins für die Frau von Welt: auf keinen Fall das komplette Outfit von ein und demselben Designer.

Mattschwarze Gucci-Pumps mit flachem Absatz, das klassisch-nüchterne Sommerkostüm von Chanel, um den Hals eine Barockperlenkette sowie ein seidenes Tuch mit dem unverwechselbaren »H« darauf, Logo der Edelmarke Hermès, kurz: ein wohlüberlegt abgestimmtes Ensemble für eine Frau in fortgeschrittenem Alter, für die Geld, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle spielt.

Sie versuchte sich nach wie vor dynamisch zu geben, aber in Wahrheit sah man ihr das Alter und den schwindenden Elan bereits an ihrem Gang an.

So war es für die beiden jungen Männer ein Klacks, aus dem langsam rollenden Lieferwagen herauszuspringen, sie in den Laderaum zu schubsen, mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung selbst wieder einzusteigen und die Schiebetür hinter sich zuzuziehen. Das alles taten sie, ohne durch Lärm oder Hektik Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Kurz darauf war der Kastenwagen bereits um die Ecke gebogen, und die kleine Seitenstraße war wieder genauso ruhig und verlassen wie vor nicht mal einer Minute.

2

Das Sonnenlicht blinzelte durch die Ritzen der hölzernen Läden. Obwohl die Fenster sehr klein waren und wegen der dicken Mauern des ehemaligen Wasserturms eher schmalen Schießscharten ähnelten, kam genug Licht herein, um das Zimmer in einen diffusen Schleier zu hüllen. Dem Schattenwurf nach zu urteilen, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Nicolas drehte den Kopf, um einen Blick auf den Radiowecker zu werfen: schon weit nach zehn Uhr.

Die Meteorologen hatten für die ganze Woche eine ungewöhnliche Hitzewelle vorhergesagt, die sich nun, aus Algerien kommend, quälend langsam Richtung Nord-Nord-Ost fortbewegte. Sie trieb die auf ihrem Weg befindlichen Menschen in den Schutz der Häuser, wo Klimaanlagen mehr oder weniger erfolgreich das Schlimmste zu verhindern suchten.

Nicolas kam es vor, als würden selbst die Zikaden unter der Hitze leiden. Ihr Gezirpe pulsierte deutlich langsamer, beinahe schon träge unter der drückenden Last der wabernden Hitze dieses Augusttages, dessen Maximaltemperatur sich unerbittlich ihrem Zenit näherte.

Neben Nicolas lag ein wildes Knäuel blonder Locken, aus dem lediglich eine Nasenspitze hervorlugte. Ab und an bewegte sich eine der Lockenspitzen, angepustet durch das gleichmäßige Ausatmen. Nathalies Haut war dezent gebräunt, wodurch der zarte blonde Flaum entlang der Wirbelsäule goldglänzend hervorgehoben wurde.

Nicolas’ Blick wanderte weiter, aber dort, wo die niedliche Rundung ihres verlängerten Rückens in die Pobacken überging, verhüllte das schneeweiße Betttuch jegliches weitere Vergnügen und überließ den Rest der Phantasie des Betrachters.

Nathalie lag rechts von ihm auf dem Bauch. Jetzt zog sie gerade ihr Knie an, wodurch sich ihr Becken hob, das Laken nach hinten wegrutschte und eine Wölbung freigab, die Nicolas jeden Tag aufs Neue faszinierte: Nathalie war jetzt im fünften Monat schwanger, und ihr Bauch begann sich nun merklich auszuformen.

Ursprünglich wollten sie sich bei der Geburt überraschen lassen, aber die 3D-Ultraschallbilder waren für den Gynäkologen so präzise und offensichtlich, dass er sich eines Tages zu Beginn einer Untersuchung verplapperte und sagte: »Na, dann schauen wir doch mal, wie es der kleinen Miss da drinnen geht.«

Nicolas und Nathalie wollten zwei Kinder: ein Mädchen und einen Jungen, le choix du roi – die Wahl des Königs, wie man im Süden Frankreichs dazu sagte. Der Ausspruch ging darauf zurück, dass der König wählen konnte, als Nachfolger entweder das erstgeborene Kind oder den ältesten Sohn einzusetzen. Ist das erstgeborene Kind ein Junge, wäre es sowohl erstgeborenes Kind als auch der älteste Sohn und somit automatisch Thronfolger. Ist das Erstgeborene jedoch ein Mädchen, so könnte der König wählen, ob er das Erstgeborene, also die Tochter, oder aber den Sohn als Nachfolger bestimmt.

Ihre »kleine Miss« würde mit dem rechnerischen Geburtstermin Ende Januar das Licht der Welt erblicken. Dadurch blieb es Nathalie glücklicherweise erspart, die ohnehin schon beschwerlichen letzten zwei bis drei Schwangerschaftsmonate bei Sommerhitze zu verbringen. Um den Jahreswechsel herum stiegen die Temperaturen selbst hier in Nizza, der wärmsten Ecke des französischen Festlands, auch bei Sonnenschein selten über die Zwanzig-Grad-Marke. In der Nacht würden sie auf knapp unter zehn Grad fallen, es würde also angenehm kühl, aber nicht wirklich kalt werden. Alles deutete auf eine beschwerde- und stressfreie Schwangerschaft hin.

Es war nun schon fast fünf Jahre her, dass sie sich anlässlich einer unfreiwilligen Zusammenarbeit kennen- und schätzen gelernt hatten. Nicolas wurde damals aufgrund einer geschickten Manipulation fälschlicherweise als Drahtzieher eines Kunstraubs verdächtigt. Er sah sich gezwungen, den Fall selbst aufzuklären, um sich den Bestohlenen, einen skrupellosen Geschäftsmann namens Fabre mit Wohnsitz auf dem Cap Ferrat, wieder vom Hals zu schaffen.

Nathalie war damals in ihrer Funktion als Versicherungsdetektivin entsandt worden, und sie lösten den Fall schließlich gemeinsam.

Aus Respekt wurde Vertrauen, aus kleinen neckischen Flirts wurde schnell Zuneigung. Als der Fall aufgeklärt und der Druck des nervenaufreibenden Katz-und-Maus-Spiels vorbei war, entwickelte sich rasch Liebe, und heute war für sie ein Leben ohne den anderen nur schwer vorstellbar. Die Schwangerschaft war eine freudige neue, aber wohlüberlegte Etappe ihrer gemeinsamen Lebensplanung.

Von seinem damaligen Erfolgshonorar hatte Nicolas das Vorkaufsrecht für sein Haus eingelöst und den Rest sowie Nathalies Anteil bei einem seiner Stammkunden, einem Banker aus dem Tessin, angelegt.

Nathalie gab schon bald ihren risikoreichen Job, der zudem lange Dienstreisen erforderte, nur allzu gern auf.

Nachdem Nathalie von Nicolas in alle Details seines Einmannbetriebs eingearbeitet und allen wichtigen Kontaktpersonen vorgestellt worden war, kümmerte sie sich fortan um die Organisation von Nicolas’ Aufträgen: Sie erstellte die Planung der Tagesaktivitäten, ganz nach den Bedürfnissen der Kunden, und erledigte Buchhaltung und Schriftverkehr.

Nicolas hatte sich früher auf eine einzige Klientel beschränkt: Geschäftsmänner, die meist in weiblicher Begleitung ein Wochenende mit allem Komfort an der Côte d’Azur genießen wollten. Nicolas’ Aufgabe war es, das bestmögliche Angebot für ihre Wünsche zu kennen und zu organisieren: Luxushotels, Privatlimousine mit Chauffeur, Sternerestaurants, Edelboutiquen und mehr.

Seit einiger Zeit kamen zunehmend vermögende Familien an die Côte d’Azur, um ihren Urlaub hier zu verbringen. Da galt es, die Kinder mit passendem Programm bei Laune zu halten und gleichzeitig nicht die Interessen der Eltern aus den Augen zu verlieren.

Nathalies Organisationstalent und ihr Einfühlungsvermögen für die Wünsche der Kunden machten sich bald bemerkbar und ließen das Auftragsbuch schnell überquellen. Nicolas begann, Chauffeure einzustellen und auszubilden, damit sie an seiner Stelle die Familien bei ihrem Tagesprogramm begleiteten.

Sie hatten sich mittlerweile zwei Großraumlimousinen mit allem Komfort angeschafft, mit der sich selbst größere Familien bequem chauffieren ließen. Mit ihrem Freund Hervé, einem Mechaniker und Bootsverleiher in Antibes, hatten sie einen attraktiven Rahmenvertrag geschlossen, sodass sie jederzeit Boote aus seinem Bestand mieten konnten: Daycruiser für eine nachmittägliche Bootsfahrt in eine Bucht zum Baden oder Schnorcheln, Sportboote zum Wasserskifahren oder Kajütenyachten für ausgedehnte Touren oder Candle-Light-Dinner bei Sonnenuntergang auf See.

Nicolas schöpfte aus seinem Fundus mediterraner Rezepte, um die Gäste bei ihren Ausflügen mit saisonalen Spezialitäten der lokalen Märkte sowie ortsansässiger Fischer zu verwöhnen, und rundete so das Paket eines individuellen Urlaubs mit Wohlfühlgarantie ab.

Nathalie hatte alle Aufträge bereits sorgfältig vorgeplant, die nun zuverlässig von ihren Fahrern abgewickelt wurden. Nicolas’ Arbeit beschränkte sich momentan darauf, regelmäßig Kontakt mit den Kunden zu halten und sich zu vergewissern, dass alles zu deren vollster Zufriedenheit verlief.

Nur noch zwei kleinere Buchungen standen an, von Kunden des letzten Jahres, die sich kurzfristig zu einem erneuten Südfrankreichtrip entschlossen hatten und ihren Aufenthalt wieder von Nathalie und Nicolas organisiert wissen wollten.

Für den Herbst gab es keine weiteren Buchungen, und so würden sie sich dann entspannt zurücklehnen und auf die Geburt vorbereiten können.

3

Nicolas war leise aufgestanden, um Nathalie nicht zu wecken. Sie hatten gestern Abend noch sehr lange im Garten zusammengesessen und über ihr zukünftiges Leben als Familie gesprochen. Als sie dann schließlich nach oben gegangen waren, dauerte es noch eine Weile, bis sie eng umschlungen einschliefen.

Nicolas genoss nur mit Bermudashorts und T-Shirt bekleidet seinen spätmorgendlichen Milchkaffee im Schatten seines Lieblingsbaums, als ein Auto vor dem Eingangstor anhielt. Diese Szene erinnerte ihn unangenehm an die Zeit vor fünf Jahren, als ständig Fabres Leibwächter unangemeldet bei ihm auftauchten, um ihn zu dessen Villa auf dem Cap Ferrat zu begleiten, in der seinerzeit der Kunstraub passiert war.

Aber diesmal waren es keine muskelbepackten Bodyguards mit versteinerten Gesichtern in schwarzer Limousine, sondern ein blauer Peugeot 206 mit zwei uniformierten Gendarmen. Da sie offensichtlich zu ihm wollten, schlüpfte Nicolas in seine ledernen Flipflops und ging hinauf zum Tor.

»Meine Herren«, begrüßte er sie knapp.

»Kennen Sie einen gewissen Antônio Ortiz?«, fragte ihn einer der Beamten.

Nicolas lag der Spruch auf der Zunge: Klar, tragen Sie ihn rein und legen Sie ihn hier in den Schatten. Aber erstens war die französische Gendarmerie nicht gerade für ihren Humor bekannt, und zweitens wollte er ohnehin nicht mit den beiden sympathisieren. Also antwortete er stattdessen eher besorgt: »Tom? Ja. Was ist denn los?«

»Er wurde heute von seiner Hauswirtin als vermisst gemeldet«, sagte der Ältere der beiden.

Nicolas entspannte sich. Wenn Tom mal für ein paar Tage verschwand, dann hatte dies bestimmt einen Grund, war aber kein Anlass zur Sorge. Er bekam in letzter Zeit immer mehr Engagements, auch in weiter entfernten Städten, manchmal sogar drüben in Italien, und bedingt durch sein sorgloses Musikerdasein verreiste er schon mal überraschend, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben.

»Die Wohnungstür stand offen, und allem Anschein nach wurde das Apartment durchwühlt. Wir haben seine Gitarre und einen demolierten Verstärker gefunden«, fuhr der Gendarm fort, »und in dem Gitarrenkoffer fanden wir unter anderem Ihre Visitenkarte.«

Das war allerdings Alarmstufe Rot! Tom würde nie ohne sein Instrument verreisen, selbst wenn es sich bei der Reise nicht um ein Engagement handelte. Seine Gitarre musste ständig in Reichweite sein: Egal, ob er über irgendetwas nachdachte, sich mit jemandem unterhielt oder einfach nur entspannen wollte, seine Finger zupften ständig an den Saiten.

Tom war ein brasilianischer Gitarrist, den Nathalie und Nicolas des Öfteren im De Klomp, einer ihrer Lieblingsmusikkneipen in der Altstadt von Nizza, spielen sahen. Da die Kneipe, und demzufolge auch die Bühne, sehr klein war, saßen oder standen mobile Musiker wie Gitarristen oder Bassisten auch schon mal vorn bei den Zuschauern, wenn das Podest bereits mit dem Schlagzeug und einem Klavier besetzt war.

So kamen sie in den Spielpausen ins Gespräch, und Tom wurde neugierig, als Nicolas von seiner Leidenschaft für die Musik der Blueslegenden Robert Johnson und Son House erzählte. Sie waren ausschlaggebend, dass er sich mit Bluesgitarre und insbesondere dem Slidespiel beschäftigte, bei dem man mit einem über den Finger gestülpten Glas- oder Metallröhrchen den für den Blues so typischen Sound erzeugte. Dieses Röhrchen hieß »Bottleneck«, da es sich seinerzeit im Mississippi-Delta meistens tatsächlich um den oberen Teil eines Flaschenhalses handelte. Tom wollte mehr darüber wissen und bot an, Nicolas im Gegenzug dafür die Besonderheiten der Nylonsaiten anhand der klassischen Akkorde und Spieltechniken der brasilianischen Bossa Nova beizubringen. So trafen sie sich anfangs in unregelmäßigen Abständen, um ihrem gemeinsamen Hobby zu frönen, und im Laufe der Zeit entwickelten die beiden sogar einen neuen Stil, indem sie sentimentale Balladen über brasilianische Arbeiter zu Zeiten der portugiesischen Besatzung mit dem melancholischen Slidespiel der Sklaven auf den Baumwollplantagen verknüpften. Tom gefielen die Songs so gut, dass er vor Kurzem Nicolas fragte, ob er nicht Lust habe, mit ihm zusammen aufzutreten. Auch wenn Nicolas momentan noch nicht genug Zeit zum Üben für einen professionellen Auftritt aufbringen konnte, hatten die beiden einen Gig für kommendes Jahr ins Auge gefasst.

Nathalie hatte es ungewöhnlich gefunden, dass Antônios Spitzname nicht Toni lautete, sondern Tom, was ja eigentlich die Abkürzung für Thomas war. Tom erklärte ihr, dass dies an seiner Bewunderung für Antônio Jobim lag, den Begründer der Bossa Nova und Mitkomponisten brasilianischer Hits wie »Garota de Ipanema« – »The Girl from Ipanema« – oder »Desafinado«. Und Jobims Spitzname wurde in Brasilien zwar »Ton« ausgesprochen, aber eben Tom geschrieben. Deshalb nannten ihn jetzt alle Franzosen Tom.

»Feste Tage haben wir eigentlich nie vereinbart«, erklärte Nicolas den Gendarmen. »Das wäre wegen seiner kurzfristig getroffenen Engagements auch zwecklos. Tom rief meist spontan an, ob ich Zeit und Lust hätte, und kam dann vorbei.«

»Wann haben Sie sich zum letzten Mal gesehen?«

»Mitte letzter Woche.«

Daraufhin verabschiedeten sich die Gendarmen wieder, nicht ohne ihm ihre Nummer dazulassen, für den Fall, dass sich Tom bei Nicolas meldete.

Nicolas ging sofort zum Haus zurück, um Nathalie aufzuwecken und ihr von Toms beunruhigendem Verschwinden zu berichten. Aber Nathalie war bereits aufgestanden und machte sich gerade in der Küche ihren Kaffee. Sie hatte ein T-Shirt von Nicolas übergezogen, das ihr natürlich viel zu groß war, und Nicolas konnte erkennen, dass sie keinen BH darunter trug. Er fragte sich für einen kurzen Moment, ob sie wohl auch auf den Slip verzichtet hatte. Doch dafür war jetzt keine Zeit.

»Tom ohne seine Gitarre? Das kann ich mir ja gar nicht vorstellen. Und sein Verstärker ist auch demoliert worden?«, hakte Nathalie nach.

»Der Polizist war da sehr präzise. Die obere Rückwand wurde herausgebrochen. Ich nehme an, er meint das Holzbrett, das die Elektronik und die Röhren schützt«, erklärte Nicolas. »Das Brett ist normalerweise mit vier simplen Schrauben am Verstärkergehäuse befestigt, damit man es im Fall einer Panne während eines Konzerts einfach entfernen kann, um eine defekte Röhre auszutauschen oder so. Wenn die Platte herausgebrochen wurde, dann hat es da jemand ganz schön eilig gehabt. Denn die Schrauben kann man, selbst wenn man kein Werkzeug zur Hand hätte, ganz leicht mit einer Ein-Cent-Münze oder notfalls mit einem stabilen Gitarrenplektrum lösen. Oder jemand hat ihn einfach umgeworfen. Tom hätte das seinem Verstärker jedenfalls nie angetan. Da ist was faul«, sorgte sich Nicolas.

»Hat er dir bei eurer letzten Gitarrensession etwas von einem Auftritt erzählt?«, wollte Nathalie wissen.

»Nein.« Nicolas schüttelte den Kopf. »Kann schon sein, dass er einen Gig hatte, aber er wusste ja, dass wir noch in der Saison stecken und nur wenig Zeit zum Ausgehen haben.«

»Was unternimmt die Polizei eigentlich bei erwachsenen Vermissten?«, fragte Nathalie neugierig.

»Ich befürchte, dass die erst mal gar nicht viel machen werden. Die geben vielleicht eine Beschreibung raus oder warten, bis ihnen Tom zufällig über den Weg läuft. Wenn wir nur wüssten, wo sein letztes Konzert war. Das wäre immerhin ein Ansatzpunkt«, meinte Nicolas.

»Lass uns doch heute Abend in die Altstadt gehen und die Kneipen abklappern, in denen er normalweise auftritt. Vielleicht hat er ja kürzlich irgendjemandem etwas erzählt, das uns weiterbringt«, schlug Nathalie vor. »Mit Glück läuft uns auch die kleine Brasilianerin über den Weg, mit der wir ihn schon ein paarmal gesehen haben. Kannst du dich an ihren Namen erinnern? Dann können wir nach ihr fragen.«

»Gabriela, glaube ich. Aber das wird uns nicht viel weiterhelfen, das ist einer der häufigsten Mädchennamen in Brasilien.«

4

Um Nizzas Altstadt zu besuchen, wäre es zwar praktischer, das Motorrad zu nehmen, und Nathalies Arzt hatte ihr das Motorradfahren bis zum siebten Schwangerschaftsmonat mit Einschränkungen auch gestattet, aber selbst jetzt um zehn Uhr abends war es immer noch sehr schwül, und sie hatten keine Lust, sich in Helme und Schutzjacken zu zwängen, also entschieden sie sich für Nicolas’ liebevoll restauriertes BMW-Coupé.

Nicolas versuchte erst gar nicht, einen Parkplatz in den Straßen zu finden, sondern fuhr direkt in das Parkhaus unter dem Justizpalast. Von dort aus konnten sie die meisten Musikkneipen mühelos zu Fuß erreichen. Da es allein in der Altstadt bereits eine Unzahl an Livemusiklokalen gab, beschlossen sie, mit denen zu beginnen, in denen sie das Personal kannten. Dort würden sie am ehesten an Informationen kommen.

Tom trat in verschiedenen Musikkneipen solo auf, mal in kleinen Studentenkneipen, die kein ausreichendes Budget für eine ganze Band hatten, oder in Restaurants, die lediglich einen Gitarristen mit dezenten Balladen für eine ruhige Hintergrundmusik wollten. Andererseits spielte er aber auch mit seiner Sambaband in großen Clubs.

Nach dem zehnten erfolglosen Versuch musste Nathalie sich erst mal ausruhen. Gerade als sie den Platz vor dem Justizpalast überquert hatten und in die kleine Straße Richtung Präfektur einbogen, wurde auf der Terrasse des Master Home ein Tisch frei.

Dankbar ließ sich Nathalie nieder und drückte ihren schmerzenden Rücken durch. Das lange Marschieren auf dem harten Kopfsteinpflaster forderte seinen Tribut.

Schräg gegenüber der Terrasse befanden sich die rückwärtigen Fenster des Justizpalastes mit den Richterzimmern, wo sich vor über dreißig Jahren die spektakuläre Flucht eines Bankräubers abgespielt hatte, die der Polizei noch heute die Zornesröte ins Gesicht trieb. Aber Nicolas wollte sich die Geschichte für ein andermal aufheben. Er warf einen Blick durch die geöffneten Terrassentüren in das Innere der Brasserie und freute sich, dass heute kein DJ an den Plattentellern zugange war, sondern ein junger Gitarrist namens Romain spielte, den er hier schon mehrmals gesehen hatte.

Der Musiker saß in der Ecke neben der Bar, ganz allein mit seiner Akustikgitarre und einem kleinen Verstärker. Er schuf einen interessanten Mix aus tragenden Klängen und rhythmischen Elementen, indem er mit der Spielhand nicht nur einfach die Saiten zupfte, sondern abwechselnd auf dem Korpus trommelte und dann wieder in verschiedensten Bundlagen auf die Saiten hämmerte.

Tom würde das sicherlich auch gefallen. Nicolas nahm sich vor, bald gemeinsam mit ihm herzukommen. Aber dazu musste er ihn erst mal finden.

François, der Geschäftsführer des Master Home, kam heraus, um zu überprüfen, ob auch alle Gäste im Außenbereich mit Getränken versorgt waren. Als er Nathalie und Nicolas sah, lief er zu ihnen und begrüßte sie herzlich.

Aber auch François bestätigte schließlich nur, was sie auch bereits in anderen Lokalen zu hören bekommen hatten.

»Soviel ich mitbekommen habe, ist Tom schon seit ein paar Wochen nicht mehr in Nizza aufgetreten. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, erzählte er mir noch, dass er einige interessante Engagements drüben in Italien bekommen hätte.«

»Aber wenn Tom bei euch aufgetreten ist, spielte er da allein, so wie Romain heute, oder eher mit seiner Band?«, wollte Nicolas wissen.

»Meistens mit der Band, bei unseren brasilianischen Abenden. Die Jungs verstehen es, die Leute in Sambalaune zu bringen. Der Barkeeper kommt dann kaum mehr mit dem Cocktailmixen nach.«

»Hast du vielleicht noch die Nummern seiner Musiker?«, hakte Nicolas hoffnungsvoll nach.

François schüttelte bedauernd den Kopf. »Das war ja das Angenehme mit Tom: Du rufst ihn an, und wenn er verfügbar ist, kümmert er sich selbst um seine Musiker und sein Equipment. Am vereinbarten Abend steht er dann zuverlässig auf der Matte. Ich kann dir aus leidvoller Erfahrung sagen: Das ist beileibe nicht selbstverständlich, vor allem nicht bei südamerikanischen Musikern. Alles, was ich von seinen Kollegen weiß, sind ihre Vornamen, wenn er sie während des Programms vorgestellt hat, und dann höchstens noch, was sie trinken, denn das geht bei uns aufs Haus.«

»Aber eure Buchhaltung müsste doch deren Adressen haben, wegen der Gagen«, meinte Nathalie.

»Die Gage habe ich als Pauschalbetrag immer direkt mit Tom ausgehandelt. Wie viele Musiker er dann schließlich mitbringt und wie viel er ihnen zahlt, ist seine Sache. Mein Buchhalter freut sich über weniger Papierkram, und ich bin mit diesem Arrangement gut gefahren, weil Tom prima Bands zusammengestellt hat und das Publikum begeistert war.«

Nicolas hatte es sich entschieden leichter vorgestellt, Toms Spur aufzunehmen. Einziger Hoffnungsschimmer war, dass eine der Bedienungen Toms Freundin Gabriela vor gar nicht langer Zeit in der FNAC, einer Handelskette für Bücher und Unterhaltungsprodukte auf Nizzas großem Einkaufsboulevard Jean Médecin, als Verkäuferin hatte arbeiten sehen.

Nathalie wollte dort ohnehin nach Ratgebern stöbern, also konnte sie das genauso gut morgen früh machen.

5

Tom schlug die Augen auf, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Er rappelte sich umständlich von einer Art Matte hoch und rieb sich den steifen Nacken. Auf der rechten Seite spürte er eine Stelle, die heftig brannte. Das lenkte ihn immerhin kurz von dem dumpfen Kopfschmerz ab, der sich aber gleich wieder in den Vordergrund drängte, begleitet von einem üblen Geschmack im Mund und einem leichten Brechreiz.

Am besten erst mal nicht bewegen, dachte er und versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war.

Auf dem Weg zum Bäcker fiel ihm auf, dass er zwar seine kleine Brieftasche mit der Kreditkarte und den zahlreichen Kundenkarten verschiedener Supermärkte eingesteckt hatte, aber die Münzen in der Keramikschale auf der Kommode neben der Eingangstür seines Apartments vergessen hatte.

Er konnte wohl schlecht die neunzig Cents für ein Baguette mit der Kreditkarte bezahlen, der nächste Geldautomat lag auch mehrere Straßen entfernt, also musste er wohl oder übel umkehren und sein Kleingeld holen.

Nur zwei Minuten später stieg er schon wieder die Treppen zur ersten Etage hinauf. Da die Bäckerei nicht weit von dem alten Mietshaus in der Altstadt Nizzas weg war, hatte er die Wohnungstür gar nicht erst abgeschlossen. Wollte wirklich jemand bei ihm einbrechen, so würde die marode Holztür, die vermutlich ohnehin nur noch von ihren unzähligen Lackschichten zusammengehalten wurde, sowieso kein ernst zu nehmendes Hindernis darstellen. Er öffnete die Tür, und das Letzte, an das er sich erinnerte, war ein zuckender Schmerz im Nacken.

Jetzt befühlte er noch einmal vorsichtig die empfindliche Stelle. Mit den Fingern konnte er keine nennenswerte Verletzung ertasten, zu bluten schien es auch nicht.

Wo war er? Der muffige Geruch und der feuchtkalte Boden ließen auf einen Keller oder ein altes Gewölbe schließen. Links war ein diffuser Lichtschein zu erkennen. Der Fleck war aber zu klein für ein Fenster, sodass Tom einen Belüftungsschacht vermutete. Die Öffnung war sowieso viel zu weit oben, als dass er hindurch- und somit nach draußen sehen konnte. Mühsam rappelte er sich auf und stand schließlich auf wackeligen Beinen. Obwohl sich seine Augen langsam an das Halbdunkel gewöhnten, streckte er sicherheitshalber seine Arme aus, um nicht gegen eine Mauer oder ein anderes Hindernis zu laufen. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts und begann den Raum zu erkunden. Er war gerade an der gegenüberliegenden Wand angekommen, als er hörte, wie sich Schritte näherten und ein offenbar sehr massiver Riegel zurückgeschoben wurde.

6

Nicolas kämpfte missmutig mit einem staubtrockenen Behördentext, der in seinem Juristenkauderwelsch erklärte, dass zwar die Abwässer seines Hauses in eine Versitzgrube entsorgt werden, Nicolas aber trotzdem Kanalgebühren zahlen müsse, weil ein Anschluss an das Kanalnetz theoretisch möglich wäre, da dieses in seiner Straße vorhanden sei.

Mag ja sein, ihr Komiker, dachte Nicolas, aber die Straße liegt nun mal oberhalb meines Grundstücks, und Scheiße schwimmt höchstens in der Politik nach oben. Im realen Leben unterliegt sie aber der Schwerkraft. Physikalische Gesetze schienen jedoch den Staat nicht zu stören, wenn es um mögliche Gebühreneinnahmen ging. Genervt legte er den Schrieb zur Seite und sah aus dem Fenster. Seine Laune besserte sich schlagartig, als er Nathalie erspähte, die gerade mit ihrem Auto durch die Einfahrt rollte.

Sie war am Morgen nach Nizza hinuntergefahren, um in der FNAC nach Schwangerschaftsratgebern und Büchern über das tägliche Leben mit einem Baby zu stöbern, und wollte gleichzeitig dem Tipp der Kellnerin nachgehen.

Nicolas hoffte, dass Gabriela immer noch dort arbeitete. Wie dem auch sei, Nathalie hatte bestimmt die halbe Abteilung geplündert. Immer wenn sie wieder allzu hemmungslos eingekauft hatte, zog er sie regelmäßig mit dem Spruch auf, dass er ganz genau wisse, wo sich der geheimnisvolle G-Punkt der Frauen befände: nämlich ganz am Ende des Wortes »Shopping«.

Er ging hinaus, um ihr beim Tragen zu helfen. Als er den Kofferraum öffnete und die prall gefüllten Tragetaschen inspizierte, meinte er nur: »Bis du das alles gelesen hast, ist das Kind wahrscheinlich schon auf dem Gymnasium«, was ihm natürlich einen kräftigen Klaps auf den Oberarm einbrachte. »Hast du wenigstens Neuigkeiten von Gabriela?«, fragte er, während sie zum Haus gingen.

»Ja, sie hatte sogar zufällig gerade Dienst, und wir haben uns kurz unterhalten können. Erzähl ich dir gleich alles in Ruhe, aber erst mal muss ich ganz dringend wohin«, sagte sie und verschwand im Laufschritt in Richtung Bad.

»Schwangere und ihre Blase«, meinte Nicolas grinsend, aber vorsichtshalber so leise, dass sie es nicht hörte.

Als Nathalie zurückkam, stand Nicolas gerade in der Küche und schnitt Zitronenrädchen für die beiden Gläser Mineralwasser, da er zu Recht annahm, dass Nathalie nach der Fahrt in praller Sonne durch Nizza am Verdursten war.

Dankbar nahm sie einen großen Schluck. »Also«, begann sie, »der aktuelle Stand der Dinge ist, dass sie wohl nicht mehr mit Tom liiert ist. Die Arme, das hat ihr wohl sehr zugesetzt. Sie bekam ziemlich feuchte Augen, als sie mir das erzählte. Sie hatten sich zwar oft tagelang nicht gesehen wegen ihrer unterschiedlichen Arbeitszeiten, sie tagsüber und Tom nachts, aber das letzte Mal ist nun schon eine gute Woche her.«

»Hat Tom Schluss gemacht?«, wollte Nicolas wissen.

»Nein, er sei eigentlich ganz normal gewesen, wie immer halt. Aber sie hatte bei ihm manchmal das Gefühl, dass es von seiner Seite aus ein eher loses Verhältnis gewesen sei, und da sie nichts mehr gehört hatte, befürchtete sie, dass Tom nicht mehr an ihr interessiert war. Irgendwie traut sie sich aber nicht, Tom anzurufen, um eine Antwort einzufordern. Wahrscheinlich hat sie Angst vor dieser Antwort.«

»Hm, irgendwie ist das ganz und gar nicht Toms Art, jemanden einfach so links liegen zu lassen. Weiß sie wenigstens, wo er sich die letzte Zeit rumgetrieben hat und wo er jetzt stecken könnte?«

»Nein, sie hat sich vor ein paar Tagen sogar umgehört, ob er irgendwo spielen würde. Ich nehme an, sie wollte dann dort ›zufällig‹ vorbeischauen, um zu sehen, ob er vielleicht mit einer anderen dort ist. Als ich ihr sagte, dass seine Vermieterin ihn als vermisst gemeldet hat und in seinem Zimmer der demolierte Verstärker gefunden wurde, da hat sie es natürlich auch mit der Angst zu tun bekommen.«

»Hat sie eine Idee, wen wir noch fragen könnten?«

»Nicht wirklich. Von seinen Musikern kennt sie keinen einzigen. Sie hat sich von der brasilianischen Szene in Nizza immer ferngehalten, da die meisten dieser Jungs nur kurzfristiges Vergnügen suchten, um es einmal höflich zu umschreiben.«

»Und wie hat sie dann Tom kennengelernt?«

»Ganz zufällig. Eines Nachmittags hat er bei ihr auf der Arbeit in der Kartenvorverkaufsabteilung Kostproben seiner Musik gegeben, um die Kunden zum Ticketkauf für eines seiner Konzerte zu animieren.«

»Wenn selbst seine Freundin keine weiteren Anhaltspunkte findet, sehe ich für uns erst recht schwarz.«

»Eine Möglichkeit wäre da vielleicht noch. Kommt drauf an, ob du damit etwas anfangen kannst: Gabriela hat ihn vor einiger Zeit in ein Möbeldepot begleitet. So ein Service, wo die Leute Container oder Räume mieten können, um ihre Sachen einzulagern. Sie sind damals eine Ausfallstraße rausgefahren. Sie kannte diese Gegend überhaupt nicht, dabei ist es ein direkter Vorort von Nizza. Drap oder so ähnlich. Sagt dir das was?«

»Nur vage. Und dass du das nicht kennst, wundert mich gar nicht. Das ist nämlich eine Gegend, in die wir mit unseren Kunden mit Sicherheit nie hinfahren werden. Wie Gabriela sich ganz richtig erinnert, fährt man auf dem Weg dahin durch den Nordosten von Nizza, durch das Viertel von Ariane. Die Polizei rät denen, die dort durchmüssen oder von der Autobahn abfahren, an der Ampel vorsichtshalber die Autotüren zu verriegeln. Anschließend kommst du durch ein paar Ortschaften mit kleinen Gewerbegebieten. Dass dort auch solche Lagerhallen stehen, kann ich mir gut vorstellen. Aber was sollte Tom denn dort einlagern wollen?«

»Gabriela war auch überrascht. Sie dachte anfangs, Tom wäre so der typische ›Junge mit dem Gitarrenkoffer‹, der sich mit seinen kleinen Gigs durchschlägt, ohne sich über das Morgen Gedanken zu machen. Tatsächlich ist aber das ganze Equipment sein eigenes: die Lautsprecheranlage, Mischpult, Effektgeräte und diverse brasilianische Percussion-Instrumente, die er bei Bedarf seinen Musikern zur Verfügung stellt. Sie war schwer beeindruckt, denn offensichtlich hat er einen ganzen Raum voll davon bis unter die Decke gestapelt.«

»Ehrlich gesagt hätte ich ihm das auch nicht zugetraut. Ich habe ihn ganz automatisch für einen relativ planlos vor sich hin lebenden Musiker gehalten«, gab Nicolas zu. »Da habe ich ihn wohl mächtig unterschätzt.«

»Wenn ich es mir richtig überlege«, räumte Nathalie ein, »kennen wir Tom zwar nun schon eine ganze Weile, aber wissen tun wir eigentlich gar nichts über ihn. Hast du jemals mit ihm über seine Zeit in Brasilien geredet? Weißt du, wie oder weshalb er nach Europa gekommen ist?«

»Na, du weißt doch selbst, wie es war«, verteidigte sich Nicolas. »Wenn er hier bei uns vorbeikam, dann habe ich die ganze Zeit mit ihm Gitarre gespielt, oder wir haben nach Liedern gestöbert, die wir für unser Programm neu interpretieren könnten. Und die paar Mal, die du und ich ihn in der Stadt getroffen haben, war es immer während eines seiner Konzerte. In den kurzen Pausen ging es dann meist um den Gig, oder wir machten Small Talk.«

»Na, wir sind schon tolle Freunde«, meinte Nathalie frustriert.

»Das kannst du laut sagen«, pflichtete ihr Nicolas bei. »Erinnerst du dich noch dran, als ich die alte, hässliche Hecke am unteren Gartenzaun rausgerissen habe? Da kam Tom zufällig vorbei und hat mir ganz selbstverständlich zwei Stunden lang dabei geholfen. Abends hat er dann in einem Restaurant gespielt und von der Gartenarbeit lauter kleine Risse und Schnitte an den Fingern gehabt. Das muss echt wehgetan haben. Und ich? Ich weiß nicht mal, wo er genau wohnt!«

»Ach komm, ihr seid immer so mit eurem Gitarrenprojekt beschäftigt, da ist eben nicht mehr viel Platz für anderes übrig. Ich fand das aber auch ganz sympathisch, und mir ist das auf alle Fälle lieber, als wenn mein Mann mit seinem Kumpel ständig in irgendwelchen Bars abhängen würde oder seine Wochenenden vor der Sportschau vertrödelt«, sagte Nathalie.

»Apropos Partner. Wie bist du eigentlich mit Gabriela verblieben? Meinst du, sie würde das Lagerhaus wiederfinden?«

»Nachdem ich ihr das von der Vermisstenanzeige erzählt habe, hat sie mir ihre Handynummer gegeben, damit wir uns gegenseitig auf dem Laufenden halten können. Ich rufe sie gleich mal an.«

7

Nathalie leckte sich genüsslich das Olivenöl von den Fingern. Socca war ihr erklärter Lieblingssnack geworden, seit sie hier in Nizza lebte. Ein relativ flüssiger Teig aus Kichererbsenmehl, Wasser und Olivenöl, der, in reichlich Olivenöl auf verzinnten Kupferpfannen, kurz in einem knallheißen, holzbefeuerten Ofen zu pfannkuchenartigen Fladen gebacken und dann, nur mit etwas frisch gemahlenem Pfeffer gewürzt, in Stücke gerupft und mit den Fingern gegessen wurde. Den dazu ansonsten üblichen Roséwein hatte sie allerdings durch ein Mineralwasser ersetzt.

Gabriela war heute nur für eine Sechs-Stunden-Schicht eingeteilt gewesen und hatte somit schon im Laufe des Nachmittags frei. Als Nathalie anrief, war sie nur allzu gern bereit, die beiden zu treffen und sich gemeinsam auf Spurensuche zu begeben. Sie verabredeten sich im Chez René Socca, das in einer der kleinen Gassen der Altstadt lag, nur ein paar Tramhaltestellen von Gabrielas Arbeit entfernt.

Nicolas wollte Gabriela ursprünglich direkt von der Arbeit abholen, um nach Toms Lagerraum zu suchen, aber Nathalie bestand darauf, dass Gabriela erst einmal etwas zu essen bekommen sollte, da sie ja schließlich nicht wussten, wie lange ihr Ausflug dauern würde. Das Chez René Socca schien der ideale Kompromiss, denn dort konnte man an einer Straßenverkaufstheke die leckersten Nizzaer Spezialitäten kaufen und dann direkt an einem der vielen Holztische essen, ohne viel Zeit zu verlieren.

Nicolas kam gerade vom Ausschanktresen zurück und balancierte geschickt drei Kaffees durch die vorbeiflanierenden Touristen hindurch.

»Ich hoffe, ich finde das Gebäude wieder«, meinte Gabriela nervös zu Nathalie. »Mein Orientierungssinn ist nicht gerade der beste, und das sah alles irgendwie gleich aus.«

»Gabriela, du bist ein Mädchen! Niemand erwartet von dir, dass du eine Adresse auf Anhieb findest«, meinte Nicolas gespielt verständnisvoll. »Wenn du sagst ›links‹, fahre ich nach dem ›anderen Links‹ – Männer sagen dazu ›rechts‹ –, und so finden wir das Lager dann schneller, als du denkst.«

Das brachte ihm natürlich postwendend eine Retourkutsche von Nathalie ein: »Oh Mann, hör sich einer ›Monsieur GPS‹ an! Muss beim Rückwärtsfahren die Musik leiser drehen, damit er besser sehen kann, wo er hinfährt, macht sich dann aber über weibliche Navigationsdefizite lustig.«

Nach dem Kaffee machten sie sich schließlich auf den Weg zu Nicolas’ Wagen, den er in der öffentlichen Tiefgarage unter dem Nationaltheater geparkt hatte.

Die Garagenausfahrt mündete direkt auf den Boulevard Risso, der sie in wenigen Minuten aus der Stadt hinausbringen würde. Das war mit ein Grund gewesen, warum Nicolas Gabriela gebeten hatte, ihnen mit der Trambahn ein Stück entgegenzukommen. Gabrielas Arbeitsplatz lag nämlich inmitten des Stadtkerns mit all seinen kleinen Einbahnstraßen, wo Lieferwagen ständig Staus produzierten, wenn sie anhielten, um ihre Ware zu entladen, und somit zwangsläufig die einzig verfügbare Fahrbahn blockierten.

Der Boulevard tauchte nur wenige hundert Meter später, an der Ausstellungshalle Acropolis, in einen Tunnel ab, und von da an fuhren sie unterirdisch aus der Stadt hinaus. Als sie endlich wieder ans Tageslicht kamen, befanden sie sich bereits außerhalb des dicht bebauten Zentrums auf der mehrspurigen Straße, gesäumt von lieblosen Wohnblocks mit unzähligen Satellitenschüsseln an den Balkonen. Einzige Farbtupfer in dieser Tristesse waren die Wäscheleinen mit den grellbunten Gewändern der Franzosen mit kreolischen oder arabischen Wurzeln, die hier den Großteil der Bewohner stellten.

Jetzt ging der Boulevard in eine kreuzungsfreie Ausfallstraße namens Paillon über, die ihren Namen von dem gleichnamigen Fluss hatte, der aus den Bergen kommend ganz Nizza unterirdisch durchquerte und vorn an der Promenade des Anglais ins Meer mündete.

Sie fuhren jetzt jedoch stromaufwärts, und da noch kein Feierabendverkehr herrschte, kam bereits nach weniger als einer Viertelstunde das Ortsschild von Drap in Sicht.

Nicolas hatte sich bereits vorher erkundigt und blieb zunächst auf der Umgehungsstraße. Im alten Ortskern von Drap standen die Wohnhäuser dicht an dicht – da war kein Platz für Lagerhäuser. Erst hinter der eigentlichen Ortschaft befanden sich diverse kleine Gewerbezonen.

Sie waren nun schon durch mehrere menschenleere Straßen gefahren, wo sich Lagerschuppen an kleine Gewächshäuser reihten, Handwerksbetriebe ihre Werkstätten hatten, teilweise mit dem Wohnhaus des Inhabers direkt nebenan.

Während sie die Gegend absuchten, fragte sich Nicolas, was Tom wohl hier hinaus verschlagen hatte.

Links von ihnen erregte ein Gabelstapler kurz seine Aufmerksamkeit. Er manövrierte vorsichtig eine prall bepackte Palette in einen Transporter.

Da rief Gabriela aufgeregt: »Nicolas, das Gebäude dahinter, das mit den vielen Toren, das könnte es sein.«

Sofort bog er in die Zufahrtstraße ein und fuhr in den Ladehof vor dem Gebäude. Die Tore entpuppten sich beim Näherkommen als deckenhohe Rolltore auf einer Laderampe. Lastwagen konnten hier rückwärts an die Rampe rangieren, damit man Waren direkt in deren Laderaum hineinrollen konnte, ohne ständig die hydraulische Hebebühne zu bemühen. Zum Aufladen von sperrigem und teilweise recht schwerem Bühnenequipment war das recht praktisch.

»Bist du sicher, dass es das richtige Lager ist?«, fragte Nicolas zweifelnd, da er nirgendwo eine Werbetafel oder ein Firmenschild entdecken konnte.

»Ja, das ist es«, meinte sie aufgeregt. »Wir sind damals von der anderen Seite gekommen.« Sie deutete auf eine zweite Zufahrt, die gegenüber vom Hof führte. »Deswegen habe ich es wahrscheinlich nicht gleich wiedererkannt. Kommt mit, das Verwalterbüro ist auf der Huckseite.« Vor allem wenn sie so aufgeregt war, sprach Gabriela – wie alle Brasilianer – das R wie ein H aus. Nicolas und Nathalie kannten das auch schon von Tom. Sie folgten ihr auf die Rückseite des Gebäudes.

Eine schwere Eisentür stand weit offen. Damit sie nicht zufallen konnte, war sie mit einer Schnur am Haken eines Fensterladens festgezurrt. In der Mitte der Tür prangte ein handgemaltes Schild, auf dem »Offen« stand. Nicolas war sich sicher, würde man die Tür schließen, klebte auf deren Außenseite ein entsprechendes Schild mit der Aufschrift »Geschlossen«. Ein Aushang mit detaillierten Angaben zu den Öffnungszeiten war in Frankreich keine Pflicht.

Als sie aus der hellen Sonne in das düstere Gebäude traten, konnten sie nicht viel erkennen, aber Gabriela wandte sich zielsicher nach rechts, und dort befand sich eine weitere offene Tür, aus der sie der übergewichtige Verwalter über seinen Schreibtisch hinweg wortlos ansah, was er offensichtlich als Begrüßung für ausreichend befand. Gabriela ließ Nicolas den Vortritt.

Ein Blick auf den Verwalter genügte, und Nicolas wusste, dass dieser mit Sicherheit schon alle rührseligen Geschichten kannte, sei es von säumigen Mietern, Leuten, die vorzeitig aus ihrem Vertrag rauswollten, oder was es sonst noch an Problemen rund um seinen Lagerservice gab. Dem Mann konnte man vermutlich keinen Bären mehr aufbinden. Nicolas beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben.

»Ein Freund von uns hat hier bei Ihnen einen Lagerraum gemietet, Antônio Ortiz. Die Gendarmerie hat uns informiert, dass in seinem Apartment eingebrochen wurde, und er selbst ist seitdem verschwunden. Seine Freundin hier, vielleicht erinnern Sie sich an sie, war vor einiger Zeit mit ihm hier. Sie hat auch nichts mehr von ihm gehört. Wäre es möglich, einen Blick in Monsieur Ortiz’ Lagerraum zu werfen, um zu sehen, ob dort alles in Ordnung ist?«

Der Mann überlegte kurz und befand ihr Anliegen offenbar als gerechtfertigt. Er schien seine Mieter gut zu kennen, denn ohne eine Kundenliste zu konsultieren, schloss er ein Schränkchen hinter sich auf und nahm zielstrebig einen Schlüssel von einem der darin befindlichen Haken.

Nachdem der Verwalter die Tür zu Toms Lager aufgeschlossen hatte, machte er Licht und stellte sich in die Mitte des Raums. Es war offensichtlich, dass er nicht vorhatte, Nicolas und seine Begleiterinnen aus den Augen zu lassen.

Neben einer beeindruckenden Armada elektronischer Konsolen und Geräte befand sich hier auch eine Ansammlung diverser Trommeln. Hauptsächlich typisch brasilianische Percussion-Instrumente, wie Berimbaus, die an einen Spielzeugbogen erinnerten, an dessen unterem Ende ein ausgehöhlter Kürbis befestigt war, Batuque-Trommeln, die verschiedensten Caxixi, mit Muscheln oder Kieseln gefüllte Körbchen und noch viele andere Instrumente, von denen selbst Nicolas einige noch nicht kannte. Er entdeckte auch ein in seine Bestandteile demontiertes Schlagzeug. Es wies zwar deutliche Gebrauchsspuren auf, aber es verfügte offensichtlich über weit mehr Einzelteile als ein typisches Basis-Drumset. In einer Ecke standen einige Kisten mit Maracas, Triangeln und weiteren Rasseln. Gegenüber der Tür lagen auf dem Boden die zwei großen Lautsprecherboxen, die Nicolas schon des Öfteren bei Toms Konzerten gesehen hatte. Bisher hatte er jedoch angenommen, dass es sich um die hauseigene PA-Anlage des jeweiligen Lokals handelte. Offensichtlich waren aber auch sie Toms Eigentum.

Die Rückwände waren geöffnet worden, und graue Wolle quoll aus dem Inneren hervor. Nicolas musste sofort an Toms Verstärker im Apartment denken, der gewaltsam geöffnet worden war. Aber hier lagen ein Schraubenzieher und direkt daneben ein Schälchen, in dem die Schrauben sorgsam aufbewahrt wurden. Das sah nicht nach einem Einbrecher aus, der sie – zu welchem Zweck auch immer – hastig geöffnet hatte.

Nicolas fluchte innerlich, dass sie hier wohl schon wieder in einer Sackgasse gelandet waren. Er bedankte sich bei dem Verwalter für dessen Hilfe, und sie verließen den Lagerraum.

Als der Verwalter gerade mit dem Absperren beschäftigt war, bog ein junger Mann um die Ecke. Er blieb wie angewurzelt stehen, entspannte sich aber wieder, als er den Verwalter erkannte.

»Salut Julien, vielleicht kannst du den Leuten hier weiterhelfen – Freunde von Tom.«

Nachdem ihm Nicolas die Situation erklärt hatte, meinte Julien: »Tut mir leid, da kann ich euch auch nicht viel dazu erzählen. Ich sehe Tom manchmal tage- oder sogar wochenlang nicht. Für seine Gigs hier in der Gegend kümmert er sich selbst um alles, und bei größeren Auswärtsauftritten bekomme ich vom Veranstalter per E-Mail das Roadbook.«

»Das was?«, fragte Nathalie.

»Die Infos rund ums Konzert, wann es stattfindet, in welcher Besetzung und welches Equipment benötigt wird. Ich fahre dann hier raus und bereite die Elektronik vor. Das war’s. Die Instrumente auszuwählen und das Einladen ist dann Toms Sache. Meist macht er das direkt vor der Abfahrt, zusammen mit den Musikern. Ich bin ja bei den Konzerten nie dabei. Ich bin nur für die Instandhaltung und eventuelle Reparaturen zuständig, Software-Updates und all so