Buchcover

Walther von Hollander

Kleine Dämonen

Aus den Papieren des Journalisten Ferdinand F. - B.

Saga

1

Tessy hat mir das Ende dieser Geschichte erzählt. Aber Tessy lügt meistens. Oder vielmehr, sie mag die Wahrheit nicht sagen. „Die Wahrheit ist langweilig und stimmt nie.“ Das ist so einer ihrer anfechtbaren Kernsprüche. Ich sagte ihr: „Das ist doch alles Lüge oder Kleinmädchenphantasie.“ Sie streckte die Hände beschwörend aus, kleine, katzenkrallige, schmale Hände, und schüttelte die rostrote Mähne, von der sie immer behauptete, daß sie von Natur aus rostrot sei. Aber schon damals fuhr sie alle vierzehn Tage aus unserem Dorf in die Stadt hinunter, weil vom Haarboden her die Haare ein schlichtes Braun zu zeigen begannen. Sie ist also nicht rostrot, sondern bestenfalls kastanienbraun. Rostrote Mädchen gibt es überhaupt nicht. Nein — Tessy schwindelt. „Es ist die reinste Wahrheit“, rief sie und sprang von der Couch auf, „ich schwöre dir bei ... bei ...“

Es fiel ihr nichts ein, wobei sie schwören konnte. Denn sie ist dreiundzwanzig, sehr gescheit, sehr begabt, tuscht reizende kleine Aquarelle, bemalt Seidenstoffe, wenn sie mal welche ergattert, mit phantastischen kleinen Landschaften, schreibt rührende Gedichte, beinahe Volksweisen, im Stil von Matthias Claudius. Andere würden mit solchen Begabungen oder mit einer von ihnen in dieser Zeit ihr Geld machen. Aber Tessy kann das nicht. „Ich schwöre dir bei ... bei ...“ wiederholte sie, aber es fiel ihr wieder nichts ein. Denn sie glaubt an gar nichts. Wie sollte sie auch? Zehn war sie, als das Dritte Reich begann, zweiundzwanzig, als sie Vittorio kennenlernte. „Schwöre nicht“, sagte ich ihr, „alle kleinen Leute lügen.“ Sie schnaufte verächtlich durch ihre hübsche schmale Nase. Dann sagte sie: „Manuela war einssechsundsiebzig groß. Viel zu groß für eine Tänzerin. Und willst du etwa behaupten, daß sie die Wahrheit sprach?“

Nein — das wollte ich nicht behaupten. Aber bei Manuela kam es nicht darauf an, was sie sprach. Alles, was sie war, war sie vermittels ihrer Schönheit. Was sie sagte, war gleichgültig, und außer mir hörte niemand recht hin, wenn sie etwas sagte. Das bedingt auch meine Sonderstellung zu Manuela ... die anderen Männer waren viel zu sehr damit beschäftigt, sie anzuschauen oder um sie zu werben.

Ich versuchte Tessy das zu erklären. Aber sie antwortete: „Du warst natürlich verliebt in sie, wie alle Männer.“

„Du irrst dich“, antwortete ich würdig. „Es gibt Männer, die eine Frau schön finden können, auch wenn sie sich nicht in sie verlieben.“

Tessy setzte sich wieder auf die große Couch. Sie setzte sich wie immer in den Kreuzsitz, ordnete lange und sorgfältig ihr buntes, schweres Hauskleid, drehte sich mühevoll aus einem schlechten Tabak „Kawalla“ eine Zigarette und steckte sie bedächtig an. „Du irrst — mein Fürst“, sagte sie dann dozierend. „Schönheit ist nichts, was an und für sich existiert. Die Augen des Mannes machen eine Frau schön oder häßlich.“ Und nach einer Weile setzte sie merkwürdig zart hinzu: „Damals ... du weißt schon, wann ... sagte Vittorio, ich sei schöner als Manuela.“

„Und du hast das geglaubt?“

„Er glaubte das. Also war ich schön.“

Ich ging hinaus, um einen Tee zu kochen, denn es war bitter kalt. Der Ostwind lag genau auf den Fenstern und pustete durch die Holzplatten, mit denen die beiden linken Fensterflügel primitiv vernagelt waren. Mit dem bißchen feuchten Torf und dem halbgrünen Holz konnte man nicht dagegen anheizen. Aber ich hatte eine ganze Menge Tee aus Kanada bekommen, von Fosters, die schon 1934 hinübergegangen sind und mir jetzt geschrieben haben; sie begriffen nicht, warum ich eigentlich in Deutschland geblieben sei unter einem Regime, das doch nur so enden konnte, wie es geendet ist. Ja, Fosters sind klüger gewesen als ich. Dafür geht es ihnen jetzt auch gut, und sie können allen ihren Freunden Tee schicken.

Als ich wieder hereinkam, lag Tessy auf der Couch, ganz in sich zusammengekrümmt, und schluchzte. Ich reichte ihr eine Tasse und sagte: „Trink erst mal. Das andere geht vorüber.“

Sie trank gehorsam. Der Tee war tabakbraun und heiß. „Schmeckt ... wie Konfekt“, sagte sie unter Tränen.

„Na also ... siehst du nun ein, daß es vorüber ist?“

Sie seufzte: „Es ist erstaunlich, wie dumm die Männer von früher sind.“ Darauf ließ sich schwer etwas erwidern. Tessy griff noch weiter an: „Sag mal ... früher ... geliebt habt ihr doch wohl alle nicht?“

„Nein, das habt ihr erst erfunden.“

Sie sagte: „Ich meine, ihr habt doch Tag und Nacht über die Liebe gequatscht. Psychoanalyse oder: Darf die Frau, was der Mann darf, oder darf sie nicht? Mit Spernser hast du stundenlang darüber diskutiert, oder nein?“

„Spernser war Spezialist für Frauenfragen. Er hatte doch immer ganz hübsche Ideen über alles.“

Tessy lachte tückisch: „Ideen hatte er schon ganz hübsche. Aber seine Mädchen .... erinnerst du dich noch an Didi Seifert ... die Lustabwehrkanone ... die mehlblonde Didi? Mit der hatte er was. Mensch ... da muß man ja Essays über Frauen schreiben.“

Sie erzählte ein paar tückische Einzelheiten über Spernsers Abenteuer mit Didi Seifert und Herma Zacke, bei denen Spernser einen Aushilfsposten als Liebhaber inne hatte. Nachher schlief Tessy ein. Sie lag, den Kragen ihres Tigerpelzes hochgeschlagen, und pustete leicht gegen die Haare, die ihr ins Gesicht gefallen waren. Ich deckte sie mit meinem schäbigen Mantel zu. Dann saß ich frierend dicht am Kanonenofen, nein, den Ofen beinah zwischen den Knien, und dachte darüber nach, was mir Tessy erzählt hat. Das Ende dieser Geschichte gefiel mir nicht. Das Schicksal, so murrte ich, ist ein schlechter Erzähler — besonders heute. Die Geschichten enden meist abrupt, viele mit Unglücksfällen, die scheinbar gar nichts mit den Menschen zu tun haben, denen sie zustoßen. So ist es bei Manuela und Vittorio. Aber ich will nicht das Ende vorausnehmen. Wer wirklich neugierig ist, kann ja mit den letzten Seiten anfangen. Und für die anderen will ich es möglichst der Reihe nach erzählen. Nur ab und zu wird Tessy diese Geschichte unterbrechen, dann nämlich, wenn ich sie etwas fragen muß, was ich nicht weiß. Sie wird jetzt wahrscheinlich eine Zeitlang bei mir bleiben. Denn sie hat weder ein Zimmer, noch eine Zuzugserlaubnis, noch eine Arbeit, noch Geld, noch Lebensmittelkarten. Es ist nicht einfach, sie wieder auf die Beine zu stellen. Sie ist am Ende. Ich muß mich um sie kümmern. Sonst geht sie zugrunde. Eigentlich wäre es Vittorios Aufgabe gewesen, sich um sie zu kümmern. Aber — abgesehen davon, daß man sich vom Himmel oder von der Hölle aus nicht für seine verstoßenen Damen einsetzen kann: Vittorio und sich um eine Frau kümmern! Das tun nur dumme Männer von früher.

2

Ich möchte alles, was ich zu erzählen habe, möglichst wahrheitsgetreu erzählen. Als einen Beitrag zur Chronik dieser Zeit. Später wird man diese Jahre von 1945 bis 1947 nicht mehr verstehn, so wie man jetzt die zwölf Jahre Hitlers schon nicht mehr versteht. Selbst diejenigen, die Hitler miterlebten, können nicht die teuflische Langeweile des Druckes schildern, der sich ganz langsam und unmerklich steigerte und schließlich so schmerzte, daß man die menschliche Besinnung verlor. Und die anderen gar, die von außen her, aus den Logen der Freiheit, aus dem Parkett der fremden Länder, ja selbst von den oft schäbigen Stehplätzen der Emigration aus sich dieses schauerliche Schaupiel ansahn, können kein gerechtes, nein nicht einmal ein richtiges Urteil haben. Und so wird es uns auch mit diesen letzten zwei Jahren gehn, wenn wir sie nicht möglichst bald aufzeichnen. Untergang, Untergang, Untergang ... das enthalten diese zwei Jahre, wenn man sie summarisch ansieht. Aber inmitten des Untergangs lebten dennoch Menschen, liefen mit dem Hungertod um die Wette, mit dem Erfrierungstod, liefen vor dem Entsetzen davon oder saßen und ließen die Schicksalsschläge auf sich niederprasseln, wie die Steine geprasselt waren in den Fliegernächten damals, als noch die Sirenen heulten. Man war ja noch lange nicht entkommen, als der Krieg zu Ende war. Wir hatten es wohl verhältnismäßig gut in unserem Wallberg im Bayrischen Wald. Gut, solange wir abgeschnitten waren. Aber dann kamen die Nachrichten. Tessys Bruder wurde als Deserteur in Berlin an einen Laternenpfahl gehängt mit einem Pappschild auf der Brust: Ich bin ein Feigling. Den Vater Spernsers erwischte eine Kugel am Kurfürstendamm, als er sich Wasser holen wollte. Tiedemann wurde in der Kochstraße verhaftet, als er noch einmal in die Redaktion wollte, und niemand hat je wieder was von ihm gehört. Büschow, der immer so herrlich lachen konnte, starb gleich nach dem Einzug der Russen an einer Lungenentzündung. Gut für ihn, daß die Sieger nicht auch über die Toten gebieten können. Sonst hätte er es schlecht in seinem Grab. Und Wernicke ... ach, genug ... wenn man alles aufzählen wollte, man käme nicht zu Ende.

Ich wollte auch nur sagen: Man saß, als die Nachrichten kamen, mit eingezogenem Kopf und wartete, ob die Nachricht kam, die einen erschlug. Aber unterdes lebte man doch. Der Sommer stieg an, verfärbte sich, die Nebel kamen. Wir liefen davon in die Städte. Wir dachten, dort würden sich die Lichter am ehesten entzünden. Aber es blieb dunkel. Nein — es wurde immer dunkler. Und jetzt sitzen wir nachtaus, nachtein ohne Strom und haben Zeit, nachzudenken oderzuschlafen. Aber der Schlaf flieht den, der zu schlafen gezwungen ist. Und nachdenken? Dem vergangenen Schrecklichen nachsinnen? Nein, lieber nicht. Uns stößt ja immer neues Schreckliches zu. Die Lawine rutscht noch immer. Und wir stehn auf ihr und rutschen mit. Der Steinschlag rasselt noch um uns, und bald wird der zu Tode getroffen, bald jener verwundet. Immer noch.

Dabei ist eines herausgekommen: Man vergißt sehr schnell. Anscheinend kann das menschliche Gedächtnis nur eine bestimmte Menge von Schrecknissen beherbergen. Die andern wirft es hinaus. Das mag grausam sein. Aber vielleicht ist es auch großartig. Denn man soll ja leben, solange man lebt, und wir lebten eigentlich ganz vergnügt. Das möchte ich wahrheitsgetreu schildern, so unverzerrt, wie es geht. Möglichst genau so, wie es war. Es ist allerdings eine Schwierigkeit dabei. Tessy stört mich. Gewiß: dadurch, daß sie kam, ist die ganze Geschichte erst wieder so lebendig geworden, daß ich sie aufschreiben kann. Aber auf der anderen Seite: die jetzige Tessy ist nicht mehr die Tessy aus Wallberg. Sie verschattet eher jene Tessy, als daß sie sie erhellt. Und außerdem: es sind gewisse Gereiztheiten zwischen uns unvermeidlich. Ich sehe die damalige Zeit natürlich anders an als sie. Und eine kleine, beiderseitige Zuneigung spielt auch verfälschend dazwischen: Wir hängen ja beide an jener Zeit, wir sind uns gegenseitig eine nette Erinnerung. Ich muß also gewissermaßen über die jetzige Tessy wegsehn, um die damaligen Erlebnisse richtig aufzuschreiben. Dazu muß ich notwendigerweise das erzählen, was sich zwischen Tessy und mir jetzt begibt. Es ist nicht viel und wird nicht viel. Aber gesagt werden muß es, damit man den Blickpunkt kennt, aus dem ich schreibe, und somit die Korrekturen selber vornehmen kann.

In der vorigen Nacht geschah also folgendes. Nein ... es geschah gar nichts. Die Nacht verlief vielmehr folgendermaßen: Ich hatte Tessy meine kleine Kammer auf der andern Seite des Dachbodens zum Schlafen gegeben. Im Sommer ist es mein Schreibzimmer, sehr sonnig, aber wegen der Schrägfenster ohne andere Aussicht als auf den Himmel, mit seinem Wechsel von Blau, Gewölk und Gestirn. Auch den grünlichen Mond kann man vorbeispazieren sehn. Es ist die beste Aussicht, die man heutzutage haben kann. Denn da oben im Himmel gibt es keine Trümmer, wie sie jetzt mein Winterzimmer umstehn, rauchgeschwärzt, brandig, gezackt, langweilige Kulissen eines Dramas, das längst zu Ende ist. Drüben im Schreibzimmer steht ein wackliger Biedermeiertisch, ein Regal mit den letzten fünf Büchern, die ich gerettet habe, und den ersten zehn, die wieder erschienen sind. Viel haben mir alle fünfzehn nicht zu sagen. Dazu rumort innen noch zuviel, und vor den von andern geschriebenen Sätzen stehn die eigenen Schicksale in ihrem düsteren Brand, in ihrem Qualm kurz vor dem Erlöschen. Es scheint mir fast, als lösche dieser Qualm jedes Mitverständnis mit andern Schicksalen aus. Ich habe, ehrlich gesagt, seit einem Jahr nichts mit Anteilnahme gelesen. Darum ist es auch nicht merkwürdig, daß vor dem Bücherregal das samtene Sofa steht, hochlehnig und wie eine Niere geformt. Das war die Lagerstatt, die ich Tessy angeboten habe. Dazu zwei Wolldecken und meinen alten Mantel. Denn drüben ist es noch kälter als hier. Kein Ofen natürlich.

Um zehn ging sie schlafen. Ich saß noch zwei Stunden, die Decke über den Knien. Zwei Pullover hatte ich an und meine alte Windjacke, dazu meinen roten Strickschal um den Hals. Trotzdem fror mich erbärmlich. In Wallberg hätten wir einfach in den Wald gehn können und Bruchholz holen. Man denkt jetzt: Eigentlich war es herrlich. Aber es war nicht herrlich. Es war alles verrückt und leer und ohne Verstand. Oder? Nun ... das werden wir sehn. Jedenfalls: ich machte mit klammen Fingern ein paar Notizen aus jener warmen Zeit und kroch dann in mein Eisbett. Merkwürdigerweise schlief ich gleich ein. Ich wachte gegen zwei Uhr davon auf, daß sich die Tür öffnete. Tessy kam herein. Ich tat, als schliefe ich weiter. Sie hatte ihre beiden Decken mit und meinen Mantel, dazu ihr Kopfkissen. Sie trug ihr langes Hauskleid mit den Blumen. Das hörte ich am Knistern der Seide. Sie legte zuerst ihre beiden Decken neben mich, schichtete den Mantel darüber und kroch dann in mein Bett.

„Entschuldige“, sagte sie, „aber ich kann vor Kälte nicht schlafen.“

„Du wirst dich daran gewöhnen müssen“, antwortete ich. Ich hörte, daß sie weinte, obwohl sie sich Mühe gab, nicht zu schluchzen. „Sei nicht albern“, sagte ich ärgerlich. „Ich muß morgen arbeiten, und da muß ich wenigstens nachts allein sein.“

Sie schneuzte sich ausgiebig. Dann flüsterte sie: „Ich habe das alles nicht gemacht. Die Kälte nicht und alles andere, das Wohnungsamt und die Zuzugserlaubnis auch nicht.“

„Warum bist du denn nicht in Wallberg geblieben?“

„Ich wollte nicht sterben. Ich bin kein Roß an Empfindungslosigkeit wie Manuela.“

Ich fühlte, wie sie vor Kälte immer noch zitterte. Vielleicht war es auch der Kummer. „Na komm“, sagte ich, „wenn du dir nichts einbildest ... und nicht empört und beleidigt bist, wenn ich mich nicht in dich verliebe, wie es meine Pflicht wäre, dann will ich dich aufwärmen.“

„Wenn du dir nur nichts einbildest“, sagte sie empört, „verliebte Männer könnte ich gerade brauchen. Nein ...“ Damit kroch sie unter meine Decke und legte ihren Kopf vertrauensvoll auf meine Brust. „So ist es schön“, sagte sie und war gleich darauf eingeschlafen.

Es war angenehm warm. Ich habe lange nicht so gut geschlafen. Sie war heute morgen sehr zutraulich und betulich, schmierte mir die Marmeladenbrote, fegte das Zimmer und ging dann eine Freundin suchen, die angeblich in Blankenese wohnen soll. Ich werde den Tag über allein sein und kann endlich beginnen.

3

Ich bin die letzten zwanzig Jahre Redakteur gewesen, teils aus Neigung, weil es mir Spaß macht, die verschiedensten Meinungen unter den Jochbogen einer einheitlichen Meinung zu biegen, teils aus einer angeborenen Trägheit. Denn bei aller Leidenschaft für das Wort und für den Gedanken der Vernunft scheint es mir weitaus bequemer, andere schreiben zu lassen, anderen die undankbare Aufgabe zu überlassen, ihre Gedanken zu schleifen. Es fördert das Selbstbewußtsein, wenn man dann hinterdrein nur mit dem Finger auf die ungeschliffenen Worte zu weisen braucht und ein Nachschleifen verlangen darf. Eine schmerzhafte Empfänglichkeit für reine, ungebrochene Sprachtöne, ein starkes kritisches Vermögen haben mich zu einem guten Redakteur gemacht. Aber während ich dies schreibe, stelle ich mit Bedauern fest, daß das Schreiben mir sehr schwer fällt. Die zwanzig Jahre lang geübte Kritik ist natürlich auch dem eigenen Wort gegenüber wach. Wenn ich aber das schreiben will, was ich mir vorgenommen habe, so darf ich nicht allzu wählerisch im Ausdruck sein. In einer gehobenen, prächtigen Prosa können die Meinungen und Taten der Menschen meiner Geschichte einfach nicht geschildert werden. Ich hasse es jedenfalls, einen leichtfertigen Swing als Sinfonie herauszuputzen.

Aber das sind so Sorgen, die eigentlich jene Leser, die ich mir beim Schreiben vorstelle, gar nichts angehn. Ich kam auch nur darauf, weil es ja doch wohl notwendig ist, mich vorzustellen und zu erzählen, wieso wir alle in Wallberg zusammenkamen. Ich war also als Redakteur in einem der großen Verlagshäuser in Berlin während des Krieges u. k. gestellt, obwohl ich mit dem Propagandaministerium einen tückischen Kleinkrieg führte, auf den ich damals sehr stolz war und der mir jetzt recht läppisch erscheint. Denn wenn es mir auch gelang, hier und da zwischen die Zeilen meiner Zeitung ganz nette Tellerminen gegen die Regierung zu placieren, so hat das zwar meinen immer kritischer werdenden Lesern viel Spaß gemacht, aber der Regierung hat es nichts geschadet. Man ließ mich ruhig meine Minen weiter legen, obwohl es ein leichtes gewesen wäre, mich einzuziehn, da ich im letzten Jahr des ersten Weltkrieges Offizier geworden war und man Offiziere dringend brauchte. So blieb ich in Berlin und mußte miterleben, wie diese von mir so geliebte Stadt — eine der häßlichsten, aber originellsten Städte der Welt — langsam und stetig in Schutt und Asche sank. Zweimal bin ich ausgebombt worden. Das erstemal ging meine hübsche Wohnung im Künstlerblock Wilmersdorf in Flammen auf, und alles, was ich mir in zwanzig Jahren zusammengekauft hatte, meine Möbel, meine Teppiche, meine Anzüge und Mäntel, mein schöner, warmer Biberpelz, meine Bilder, meine Bücher, meine Briefe und Photographien, alle Kostbarkeiten und aller Müll meines früheren Lebens verbrannten. Bis auf die paar Sachen, die ich in zwei Lederkoffern bei jedem Angriff in den Keller schleppte. Das zweitemal wurde ich verschüttet in einer Mietskaserne am Spandauer Berg und lag dreißig Stunden zwischen zwei Betonklötze geklemmt, ohne etwas anderes abzubekommen als eine Quetschung der linken Kniescheibe, die mich manchmal am Gehen behindert.

Ich hatte es insofern leichter als andere, als ich die letzten fünf Jahre infolge einer großen persönlichen Enttäuschung, die nicht hierher gehört, nahezu völlig einsam gelebt hatte und jedenfalls keine engeren Bindungen eingegangen war. Ich konnte deshalb auch keine Verluste erleiden, die mir hätten ans Herz, greifen können. Ein armseliges Leben, wird man sagen. Aber es ist nicht nur Eulenspiegelei, wenn ich meine, daß es in unseren Zeiten besser ist, arm zu sein. Denn die Seele des Reichen ist immer verschattet von der Angst vor dem Verlust.

Um mich selbst habe ich nie sehr gezittert. Ich lebe ganz gern, weil ich trotz allem das Schauspiel des Lebens anregend und amüsant finde. Oder besser: ich fand es amüsant. Jetzt, nachdem sich die Sensationen allzusehr gehäuft haben, und vor allem, seitdem es sich herausstellt, daß es meistens negative Sensationen sind, beginnt mich das Zuschaun zu ermüden und zu langweilen.

Aber ich schweife immer wieder ab und auf diese uninteressante Person hin, die bei 15 Grad Kälte draußen und 4 Grad Wärme drinnen im Polarforscherkostüm am Schreibtisch hockt und klappernd vor Kälte die klappernde Schreibmaschine bedient. Was ich sagen wollte, ist nur: Nach meiner Verschüttung empfand ich es als angenehm, daß Teile der Redaktion verlagert wurden. Mit einem kleinen Extrazug fuhren wir, zwei Wagen mit vielleicht hundert Menschen und fünf Wagen mit Akten, Schreibmaschinen, Büromaschinen und Büromöbeln, Ende Januar 1945 nach Süden. Wir fuhren recht bequem und ungeheuer langsam. Die Eisenbahnen waren schon weitgehend zerstört, und immer wieder lagen wir stundenlang auf freier Strecke, bedroht von Jabos, die uns auch zweimal erheblich beharkten. Dabei wurde neben mir das reizende Fräulein von Klemen erschossen, eine meiner begabtesten Volontärinnen, in die ich mich während der ersten zwei Tage der Fahrt so heftig verliebt hatte, daß ich ihr einen Heiratsantrag machte. Es war der zweite Heiratsantrag in meinem Leben. Ich glaube kaum, daß ich einen dritten machen werde. Wir begruben sie in Koburg auf einem besonders häßlichen Friedhof, dessen Marmorkreuze und Engel noch heute gut erhalten sind und durch ihre Existenz beweisen, daß vieles, was uns umgab, zerstörenswert war.

In Koburg lernte ich Vittorio Trenti etwas näher kennen. Er war ein recht begabter Kameramann, der Chefphotograph des Verlages (ein Titel, den er sich ausgedacht hatte). Ich hatte ihn früher schon hier und da in der Kantine des Verlagshauses getroffen, und ab und zu kam er auch auf die Redaktion, um sich zu beschweren, daß dieses oder jenes seiner Bilder nicht gut genug placiert oder gedruckt worden war. Aber ich hatte noch keine hundert persönlichen Worte in meinem Leben mit ihm gewechselt.

Trenti war einer der schönsten Männer, die ich je gesehn habe, und ich mag schöne Männer nicht. Woran diese Schönheit eigentlich lag, ist schwer zu beschreiben. Blauschwarzes, leicht gewelltes und sorgsam gescheiteltes Haar haben auch andere. Seine Augen allerdings, die er seiner norddeutschen Mutter, einer geborenen Gräfin Haake, verdankte (man konnte nicht zehn Minuten mit ihm zusammen sein, ohne zu erfahren, daß er sozusagen ein Halbgraf war), diese strahlend blauen, etwas seelenlosen Augen standen in einem anziehenden Gegensatz zu den schwarzen Haaren. Das Gesicht war schmal. Die Nase etwas zu groß, aber fein geschnitten. Die Lippen voll und nahezu himbeerrot. Das Gebiß sehr weiß, mit gleichmäßigen, etwas zu großen Zähnen. Er war etwas übermittelgroß, breitschulterig, schmalhüftig, sehr trainiert, ein berühmter Kurzstreckenläufer, Dritter auf der Olympiade 1936 im 200-Meter-Lauf, ein guter Reiter, ein vorzüglicher Florettfechter, ein brillanter Schiläufer. Wenn ich noch erzähle, daß er auf eine besonders saloppe Art elegant oder auf eine besonders elegante Art salopp gekleidet war — immer trug er ein pfiffiges Halstuch, ein schnittiges Lumberjack, seltsame Trainingshosen, die durch einen besonderen Schnitt auf geheimnisvolle Weise jede Plumpheit verloren, oder eine alte Manchesterhose, die an seinen langen, graden Beinen wie von einem ersten Atelier geschneidert wirkten —, so habe ich alles geschildert, was ihn zu einem typischen Herzensbrecher machte. Aber darüber hinaus hatte er eine in Deutschland sehr seltene Gabe: eine charmante Selbstverständlichkeit, mit Menschen umzugehn, die ihn auch befähigte, selbst zu den abweisendsten Mächtigen dieser Welt vorzudringen und ihr Bild mit seiner ewig jagdbereiten Kamera einzufangen. Obwohl er sich selber schön fand, war er nicht eigentlich eitel. Er verstand es aber, seine Schönheit auf anziehende Art in Szene zu setzen. Wo er sich aufhielt, war er der Mittelpunkt der Welt, und selbstverständlich war er auch der Mittelpunkt jener Woche in Koburg, in der wir im übrigen wenig taten, weil die Post schon nicht mehr recht funktionierte und die mahnenden Telegramme unseres Verlagshauses, das noch immer so tat, als müßten wir für einen Sieg arbeiten, der längst untergegangen war, uns immer gleichgültiger wurden.

Daß Trenti ganz besonders im Mittelpunkt stand, hatte seinen Grund auch darin, daß er gerade erst aus den Gestapokellern in der Albrechtstraße entkommen war. Im Gegensatz zu allen anderen, die, wenn sie von dort herkamen, sich in ein angstvolles Schweigen verkrochen, sprach er offen und heiter von dieser Zeit. Anscheinend hatte er selbst die Gestapowachtmeister und -häuptlinge bezaubert. Ihm war jedenfalls nichts geschehn. Und genau an dem Tage, an dem der Transport aus Berlin abging, erschien er frisch, heiter und wie aus dem Ei gepellt mit umgehängter, schußbereiter Kamera in unserem Zug. Was er allerdings sonst aus den Kellern berichtete, war weniger heiter. Er erzählte ohne sonderliche Empörung und darum um so eindrucksvoller von Martern und Hinrichtungen, mit denen wir uns unsere Geschichte nicht weiter beschweren wollen. Denn Trenti selbst war durchaus nicht beschwert oder beeindruckt davon. Wenn man es auf eine Formel bringen will, was Trenti eigentlich dachte oder besser empfand — denn ich glaube nicht, daß er sich jemals mit Denken abgegeben hat—, so wird es etwa folgendes sein: Das Leben heute ist sehr interessant. Überall stehn Fallen, die den Harmlosen fangen, aber wer heute harmlos lebt, ist eben dumm. Man muß sehr genau aufpassen. Man muß leben wie das Wild im Walde, in ständiger Witterung. Dann lebt man genau so frei wie das Wild und kann die ungeheure Weite des Lebens trotz aller Gefahren genießen.

Trenti war wegen einiger unbedachter Äußerungen festgesetzt worden, wegen harmloser Schimpfereien, wie sie damals eigentlich jeder machte, und weil er auf besonders gute Art und in erschreckender Weise genau den Propagandaminister sowohl körperlich wie stimmlich imitieren konnte. Fräulein Schütze, die in den Koburger Tagen seine Freundin war, erzählte mir, daß seine Berliner Geliebte, eine Tänzerin, ihn verpfiffen habe. Damals hörte ich zum erstenmal den Namen Manuela.

Die Schütze ist ein guter Kerl, frisch, tüchtig, dumm und von jener angenehmen Heiterkeit, die in Zeiten wie den unsern nur die Dummen haben können. Ich gab deshalb nicht allzuviel auf ihr eifersüchtiges Geschwätz. Aber Spernser, der ein paar Tage nach uns eintraf — natürlich in einem wundervollen Ford-Acht-Zylinder, wie es sich für einen Sachverständigen in Frauenfragen gehört, und mit zwei überaus eleganten Frauen im Fond des Wagens, Frau Herma Zacke und Didi Seifert, Generaldirektorsfrauen mit Handkoffern voll Schmuck, die ihre kostbare Existenz zu retten entschlossen waren und dafür sogar dem häßlichen Spernser zulächelten, ihm vertraulich auf die breiten Schultern klopften, ihn ab und zu burschikos umarmten und ihn Herzblatt nannten —, Spernser bestätigte Fräulein Schützes Angaben im wesentlichen. Die Sache war nach seiner Darstellung sogar noch übler. Manuela, die es mit der Treue besonders ungenau nahm, verlangte von Trenti, dem die Feen zu den anderen Gaben die Gabe der Treue gleichfalls nicht in die Wiege gelegt hatten, daß er ihre Eskapaden ihr nachsehn, selbst aber keine andere Frau ansehn dürfe. Sie hatte ihre besondere Gunst einem höheren SS-Offizier geschenkt, der seinerseits auf Trenti naturgemäß sehr eifersüchtig war. Und als Manuela nun ihrem Vittorio auf eine Geschichte „draufkam“ — wie sie als Bayerin wohl sagte —, lieferte sie ihn ihrem SS-Offizier aus, der sich dieses „unerhörten“ Falles mit großer Energie annahm. Soweit Spernser.

„Und wie ist er wieder herausgekommen?“ fragte ich. „Du weißt doch alles.“

„Weiß ich auch“, sagte Spernser. „Trenti hat es mir genau erzählt, mit weit aufgerissenen blanen Gräfinnenaugen, gläubig wie ein Kind. Ich habe schon vor Jahren geschrieben: Don Juan ist dumm. Er lernt aus keiner Erfahrung. Sonst könnte er ja nicht immer wieder von jeder Frau begeistert sein.“

„Ich möchte nicht wissen, was Spernser geschrieben hat“, sagte ich ungeduldig, „denn das weiß ich sowieso. Was erzählt Trenti?“

„Natürlich, daß Manuela ihn wieder herausgeholt hat“, brummte Spernser. „Er will jetzt nach Berlin zurück, um sie zu retten. Das wäre zumindest seine Dankespflicht. Er schwimmt in Rührung.“

„Und schläft mit Fräulein Schütze. Der eine ist des anderen wert. Und Spernser, der Frauenkenner, bekommt bei dieser Geschichte die Augen eines gerührten Hundes.“

„Lerne du erstmal Manuela kennen! Wenn du nicht sofort auf deinem moralischen Roß davonreitest, bist du verloren. Das sage ich dir.“

„Eine glutäugige Kastagnettenklapperin also, eine Männerfrühstückerin, eine Unwiderstehliche! Mann, Spernser, sowas habe ich schon mein Leben lang gesucht und nirgends gefunden. So eine, für die sich die Männer die Brillanten gegenseitig aus der Brusttasche reißen, bebend ungedeckte Schecks verschenken, Familien kalt pfeifend im Sumpf versinken lassen ...“

„Ja, so ähnlich“, sagte Spernser etwas spitz, „jedenfalls eins steht fest: Sie ist unserm Viktor Dreißig (so nannte er Vittorio Trenti zu dessen Wut immer) mindestens gewachsen. Bin gespannt, wie das ausgeht.“

„Aber das ist doch aus ... nach diesen Gemeinheiten ...“

„Gemeinheit schützt vor Liebe nicht“, lachte Spernser. „Die beiden kommen nicht voneinander los ... bis daß der Tod sie beide scheidt.“

Tatsächlich war Vittorio am nächsten Tag nach Berlin abgereist, angeblich um den neuernannten Verteidiger Berlins, der übrigens ein Bayer war, soweit ich mich erinnere, zu photographieren. Fräulein Schütze lief mit verquollenen Augen durch die Gänge unseres komischen Hotels, hockte nach Tisch mit Spernser in einer dunklen Ecke des Speisesaals und trank mit ihm eine halbe Flasche Orangenlikör, Trentis Spezialmarke, die sie aus seinem Kleiderschrank gestohlen hatte. Oder sagen wir besser: entnommen. Denn Trenti, äußerst schlampig in allen Angelegenheiten des äußeren Lebens, hatte ihr die Verwaltung aller seiner Angelegenheiten übertragen. Es war das, wie ich erst später erfuhr, eine Art von leichtsinniger, aber ritterlicher Kapitulation vor dem weiblichen Geschlecht. So sehr er die Fügung und Lösung seiner Freundschaften beherrschte, so sehr ließ er sich in den Dingen des Alltags von der jeweiligen Freundin beherrschen. Die Auslieferung aller Schlüssel an die Königin der Situation war so ein vertracktes Symbol für seine Unterwerfung unter das weibliche Geschlecht an sich. Aber da die Herrscherinnen sehr schnell zu wechseln pflegten, kann man sich denken, wieviel Verwirrungen dadurch in Vittorios Leben angerichtet wurden. Er pflegte übrigens allen Damen gegenüber kein Geheimnis aus dem Stande seiner Gefühle zu machen. Er schwärmte, wie er oft betonte, für Ehrlichkeit und Wahrheit. So hatte er auch, wie mir Spernser gleich danach mit vor Orangenlikör schwimmenden Augen berichtete, dem unglücklichen Fräulein Schütze mitgeteilt, daß er nach Berlin fahre, um Manuela „diesem SS-Knilch schleunigst abzuknöpfen“. Denn bei der Lage der Dinge sei ja diese Verbindung für sie äußerst gefährlich. Spernser und Fräulein Schütze waren am Ende der halben Flasche Orangenlikör zu dem Ergebnis gekommen, daß Vittorio schneidig und edelmütig zugleich handele. Die brave Schütze war am Abend vollständig betrunken. Da sie aber von ihrer ostpreußischen Heimat her gewohnt war, sich gut und gerade auf den Beinen zu halten, merkte man das nur an ihrer ungewöhnlichen Redseligkeit und der Hartnäckigkeis, mit der sie mir immer wieder versicherte, Vittorio werde Manuela zwar retten, weil er eben schneidig und edelmütig sei, aber er werde sie nicht einmal mehr mit dem Hintern angucken. Da sie diesen kräftigen Satz im Laufe des Abends etwa fünfzehnmal wiederholte, sehr zur Freude der Generaldirektorsfrauen Didi Seifert und Herma Zacke, und da der Orangenlikör unerschöpflich war, verlief dieser Abend in einer verschwimmend-eintönigen Langeweile. In den alkoholischen Nebel hinein brachte der kleine, glatzköpfige Direktor Kölle, der anscheinend in seinem Zimmer mit seinem Kofferapparat eifrig die feindlichen Sender abhörte, immer neue sensationelle Schreckensnachrichten. Die Amerikaner seien nur noch achtzig Kilometer von Koburg, die Russen hätten die Oder überschritten. Die telephonische Verbindung mit Berlin sei abgerissen, und schließlich sei ein Blitztelegramm des Verlages eingetroffen, das uns den Befehl gebe, uns in den nächsten Tagen weiter nach Süden abzusetzen.

Alle diese Nachrichten machten auf uns wenig Eindruck. Nicht nur des Orangenlikörs wegen waren wir von allen Verbindungen zu unserem früheren Leben losgelöst. Da wir unsere Zukunft nicht bestimmen konnten, da es unmöglich war, sich ein Bild davon zu machen, was nun kommen werde, waren wir auf eine bis dahin unvorstellbare Weise frei. Wir lebten so gegenwärtig wie kaum je zuvor oder nachher. Es gab für uns keine Wirklichkeit außerhalb der vierundzwanzig Quadratmeter unseres engen Gastzimmers, außerhalb der dunklen, verräucherten Lincrustawände dieses Honoratiorenstübchens mit dem schlecht gescheuerten Kneiptisch in der Mitte, den ungefügen, ungepflegten Ledersesseln, den klobigen Aschenbechern, die den Schnaps einer längst ausgebombten Berliner Schnapsfabrik dringend empfahlen, der kleinen Biertheke, hinter der vollmondgesichtig und verächtlich Herr Maiboom sich lümmelte, der Zapfknecht des Hotels, Zellenleiter und Inhaber des goldenen Parteiabzeichens, das er aufreizend genug immer noch auf seiner grünen Hausknechtsschürze trug — einer der wenigen getreuen Gefolgsmänner seines Führers. Keine Wirklichkeit, außer den sechs, sieben Gesichtern um den Tisch, lachenden, gierigen, hoffnungslosen Gesichtern, den blitzenden Ohrringen der hektischen Frau Zacke, der sanftschimmernden, kostbaren Perlenkette Didi Seiferts, an der sie mit spitzen, rotlackierten Fingernägeln herumfingerte, so, als würde sie sonst an ihrem Schmuck ersticken. Dazwischen immer wieder die Glatze Kölles und seine feisten, bleichen Hamsterbäckchen, die vor Nervosität vibrierten, die Katastrophenglatze, wie Spernser sie unehrerbietig nannte. Schließlich noch, durch unser Gelächter angelockt, Tellermann, der Matador der Berliner Lokalredakteure, der rüstige Sechziger, ehemaliger Meister im Schnellgehn, vielfacher Sieger im Gepäckmarsch rund um Berlin, ein Mann also, dem mit dem Untergang Berlins seine Existenz gewissermaßen doppelt genommen wurde und der als einziger unter uns noch von einer Wendung der Dinge im letzten Augenblick faselte. Dazu seine fünfundfünfzigjährige Sekretärin Bella van Zamen, aus unerfindlichen Gründen Häschen genannt, Herta Schröder, Spernsers Sekretärin, ein blaßblondes Nichts, das beim Lächeln einen Goldzahn entblößte, und Oskar von Willigrodt, mein Stellvertreter, achtundzwanzig Jahre alt, einarmig und einäugig, den leeren linken Ärmel seines Rockes mit fahrigen Bewegungen wie eine Vogelscheuche schwenkend und die leere, linke Augenhöhle hinter einem schwarzen Monokel verborgen.

Das also war das äußere Bild dieses letzten Koburger Abends. An Ereignissen ist lediglich zu verzeichnen, daß Maiboom, der Zapfknecht, den ziemlich betrunkenen Spernser wegen defaitistischer Reden stellte und mit einer Anzeige beim Ortsgruppenleiter drohte, ein paar Ohrfeigen bekam, hinausflog und von da ab hartnäckig immer wieder an der verschlossenen Tür polterte. Ferner, daß wir überflüssigerweise alle Brüderschaft tranken, wobei Herma Zacke an Willigrodts Brust gewissermaßen kleben blieb. Daß Spernser und Didi Seifert sich unter Tränen schworen, miteinander durch dick und dünn zu marschieren, wobei Didi immer wieder versicherte, nur häßliche Vögel seien treue Menschen. Das war dann wieder das Signal für Fräulein Schütze, über Vittorio zu sprechen, den kein Mensch außer ihr je verstanden habe, der wohl äußerlich nicht treu sei, aber innen von purem, treuestem Golde. Schneidig und edelmütig und edelmütig und schneidig, und ob irgend jemand von den Anwesenden etwa glaube, daß Vittorio jemals diese talentlose Tänzerin, diese Manuela, geliebt habe. Nein ... versicherten wir im Chor, kein Mensch könne auf eine so lächerliche Idee kommen. Worauf sich Fräulein Schütze feierlich erhob, alle Gläser bis zum Überlaufen mit Vittorios Orangenlikör vollschenkte und uns aufforderte, auf Vittorios schneidige Edelmütigkeit zu trinken. Wer, außer Trenti, würde wohl eine ungeliebte Frau, die ihn dazu noch — „Ihr wißt es ja alle“ — denunziert habe, unter Lebensgefahr aus Berlin herausholen? „Niemand“, sagte Spernser dumpf und feierlich, und wir antworteten im Chor, wie Statisten beim Rütli-Schwur: „Niemand, niemand.“ Darauf brach die Schütze weinend zusammen. Und da kein anderer Mann in der Nähe war, begoß sie mit ihren Tränen Tellermanns Rockaufschläge. Tellermann streichelte etwas verlegen Fräulein Schützes Hinterkopf, während das fünfundfünfzigjährige Häschen verkniffen versicherte, daß zu ihrer Zeit, die freilich eine andere Zeit gewesen sei, die jungen Mädchen „ihre Seidenwäsche nicht vor aller Augen gewaschen hätten“.

Mit diesem etwas vagen und kühnen Bild schloß für mich der letzte Koburger Abend. Als ich hinausging, prallte ich auf den Schenkknecht Maiboom, der sich hineinzudrängen versuchte, aber nicht hineinkam, weil Spernser und Willigrodt ihm die Tür wieder vor der Nase zudrückten und abschlossen. „Der Ortsgruppenleiter ist getürmt“, schrie er. „Ich kann ihn nicht melden. Aber kaltmachen werde ich den Kerl. Ich dreh ihm den Kopf um wie einem alten Hahn. Verstehn Sie.“

4

Tessy kam erst gegen elf Uhr wieder. Ich war auf meinem. Lehnstuhl, alle Decken auf den Knien, eingeschlafen. Es war eiskalt. Aber Tessy hatte ein Marktnetz voll Kohlen mit. Ihre Freundin hatte sie ihr geschenkt. „Als Abfindung“, sagte sie in ihrer ruhigen Sachlichkeit. „Dreißig Kohlen ... das ist für eine Freundin billiger als vierzehn Tage einen Gast haben.“ Sie war im übrigen recht vergnügt, heizte und kochte, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, einen kräftigen Tee. Es wurde ganz behaglich. Kohlen heizen eben doch besser als grünes, sperriges Lindenholz.

Ich las ihr vor, was ich den Tag über geschrieben habe. „Damit du weißt, wo wir alle herkamen.“

Sie nickte gleichmütig. „Ich weiß ... aus dem Sumpf. Ihr wart alle völlig verkommen.“

„Aber einig und verträglich“, sagte ich.

Sie schlürfte ihren Tee und sah mich listig-lustig über die Tasse weg an. „Wenn jeder macht, was ihm gerade durch den Sinn fährt, und alle schrein im Chor bravo ... da ist es kein Kunststück, einig zu sein.“

„Du irrst dich“, sagte ich etwas gereizt, „gerade wenn keiner Rücksicht auf den anderen nimmt, müßte doch ein Krieg aller gegen alle entstehn. Nichts war ... bis du und Manuela ...“

Sie schnaufte verächtlich. „Ich und Manuela, als ob Manuela sich mit irgend jemandem vertragen hätte. Nicht einmal mit ihren Männern.“

Ich sagte: „Die alte Walpurga hat mir gesagt: Sie ist so schön, man muß sie lieben.“

„Walpurga war schon siebzig und hat keinen Mann gekannt. Da konnte sie leicht überirdisch gut sein.“

Wir stritten uns lange über Walpurga und darüber, ob das Alter gut oder böse mache. Wir kamen weit vom Thema ab.

Tessy hatte außer den Kohlen noch fünf englische Zigaretten geschenkt bekommen. Senior Service, meine Lieblingsmarke. Drei gab sie mir, als Anzahlung auf die Miete. „Macht fünfzehn Mark“, sagte sie.

„Du willst also bleiben?“ fragte ich. Im selben Augenblick tat mir meine Frage leid, denn ich sah, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Trotzig setzte ich hinzu: „Findest du nicht, daß das auf die Dauer ein bißchen komisch ist? Die Kälte ... und ich habe dann immer die Pflicht, dich zu wärmen.“

Sie sagte: „Ich finde nichts Komisches dran. Aber so seid ihr Männer. Ungeheuer liberal in euren Reden. Sobald sich dann jemand wirklich anständig benehmen soll, ganz einfach menschlich und mal ausnahmsweise nicht männlich, dann kommt er sich bestenfalls komisch vor. Du kannst ja annehmen, ich wäre deine Tochter. Den Jahren nach geht das lange.“

„Ich habe nie eine Tochter gehabt. Ich weiß nicht, wie das ist“, sagte ich verstockt.

Sie ging fort und erschien nach ein paar Minuten wieder in ihrem hübschen Hauskleid, das von der vorigen Nacht her etwas zerknittert war. „Dann wirst du das eben lernen, mein Lieber“, sagte sie und schlüpfte ins Bett.

„Zieh wenigstens das Hauskleid aus. Das verknüllt ja ganz und gar“, sagte ich und legte mich zu ihr. Ich hörte im Dunkeln noch, wie das Hauskleid durch die Luft flog.