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Germinal Civikov
Srebrenica
Der Kronzeuge

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

© 2009 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Inhalt
EINFÜHRUNG
„PROFIS WAREN WIR, KEINE SÖLDNER
DIE GESCHICHTE DES DRAŽEN ERDEMOVIĆ
FESTNAHME UND AUSLIEFERUNG
DIE SACHE MIT DEM GEWISSEN
ZUR GEWISSENSENTLASTUNG NACH DEN HAAG
DIE ANKLAGE
DAS ZURÜCKGENOMMENE SCHULDBEKENNTNIS
VON ARMEE ZU ARMEE
DIE GESTÖRTE RANGORDNUNG I
VERNEHMUNG DES VERNEHMUNGSUNFÄHIGEN
DER ANGEKLAGTE ALS ZEUGE DER ANKLAGE
DER MORDBEFEHL EINES RANGLOSEN
DIE TAT
EINE KLEINE ARITHMETIK
AM ORT DER WAHRHEIT
WIE VIELE ERSCHOSSENE?
DIE GESTÖRTE RANGORDNUNG II
RANG UND ANSTAND
WIDERSTAND UND MORDANSCHLAG
WIDERSPRÜCHLICHES AM VORABEND DES MASSAKERS
ELF JAHRE SPÄTER
WEITERE WIDERSPRÜCHE AM VORABEND DES MASSAKERS
DER ZEUGE DRAGAN TODOROVIĆ UND DER RÄTSELHAFTE 15. JULI 1995
OBERST PETAR SALAPURA UND DAS FREIZEITMASSAKER
VOM ERSTEN UND LETZTEN
DAS URTEIL
THE FRENCH CONNECTION
RACHE UND GELD?
DER BEFOHLENE WAHNSINN
DIE UNZULÄSSIGE FRAGE
EINE GEGENGESCHICHTE
SCHLUSSWORT
GERICHTSDOKUMENTE (FAKSIMILE)
QUELLENVERZEICHNIS
KURZER CHRONOLOGISCHER ÜBERBLICK
DER AUTOR

EINFÜHRUNG

Am 25. August 2003 trat der bosnische Kroate Dražen Erdemović vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag als Zeuge der Anklage im Prozess gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević auf. Als Angehöriger einer Spezialeinheit der bosnisch-serbischen Armee soll Erdemović am 16. Juli 1995 gemeinsam mit sieben weiteren Angehörigen seiner Einheit auf der Branjevo-Farm bei dem nördlich von Srebrenica gelegenen Dorf Pilica in Bosnien 1000 bis 1200 bosnisch-muslimische Zivilisten erschossen haben. Milošević hatte sich u.a. wegen Völkermords an den bosnischen Muslimen zu verantworten, und Erdemovićs Zeugenaussage galt diesem Völkermord, der in den Tagen nach dem Fall von Srebrenica am 11. Juli 1995 an mehreren Orten, so auch auf dem Gelände der Branjevo-Farm bei Pilica, verübt worden sein soll. Die Aussage Erdemovićs gab keinerlei Anhaltspunkte für die Frage, ob und inwiefern Milošević dafür verantwortlich war. Erdemović bestätigte lediglich, dass der Massenmord auf der Branjevo-Farm tatsächlich stattgefunden hatte. Für die persönliche Verantwortung Miloševićs hingegen hatte die Anklage weitere Beweise in Aussicht gestellt. Diese ist sie uns bis heute schuldig geblieben. Das besondere Gewicht der Aussage von Erdemović ergab sich allerdings daraus, dass er der einzige unmittelbare Täter ist, der im Zeugenstand eine Massenerschießung von bosnisch-muslimischen Zivilisten durch Angehörige der bosnischserbischen Armee bestätigte. Aufgrund seines 1996 abgelegten Geständnisses wurde Erdemović 1997 vom Haager Tribunal zu 5 Jahren Haft verurteilt. Nach dreieinhalb Jahren war er wieder auf freiem Fuß. Ein Kronzeuge, dessen Aussage auch in mehreren Prozessen vor und nach dem Milošević-Prozess verwendet wurde, in denen es um eine Anklage des Völkermordes an den bosnischen Muslimen nach dem Fall von Srebrenica ging.

Die Aussage von Erdemović am 25. August 2003, die ich aufmerksam beobachtet habe, erschien mir sehr problematisch. Es ist einfach unmöglich, in kaum 5 Stunden 1200 Menschen auf die vom Zeugen dargestellte Art und Weise zu erschießen. Das konnte man sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, aber die Richter ließen keinen Zweifel an dieser Zahl erkennen. Mehrere Fragwürdigkeiten ergaben sich auch im Kreuzverhör, das dem Angeklagten Milošević unter großen Einschränkungen zugestanden wurde. Auf seine Hinterfragungen reagierten die Richter mit wachsender Nervosität, sie ließen manche Fragen gar nicht zu und drängten den Angeklagten, sein Kreuzverhör schnell zu beenden. Dabei dürfte es kein Problem sein, diese Fragwürdigkeiten aufzuklären, denn der Zeuge hatte alle seine Mittäter mit Vor- und Familiennamen genannt. Als aber Milošević die Frage stellte, wie es sich der Zeuge erkläre, dass nur er allein sich für dieses Massaker auf der Branjevo-Farm verantworten müsste, schnitt ihm der Richter das Wort ab. Das sei keine Frage für den Zeugen, sagte der Richter Richard May. Der Angeklagte hatte offensichtlich eine sehr empfindliche Stelle der Anklagebehörde des Tribunals berührt.

Ist das nicht merkwürdig? Es ist die Rede vom schlimmsten Verbrechen in Europa nach dem 2. Weltkrieg, das vom Tribunal als Völkermord eingestuft wurde, doch die Frage nach den anderen Tätern eines der größten Massaker innerhalb dieses Verbrechens darf nicht einmal gestellt werden? Ich nahm mir vor, alle zugänglichen Dokumente zum Fall Erdemović aufmerksam zu studieren, und meine Lektüre war von wachsendem Staunen begleitet. Seine Darstellung des Massenmords auf der Branjevo-Farm ist in ihren zahlreichen Varianten dermaßen widersprüchlich und inkonsistent, dass man sich bei fortgesetzter Lektüre immer öfter fragt, was sie mit all ihren offensichtlichen Unglaubwürdigkeiten eigentlich verbergen will. Vergeblich sucht man auch nach einer Erklärung für die Tatsache, dass die Richter, die Erdemović in mehreren Verfahren als Zeugen anhörten, kein einziges Mal seine Glaubwürdigkeit angezweifelt haben und nur ein einziges Mal die Frage stellten, ob der Ankläger nicht auch die Mittäter von Erdemović verhören und anklagen will.

Dražen Erdemović wurde am 3. März 1996 in Serbien festgenommen und schon beim ersten Verhör durch die jugoslawische Justiz am 6. März 1996 nannte er die Namen seiner sieben Mittäter, wie auch den Namen seines Kompaniechefs, auf dessen Befehl der Massenmord verübt worden sein soll. Von der jugoslawischen Justiz wurde zügig ein gerichtliches Verfahren gegen Erdemović eingeleitet, doch schon am 30. März wurde er dem Tribunal in Den Haag ausgeliefert, wo er als Angeklagter und später als Zeuge der Anklage in mehreren anderen Verfahren die Namen seiner Mittäter immer wieder aufzählte. Bis auf den heutigen Tag aber wurde keine dieser Personen als Täter angeklagt oder als Zeuge einvernommen. Das vorliegende Buch ist die Suche nach einer Erklärung dafür.

Nach der ersten Anhörung seines Geständnisses am 31. Mai 1996 in Den Haag wurde Erdemović auf ungewisse Zeit für vernehmungsunfähig erklärt, da er an posttraumatischen psychischen Störungen litt. Schon am 5. Juli 1996 trat aber der Vernehmungsunfähige als Zeuge der Anklage in der Anhörung gegen Karadžić und Mladić auf. Mit der Aussage von Erdemović begründeten die Richter den internationalen Haftbefehl gegen die zwei bosnisch-serbischen Bösewichte. War das vielleicht der Grund, weshalb sie für die manifeste Unglaubwürdigkeit dieser Aussage blind waren? Zugleich drängt sich die Frage auf, ob selbst dieser eine Täter vor dem Tribunal erschienen wäre, wenn nicht schon vorher die jugoslawische Polizei ihn verhaftet und die jugoslawische Justiz ein Verfahren gegen ihn eingeleitet hätte.

Dass in diesem Buch mehr Fragen gestellt als beantwortet werden, hat seine Gründe. Transparenz ist nicht gerade die größte Tugend des Jugoslawien-Tribunals. Was sich in den zahlreichen „halbgeschlossenen“ und „ganz geschlossenen“ Gerichtssitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zugetragen hat, ist nur wenigen bekannt. Und was sich am 16. Juli 1995 auf der Branjevo-Farm tatsächlich ereignet hat, würden wir erst wissen, wenn alle Täter verhört würden. Doch gerade das wurde und wird nicht getan. Bekanntlich ist aber die gut gestellte Frage bereits die halbe Antwort. Eines dürfte allerdings klar sein: In seiner Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung verfährt das Jugoslawien-Tribunal nicht so, wie man es in unserer rechtsstaatlichen Tradition erwarten würde. Würde man es in einem normalen Strafverfahren akzeptieren, dass ein Richter einen Täter aufgrund seines Geständnisses zu einer extrem milden Strafe verurteilt, seine Mittäter aber nicht einmal verhört? Würden sich dann nicht alle Medien auf diesen Richter stürzen und unbedingt wissen wollen, was es damit alles auf sich hat? Will dieser Richter vielleicht die Aussage des Geständigen nicht durch die Aussagen seiner Mittäter in Gefahr bringen? Oder steckt viel mehr dahinter? Haben vielleicht diese Täter etwas zu erzählen, das die Öffentlichkeit nicht wissen darf? Werden hier vielleicht Täter in Schutz genommen, anstatt sie strafrechtlich zu verfolgen?

Im Fall Erdemović will aber auch die Öffentlichkeit dies alles offensichtlich nicht wissen und jubelt, dass ein gewisser Radovan Karadžić endlich diesem Richter vorgeführt und möglichst zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt wird. Im anstehenden Karadžić-Prozess wird Dražen Erdemović vermutlich wieder einmal aus seiner zweiten und beschützten Identität für die Dauer einer Gerichtssitzung heraustreten, um als beschützter und unsichtbarer Zeuge der Anklage zum vierten Mal über die Erschießung von 1200 bosnisch-muslimischen Zivilisten auf der Branjevo-Farm auszusagen. Der Gegenstand dieser Aussage gilt mittlerweile beim Tribunal als „established truth beyond a reasonable doubt“, d.h. als eine etablierte Wahrheit, die nicht mehr zur Debatte steht. Sie zu hinterfragen wäre sinnlos. Tun wir es trotzdem.

Für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für zahlreiche wertvolle Vorschläge bin ich Prof. Werner Sauer (Graz) zu herzlichem Dank verpflichtet.

Zur Zitierweise: Der Ursprung sämtlicher Zitate aus Gerichtsprotokollen und außergerichtlichen Vernehmungen ist aus dem Quellenverzeichnis zu entnehmen. Bei Zitaten aus Gerichtsprotokollen verweisen Ziffer und Seitenzahl auf die Dokumente (Transcripts), die das Jugoslawien-Tribunal in englischer Sprache auf seiner Internet-Seite zugänglich gemacht hat. Bei Zitaten aus den außergerichtlichen Vernehmungen – es handelt sich um öffentlich nicht zugängliche „Interviews“ der Ermittler der Anklagebehörde des Tribunals mit Erdemović in zweisprachiger Ausfertigung – wird immer das Datum und in Klammern die Seitenzahl der englischen und serbokroatischen Sprachvariante angegeben. Relevante Auszüge aus diesen Dokumenten sind in der Beilage vorhanden. So weit wie möglich erfolgt die deutsche Übersetzung der Zitate aus der serbokroatischen Vorlage und nicht aus ihrer englischen Übersetzung.

Germinal Civikov

Den Haag, im Dezember 2008

„PROFIS WAREN WIR, KEINE SÖLDNER

Unter diesem Titel erschien in der bosnisch-serbischen Zeitung Nezavisne Novine vom 21. November 2005 ein in mehrerer Hinsicht bemerkenswertes Interview. Der Mann, der als Profi und nicht als Söldner in die Geschichte eingehen will, ist Milorad Pelemiš, Kommandant einer Einheit der bosnisch-serbischen Armee (VRS), die unter dem Namen „10. Sabotageeinheit“ im Sommer 1995 tatsächlich Geschichte machte. Aus dem Interview erfährt man ferner, dass besagter Milorad Pelemiš nicht untergetaucht ist, sondern ungestört mit Frau und Sohn in Belgrad ein normales Leben führt. Zum Interview trifft man sich in der Kneipe „Kod Çike“ in Novi Beograd. Auf die Frage, ob seine Adresse auch den Ermittlern des Haager Tribunals bekannt sein dürfte, antwortet Pelemiš, das sei ganz gewiss der Fall, aber darüber brauche er sich keine Sorgen zu machen.

Den Namen Milorad Pelemiš als Kommandanten der 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee (VRS) bringt als Erster der bosnische Kroate Dražen Erdemović in die Öffentlichkeit, der als Angehöriger dieser Einheit schon 1996 vor mehreren Medien und zwei Justizbehörden ein grausiges Geständnis ablegt. Am 16. Juli 1995 habe er auf der Branjevo-Farm beim Ort Pilica in Bosnien, auf der Schweine für die VRS gezüchtet wurden, an der Erschießung von 1200 gefangenen bosnischen Muslimen aus Srebrenica teilgenommen. Dabei erwähnt er namentlich weitere sieben Angehörige dieser Einheit, die an der Erschießung teilgenommen hätten, und den Namen seines Vorgesetzten, eben Milorad Pelemiš, von dem der Befehl für die Erschießung der Gefangenen ergangen sein soll. Wie viele davon er persönlich erschossen habe, wisse er nicht genau, es müssten aber, sagt er, zwischen 70 und 100 gewesen sein. Aufgrund seines Geständnisses, nach dem er nicht nur an einem Massenmord teilgenommen, sondern auch persönlich Massenmord begangen hatte, wurde Erdemović vom Jugoslawien-Tribunal in Den Haag schließlich am 5. März 1998 zu gerade fünf Jahren verurteilt, von denen er überdies tatsächlich nur dreieinhalb Jahre absitzen musste. Mit seiner Verurteilung aber wurde die Geschichte von den 1200 exekutierten muslimischen Zivilisten der wichtigste direkte Beweis für ein Kriegsverbrechen, das vom Jugoslawien-Tribunal zum „Völkermord an den bosnischen Muslimen“ erklärt wurde. Der Kommandant der 10. Sabotageeinheit der VRS, Milorad Pelemiš, der diesen Massenmord angeordnet haben soll, lebt ungestört in Belgrad und gibt Interviews für die Presse. Carla del Ponte, die langjährige Chefanklägerin des Tribunals, war anscheinend dermaßen mit der Jagd auf Karadžić und Mladić beschäftigt, dass sie für Pelemiš offenbar nicht einmal soviel Interesse aufbringen konnte, um ihn auch nur als Zeugen zu verhören. Im Interview gibt sich Pelemiš jedenfalls ganz unbesorgt:

NN: Haben die Haager Ermittler Sie verhört?

Pelemiš: Nein, niemals.

NN: Ob sie denn Ihre Adresse kennen?

Pelemiš: Wahrscheinlich kennen sie meine Adresse. Sie ist ja gar kein Geheimnis. (…)

NN: Fürchten Sie Den Haag?

Pelemiš: Nein. Warum sollte ich?1

Wir können aber weiter staunen. Dražen Erdemović ist nach wie vor der einzige Zeuge, der als Täter den Beweis für den Mord an 1200 muslimischen Zivilisten liefert, obgleich er als Angeklagter und später als Zeuge der Anklage in mehreren Strafverfahren beim Tribunal die Namen seiner Mittäter laut und deutlich nennt. Es sind dies Franc Kos, Marko Boškić, Zoran Goronja, Stanko Savanović, Brano Gojković, Aleksandar Cvetković und Vlastimir Golijan. Alle diese Namen sind der Anklagebehörde des Tribunals jedenfalls seit Anfang 1996 vertraut. Dem Protokoll zufolge erfahren die Richter von dieser merkwürdigen Angelegenheit bei der Anhörung am 19. November 1996 nach einer direkten Frage an den Ankläger Harmon, ob Erdemović bezüglich der Verbrechen, über die er ausgesagt hatte, auch die Identität der Täter bekannt gegeben habe. Harmon darauf:

Harmon: Immer, wenn ihm die Identität der Täter bekannt war, hat Herr Erdemović sie uns mitgeteilt. Der verantwortliche Offizier der Einheit, der den Mord in Srebrenica befohlen hat, ist Leutnant Pelemiš, der die Leitung der 10. Sabotageeinheit hat. Die Namen der Angehörigen der Exekutionsgruppe, die am Vorfall vom 16. (Juli 1995, d. A.) auf der Farm beteiligt waren, hat uns auch Herr Erdemović gegeben; der Anführer dieser Gruppe war Brano Gojković. Die anderen Angehörigen waren Aleksandar Cvetković, Marko Boškić, Zoran Goronja, Stanko Savanović, Vlastimir Golijan, Franc Kos, und er selber, Dražen Erdemović. Nun, die 10. Sabotageeinheit stand unter dem Kommando von Oberst Salapura. (3, S.209f.)2

Dennoch basiert die Anklage gegen Dražen Erdemović nur auf seinem Geständnis. Die Anklagebehörde hat bis auf den heutigen Tag keinen seiner Mittäter verhört, obgleich die meisten gar nicht untergetaucht sind. Über den Mord an 1200 Menschen, von acht Tätern auf der Branjevo-Farm begangen, kennen wir bis heute nur die Darstellung des Dražen Erdemović.

Aufgrund seines Schuldbekenntnisses wurde Dražen Erdemović zunächst im November 1996 zu 10 Jahren Haft verurteilt. Die Richter haben also seine Darstellung des Massenmordes als wahr angenommen. Eine andere Darstellung gibt es nicht. Bei der Anhörung von Dražen Erdemović 1996 waren übrigens die Richter noch erstaunt, dass die Anklagebehörde keine weiteren Täter vorzuführen hatte. Warum begnüge sich der Ankläger nur mit der Aussage dieses einen Täters, wollte der vorsitzende Richter Jorda wissen. Wo seien die anderen? Man solle sich keine Sorgen machen, es werde daran gearbeitet, beschwichtigte der Ankläger damals die Richter. (3, S.174f.) Die Frage des Richters Jorda wurde von Seiten des Tribunals kein zweites Mal gestellt. Bis heute nicht.

Acht Jahre später, im April 2004, wurde in Peabody bei Boston, USA, der bosnische Kroate Marko Boškić festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, im betrunkenen Zustand einen Verkehrsunfall verursacht und danach Fahrerflucht begangen zu haben. Aufgrund eines Tipps an die Justizbehörden von Massachusetts stellte man aber auch fest, dass Boškić im bosnischen Bürgerkrieg als Angehöriger einer berüchtigten Einheit der bosnisch-serbischen Armee gekämpft hatte, was er aber verschwieg, als er 1996 in München die Formulare zu seinem Emigrationsantrag in die USA ausgefüllt hatte. Boškić hat also falsche Angaben zu seiner Person gemacht, ein in den USA schweres Vergehen, das mit mehreren Jahren Gefängnis geahndet wird. Überdies sei er 1995 an einem Massenmord bei Srebrenica beteiligt gewesen. Schnell konnte festgestellt werden, dass Boškić einer der von Erdemović erwähnten acht Mittäter bei der Massenexekution auf der Branjevo-Farm war. Gegenüber Ermittlern der FBI gestand Boškić voll und ganz seine Mittäterschaft an diesem Massaker. Als aber Journalisten beim Tribunal von der Anklagebehörde wissen wollten, ob diese nicht die Überführung von Boškić nach Den Haag beantragen werde, hieß es, man sei eine überlastete Institution mit geringer Kapazität, nein, danke. Man müsse sich auf die „großen Fische“ unter den Kriegsverbrechern beschränken, erklärte am 27. August 2004 Anton Nikiforov, Sprecher der Anklagebehörde des Tribunals.3 Ein Mittäter am Mord von 1200 Menschen soll kein großer Fisch sein? Warum will die von Carla Del Ponte geleitete Anklagebehörde des Jugoslawien-Tribunals keinen der Mittäter von Dražen Erdemović verhören, geschweige denn anklagen?

Stellen wir uns vor, acht Halbstarke in Amsterdam prügeln einen Penner zu Tode und werfen ihn anschließend in die Gracht. In seiner Gewissensnot meldet sich später einer der Täter bei der Polizei, gesteht die Tat, nennt seine Mittäter und wird mit einer milden Strafe belohnt. Von seinen Mittätern will aber die Justiz nichts wissen. Man stelle sich einmal vor, wie in so einem Fall Politiker und Medien über die Justizbehörden herfallen würden. Im Falle Erdemović aber geht es seiner Aussage zufolge um den Mord an 1200 Menschen! Was ist das für eine Justizbehörde, die sich „Internationales Tribunal für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien“ nennt und behauptet, Kriegsverbrechen nach internationalen Standards strafrechtlich zu belangen? Ohne Wahrheit keine Gerechtigkeit, heißt es. Wie ist es bei diesem Tribunal um die Wahrheitssuche bestellt, die, so sagt man, die Grundlage aller Rechtsprechung ist?

In seinem Interview behauptet Milorad Pelemiš u.a., er sei bei dem Massenmord am 16. Juli 1995 nicht dabei gewesen. Er habe nichts davon gewusst, er habe in einem Krankenhaus gelegen, das lasse sich leicht überprüfen. Dražen Erdemović bestätigt zwar die Abwesenheit von Pelemiš beim Massaker, behauptet aber, dieser habe als Kommandant den Befehl zur Erschießung der Gefangenen gegeben. Marko Boškić behauptet vor den Justizbehörden in Boston, einen Tag vor dem Massaker habe Pelemiš ihm die Pistole an die Stirn gesetzt und ihn so gezwungen, sich dem Exekutionskommando anzuschließen.4 Dies ist nur einer von Dutzenden Widersprüchen, die im Geständnis von Dražen Erdemović auftauchen, sobald man es mit einer anderen Darstellung abgleicht.

Was genau ist am 16. Juli 1995 auf der Branjevo-Farm beim Ort Pilica vorgegangen? Wer gab den Auftrag zur Erschießung der muslimischen Gefangenen? Wie wurde das Erschießungskommando rekrutiert? Wie wurde die Erschießung durchgeführt? Wie hoch ist die Zahl der Opfer? Wer war alles an diesem Verbrechen als Täter beteiligt und was ist die individuelle Verantwortung eines jeden einzelnen? Wie verläuft die so genannte Kommandolinie? Um auf diese Fragen auch nur annähernd zu antworten, müsste man an erster Stelle möglichst alle Beteiligten vernehmen. Aufgrund dieser Ermittlungen würde man dann vom Tribunal auch erwarten, alle Täter strafrechtlich zu verfolgen. Stattdessen begnügt sich das Tribunal allein mit dem Geständnis dieses Dražen Erdemović, dessen Glaubwürdigkeit überdies sehr fragwürdig ist, wie wir noch reichlich sehen werden, und erhebt dann dieses Geständnis in den Rang der endgültig festgestellten Wahrheit. Was geht hier als Wahrheitsfindung und Rechtsprechung eigentlich vor sich?

1„Bili smo profesionalci, a ne plaćenici“ („Fachleute waren wir, keine Söldner“), in: Nezavisne Novine (Banja Luka), 21.11.2005.

2Ziffer und Seitenzahl verweisen auf die im Quellenverzeichnis angeführten Gerichtsprotokolle (Transcripts) des Jugoslawien-Tribunals.

3„Peabody Man Won’t Face UN Tribunal“, in: The Boston Globe, 28. August 2004.

4„War crimes suspect charged in Boston“, in: The Boston Globe, 27. August 2004.

DIE GESCHICHTE DES DRAŽEN ERDEMOVIÇ

Geboren 1971 im Dorf Donja Dragunja bei Tuzla, besucht Dražen Erdemović eine Berufsschule, die er als Schlosser absolviert. Seinen Beruf hat er aber nie ausgeübt. Im Dezember 1990 wird er zum Militärdienst einberufen, wird in der Marschall-Tito-Kaserne in Belgrad zum Militärpolizisten ausgebildet und verrichtet seine Militärpflicht im zerfallenden Jugoslawien als Militärpolizist in der Region Vukovar. Nach einem Jahr regulären Militärdienstes und weiteren vier Monaten als Reservist kehrt Erdemović im März 1992 nach Hause zurück. Danach fängt es auch in Bosnien zu gären an. Bosnische Muslime, Serben und Kroaten bewaffnen sich und stellen eigene Verbände auf. Im Mai kommt es zu den ersten Zusammenstößen und die Jugoslawische Volksarmee (JNA), zu dieser Zeit immer noch die einzig legitime bewaffnete Kraft in der Bundesrepublik Bosnien und Herzegowina, schickt Dražen Erdemović einen Einrückungsbefehl, dem er nicht Folge leistet. Er wollte in keine Armee mehr einrücken und an keiner Seite Krieg führen, erklärt Erdemović dazu wiederholt am 19. und 20. November 1996 vor den Richtern in Den Haag. Im Mai 1992 bekommt er auch einen Einberufungsbefehl von der muslimisch kontrollierten Armee von Bosnien und Herzegowina (ABiH), dem er Folge leistet. Er musste es tun, sagt er, er habe keine andere Wahl gehabt. Im Herbst 1992 wird in Tuzla auch eine Armee der bosnischen Kroaten aufgestellt (HVO), und Erdemović tritt sofort in sie über. Man bietet ihm den Dienst eines Militärpolizisten an, wozu er schon in der JNA ausgebildet worden war. Er wollte es nicht, erklärt Erdemović. Er wollte dem Krieg so fern wie nur möglich bleiben. Als Militärpolizist konnte er aber hinter der Frontlinie bleiben und lediglich an Checkpoints Dienst tun. Krieg führen und auf Menschen schießen wolle und wollte er nicht, beteuert er mehrmals. Als Militärpolizist der HVO habe er, Dražen Erdemović, außerdem vielen Serben geholfen, sich zu retten. Von Natur aus ein guter Mensch, habe er serbischen Zivilisten aus Tuzla und Umgebung geholfen, in die Republika Srpska zu fliehen. Bei einer dieser Hilfeleistungen wird er allerdings erwischt und kommt in Untersuchungshaft. Es droht ihm eine Gefängnisstrafe. Eine kurzfristige Haftunterbrechung benutzt er, um sich im November 1993 mit seiner serbischen Frau in die Republika Srpska abzusetzen. Auf die Frage der Richter, weshalb er aus der bosnisch-kroatischen Armee (HVO) desertiert sei, erklärt Erdemović bei seiner Anhörung in Den Haag am 19. November 1996:

Erdemović: Weshalb ich die HVO verlassen habe? Deshalb, weil sie mich festgenommen haben, als ich einer Gruppe serbischer Zivilisten, die meisten davon Frauen und Kinder, geholfen habe. Soldaten der HVO haben mich festgenommen, sie haben mich geschlagen, als hätte ich die ganze Welt ermordet. Ich habe Frauen und Kindern geholfen, deshalb. (3, S.189)

Als Kroate unter Serben habe er aber in der Republika Srpska keinerlei Rechte gehabt und sei sich des Lebens nicht sicher gewesen. Auch für den Lebensunterhalt wäre kein Geld mehr da gewesen. Daher habe er sich im April 1994 der bosnisch-serbischen Armee (VRS) angeboten. Er habe es nicht gewollt, sagt er erneut. Er habe einfach keine andere Wahl gehabt. Man hätte ihn auf der Straße festnehmen und zu einem kroatischen Spion erklären können, er habe sein Leben retten wollen, er habe an Frau und Kind denken müssen. Bei der Militärbehörde in Bijeljina habe man ihm eine kleine Einheit vorgeschlagen, die aus lauter Kroaten, Muslimen und einem Slowenen bestanden habe, wo er am besten aufgehoben wäre. So sagt er in seinem bisher letzten Zeugenauftritt am 4. Mai 2007 Folgendes:

Erdemović: Bevor ich ankam, hörte ich, dass in Bijeljina eine Einheit formiert wurde, die aus Kroaten, Muslimen und einem Slowenen zusammengestellt war, also ging ich zu der Militärverwaltung in Bijeljina und sie waren einverstanden, dass es für mich das Beste wäre, mich dieser Einheit anzuschließen, weil es in dieser Einheit andere Leute meiner ethnischen Zugehörigkeit gab, und so kam es zu meiner Entscheidung, mich dieser Einheit anzuschließen. (9, S.10933f.)

In aller Deutlichkeit äußert sich Erdemović zu der ethnischen Zusammenstellung seiner Einheit auch als Zeuge der Anklage im Milošević-Prozess 2003:

Milošević: Wie war die nationale Struktur Ihrer Einheit, sagen Sie es mir, denn aus dem, was Sie hier gesagt haben, habe ich verstanden, dass es eine multinationale Abteilung war.

Erdemović: Ja. Am Anfang gab es in dieser Einheit nur Kroaten, einen Muslim, einen Slowenen, die… Diese Kroaten haben Serben geholfen, aus Tuzla in das von der bosnisch-serbischen Armee kontrollierte Gebiet zu gelangen. Nachher, im Oktober, wurde die Einheit vergrößert und dann traten in sie Serben aus allen Teilen der Republika Srpska ein. (8a, S.25186, 8b, S.322)5

Eine merkwürdige Einheit der bosnisch-serbischen Armee fürwahr, in die Erdemović eintritt. Diese Einheit habe hauptsächlich Aufklärungsaufträge im feindlichen Hinterland durchgeführt. Er habe sich beim Kommandanten dieser Einheit gemeldet und dieser habe sich bei anderen Kroaten über ihn erkundigt. Die hätten ihn als eine gute und ehrenwerte Person beschrieben. Daraufhin habe ihn dieser Kommandant angenommen und ihm gleich auch den Dienstrang eines Sergeanten verliehen. So ist Dražen Erdemović in die 10. Sabotageeinheit der VRS geraten. Unter diesem Kommandanten sei alles OK gewesen, sagt Erdemović. Im Oktober 1994 aber habe Leutnant Milorad Pelemiš das Kommando übernommen, er habe zahlreiche Serben in die Einheit aufgenommen und dem Nationalismus Tür und Tor geöffnet. Als ein Kroate sei Erdemović alsbald in Konflikt mit Pelemiš und mit Oberst Petar Salapura geraten. Dieser habe als Chef der Aufklärung der VRS den Befehl über die 10. Sabotageeinheit geführt. Als Kommandant einer Gruppe habe Erdemović einen Einsatz nicht durchgeführt, weil dieser zu Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt hätte, was er auf keinen Fall riskieren habe wollen. Auch mehrere bosnische Soldaten wären umgekommen, und eigene Verluste hätte es genauso gegeben. Also habe Erdemović den Einsatz abgeblasen und in einem Rapport die Gründe dargelegt. Einige Tage später sei Oberst Salapura gekommen, er habe Erdemović als einen Lügner beschimpft und ihm den Rang abgenommen.

Erdemović: Einige Tage später traf Oberst Salapura vom Hauptquartier ein. Er war der höchste Aufklärungsoffizier im Generalstab. Wir, ich und andere anwesende Kommandeure, wurden zu einem Treffen eingeladen, bei dem es hauptsächlich um mein Verhalten und um das von gewissen anderen Personen ging. Sie warfen mir vor, zu lügen, dass ich mich nicht so benehmen dürfe, dass ich einen Gefangenen hatte gehen lassen, dass ich das Leben eines Gefangenen gerettet hatte (das ist der Mann, der heute als Zeuge aussagen wird), dass ich Befehle verweigere, usw. Daher wurde ich degradiert. (3, S.182f.)

Zu einem einfachen Soldaten degradiert, habe Erdemović alle möglichen Schikanen seitens seiner Vorgesetzten erleiden müssen. Am 10. Juli 1995 habe seine Einheit einen Einsatzbefehl erhalten. Wohin der Einsatz führen werde, habe man ihn als einfachen Soldaten nicht wissen lassen. Erst als man am Einsatzort angekommen war, habe er erfahren, dass es um die Einnahme von Srebrenica ging. Man habe in der Stadt höchstens 100 Zivilisten angetroffen. Vor dem Einmarsch habe der Kompaniechef Pelemiš den Befehl erteilt, auf keine Zivilisten zu schießen und sich nicht an der Zivilbevölkerung zu vergehen.

Erdemović: Ja, es gab den Befehl, dass wir den Zivilisten nichts antun sollten, dass Soldaten Zivilisten nichts antun sollten. So, wie ich es zu der Zeit sehen konnte, schossen keine Soldaten auf Zivilisten, die sich ergeben hatten. (3, S.183f.)

Dennoch habe Pelemiš eine Weile später einem Soldaten befohlen, auf offener Straße einem jungen muslimischen Mann die Kehle durchzuschneiden, nur weil dieser im wehrfähigen Alter war. Einige Tage später habe Erdemović erneut einen Einsatzbefehl bekommen. Am 16. Juli 1995 in der Früh habe ihn der Kommandant Brano Gojković aufgefordert, sich einer Gruppe von weiteren sieben Soldaten anzuschließen und dem Wagen eines ihm unbekannten Oberstleutnants zu folgen. Erneut habe Erdemović keine Ahnung gehabt, wohin dieser Einsatz führe und was er beinhalte. Erst am Ankunftsort auf einer Farm beim Dorf Pilica habe der Kommandant Gojković wissen lassen, was der Auftrag war: Man werde gefangene Zivilisten aus Srebrenica erschießen, die gleich in Bussen ankommen würden. Erdemović habe sich dem heftig widersetzt. Ob sie denn verrückt seien, habe er gerufen. Keiner habe ihn aber unterstützt. Brano Gojković sei der Kommandant gewesen und habe über alles entschieden. Ein einfacher Soldat, habe Erdemović seine Befehle ausführen müssen. Er solle sein Gewehr abgeben und sich zu den Gefangenen stellen, damit er mit ihnen erschossen werde, habe Gojković zu Erdemović gesagt, als dieser seinem Befehl widersprochen habe. Erdemović habe keine andere Wahl gehabt, sagt er erneut, er habe gehorchen müssen. So habe man von 10 bis 15 Uhr auf der Branjevo-Farm 1200 Zivilisten erschossen. Dann habe Erdemović einen weiteren Erschießungsauftrag verweigert. Nachdem man mit den 1200 Gefangenen fertig war, habe der unbekannte Oberstleutnant nämlich angeordnet, 500 andere Gefangenen im Dorf Pilica zu erschießen, und da habe Erdemović „Nein“ gesagt. Einige aus seiner Gruppe hätten ihn unterstützt, woraufhin der Oberstleutnant eine andere Einheit diese Erschießung habe durchführen lassen. Für seinen Widerstand habe er jedoch teuer zahlen müssen. Einige Tage später, am 22. Juli 1995, habe ein Soldat aus seiner Einheit im Auftrag von Pelemiš und Salapura mehrmals auf ihn geschossen. Man habe ihn töten wollen, weil man geahnt habe, dass er sich dem Tribunal stellen und über die Erschießung der Gefangenen aussagen wollte.

5Die Ziffern 8a und 8b verweisen auf die englischsprachige bzw. auf die serbokroatische Sprachvariante des Gerichtsprotokolls im Milošević-Prozess (s. Quellenverzeichnis).

FESTNAHME UND AUSLIEFERUNG

Am 3. März 1996 werden im Städtchen Bečej bei Novi Sad der bosnische Kroate Dražen Erdemović und der bosnische Serbe Radoslav Kremenović von der Polizei festgenommen. Die zwei jungen Männer, 25 und 29 Jahre alt, sind Staatsbürger Bosniens, was das zu dieser Zeit auch immer bedeuten mag, und als Angehörige der bosnisch-serbischen Armee (VRS) sind sie auch Staatsbürger der bosnischen Republika Srpska. Was das auch bedeuten mag. Von Kremenović wird allerdings behauptet, dass er auch Staatsbürger des allerletzten jugoslawischen Staates ist, nämlich der Bundesrepublik Jugoslawien (SRJ). Bei ihrer Festnahme sind Erdemović und Kremenović immer noch Angehörige einer Spezialeinheit der Armee der bosnischen Serben (VRS), eben der 10. Sabotageeinheit. Schon mehrere Tage vor ihrer Festnahme bemühen sich beide in Belgrad um Kontakt zum Haager Jugoslawien-Tribunal. Zu diesem Zweck telefonieren sie eifrig mit der US-Botschaft, was der Staatssicherheitsbehörde (DB) aufgefallen sein muss.

Erdemović und Kremenović wollen sich dem Tribunal stellen, um als Zeugen eines Massenmordes an muslimischen Zivilisten aus Srebrenica verhört zu werden. Dieser Massenmord sei von ihrer Einheit verübt worden, und Erdemović sei persönlich an diesem Verbrechen beteiligt gewesen. Der Wunsch, seine Vorgesetzten anzuprangern, sei aber stärker gewesen als die Angst vor den Folgen dieser Selbstbelastung, heißt es in einigen jugoslawischen Medienberichten. Die Feindseligkeiten, denen die beiden von Seiten zweier ihrer Vorgesetzten ausgesetzt waren, seien der letztendliche Auslöser für ihre Entscheidung gewesen. Ihr Kompaniechef, Leutnant Milorad Pelemiš, und der Chef des militärischen Nachrichtendienstes der VRS, Oberst Petar Salapura, hätten die beiden in einem fort schlecht behandelt. Zuletzt habe man Erdemović sogar aus seiner Wohnung im bosnischen Bijeljina geworfen. Am 26. Februar 1995 sei Erdemović zu seinem Freund Kremenović geflohen, der eine Wohnung im serbischen Bečej hat. Dort fassen beide den Entschluss, sich an ihren Peinigern zu rächen, indem sie vor dem Tribunal als Zeugen über einen Massenmord an muslimischen Zivilisten aus Srebrenica aussagen. Dies weiß z.B. die Belgrader Agentur AIM am 13. März 1996 zu melden. Ihre wohl einzige Quelle zu diesem Zeitpunkt muss eine Story über den Fall Erdemović gewesen sein, die in der französischen Zeitung Le Figaro unter dem Titel „Bosnien: Zeugnis eines Kriegsverbrechens“ erschienen war.6

Der Wunsch, sich dem Tribunal zu stellen, ergreift Erdemović besonders stark nach einem Telefongespräch mit Familienangehörigen in Bijeljina. Es werde nach ihm gesucht, erfährt er, man plane, ihn umzubringen, er müsse ins Ausland fliehen, wenn er am Leben bleiben wolle. Inzwischen hat Erdemović Frau und Kind bei Verwandten in Tuzla untergebracht, er selbst befindet sich im militärischen Krankenhaus in Belgrad zur Nachbehandlung der schweren Verwundungen, die er sich bei einer Schießerei in einem Café in Bijeljina zugezogen hat. (Es handelt sich um den Vorfall, den Erdemović später vor dem Tribunal als einen Mordanschlag gegen ihn darstellen wird, damit er sich nicht dem Tribunal stellen und über den Massenmord aussagen kann.) Inzwischen scheint Kremenović mit zwei ausländischen Korrespondentinnen in Kontakt gekommen zu sein. Die eine heiße Duda, die andere Dada, und beide wohnen sie im Belgrader Luxushotel „Interkontinental“. Kremenović habe ihnen das Problem seines Freundes vorgelegt und seine Telefonnummer hinterlassen. Kurz danach habe Dada angerufen und gesagt, sie komme mit einer Korrespondentin des US-Senders ABC namens Nataša. Ihr könne Erdemović seine Geschichte erzählen und sie werde diese Geschichte auf Video aufnehmen.

Das alles erzählt Erdemović seinem Untersuchungsrichter Tomislav Vojnović in Novi Sad. Sein Vernehmungsprotokoll vom 6. März 1996 ist ein sehr wichtiges und aufschlussreiches Dokument, das mit mehreren amüsanten Stellen ein gutes Beispiel für Erdemovićs Lust am Fabulieren bietet. Die Belgrader Presse aus dieser Zeit weiß Folgendes zu berichten: Ihren Wunsch, sich dem Tribunal zu stellen, wollen Erdemović und Kremenović einem westlichen Diplomaten vorlegen. Daher holen sie sich über die Telefonauskunft die Nummer der US-Botschaft und rufen dort mehrmals an. Dabei stellen sie sich als Soldaten der VRS vor, die Wichtiges zu enthüllen haben und daher mit einem diplomatischen Vertreter und mit einem Journalisten sprechen wollen. Ihr Gesprächspartner am Telefon reagiert aber sehr zurückhaltend. Es stehe im Augenblick kein diplomatischer Vertreter zur Verfügung, an den man sie weiter verweisen könnte. Und was den Journalisten betrifft, so schlägt man ihnen vor, dass sie sich selber einen aus der Liste der Auslandskorrespondenten in Belgrad aussuchen. Auf der Liste stehen die Auslandsmedien in alphabetischer Reihenfolge, und daher kommt es, dass Erdemović und Kremenović zuerst im Office des US-Senders ABC anrufen. Auch dort übt man sich in Zurückhaltung. Die Dame am Telefon sagt ihnen, es stehe im Augenblick kein Reporter zur Verfügung, sie werde aber ihren Fall der ABC-Zentrale in New York vorlegen und sich zurückmelden. Nun stellen aber Erdemović und Kremenović auch eine Bedingung: Ein Interview wird es nur dann geben, wenn anschließend beide nach Den Haag gebracht werden, um dort als Zeugen vor dem Jugoslawien-Tribunal auszusagen. Die Dame notiert sich die Telefonnummer von Kremenović, und die zwei Freunde warten in Bečej die weitere Entwicklung ab.

Die ABC-Zentrale in New York beauftragt für das Interview Vanessa Vasic-Jenekovic, die für das Printmedium War Report tätig ist. Sie nimmt ihren Freund Renaud Girard mit, der für die Pariser Zeitung Le Figaro schreibt und auch über die merkwürdige Geschichte der zwei abtrünnigen Soldaten berichten möchte. Ort des Gesprächs ist das Hotel „Fantast“ –