Vermisst

Irmgard Braun klettert und wandert seit mehr als 30 Jahren in jenen Gebieten, die in ihren Bergkrimis eine Rolle spielen, und sie war oft in den Ammergauer und Tannheimer Bergen unterwegs. Als echte Insiderin der Kletterszene kennt sie sich aus mit der Psyche des Homo kletteriensis non sapiens, egal ob Wettkampfaffe, Bouldergorilla oder Alpinyeti.

In den achtziger Jahren waren ihre Klettereien für eine Frau eher ungewöhnlich: Sie machte Erstbegehungen im Oberen Donautal und stieg namhafte alpine Routen vor, zum Beispiel die Droites-Nordwand und die „Solleder“ in der Civetta-Nordwestwand. Später kletterte sie erfolgreich in Wettkämpfen und wurde Mitglied der deutschen Sportkletter-Nationalmannschaft.

Ihre Begeisterung fürs Schreiben entdeckte die ehemalige Gymnasiallehrerin als Redakteurin beim Alpin-Magazin und später beim Süddeutschen Verlag Medien-Service. Sie veröffentlichte zahlreiche Artikel nicht nur übers Klettern und schrieb das Sachbuch „Klettern – aber sicher“. Von ihr sind in dieser Reihe bereits die Rother Bergkrimis „Nie wieder tot“ sowie „Mutig aber tot“ erschienen.

Heute lebt sie als freie Journalistin und Schriftstellerin in München und schreibt Krimis und Fantasy. Ihre Website: www.irmgard-braun.de

Alle Personen in diesem Krimi sind frei erfunden. Alle beschriebenen Orte und Klettertouren entsprechen der Realität, so wie ich sie erlebt habe (Ausnahmen: das Hotel „Munic Garden“, das Pflegeheim „Sonnenheim“ und die Jagdhütte im Trauchgau).

Ich habe versucht, auch für Nichtkletterer zu schreiben. Sollten gelegentlich Fachausdrücke oder Kletterer-Slang vorkommen, so hoffe ich, dass sie aus dem Zusammenhang heraus verständlich sind.

Irmgard Braun

Vermisst

Monika Trautners 1. Fall

Bergkrimi

Bergverlag Rother

„Die Frau findet in den Bergen eigentlich so recht das,

wozu sie geschaffen ist:

das Beherrschtwerden von einem Führer,

dem sie sich gerne unterordnet.“

Aus den „Mitteilungen des Deutschen und

Oesterreichischen Alpenvereins“ von 1924

1. KAPITEL

Susi kurvte durch die Nacht, erfüllt von einem unglaublichen Hochgefühl. Klettern! Klettern, die Berge, war das schön!

Bergsteigen war ihr Sport. Ihr Ding. Der Kletterkurs im Tannheimer Tal war vorbei, aber sie würde weitermachen – ein Leben lang.

Susi fühlte sich stark und abenteuerlustig, allein in ihrem Auto, unterwegs zu einem Schlafplatz unter freiem Himmel. Babs hatte ihr erzählt, für Kletterer sei es normal, irgendwo in der Natur auf einer Isomatte zu nächtigen.

Für Susi war es das erste Mal. Angst? Ach was. Sie war ja nicht so blöd, sich auf einem Autobahnparkplatz oder in einer Grünanlage in der Großstadt schlafen zu legen, wo schon mal ein paar gemeine Typen unterwegs sein konnten. Auf der Wiese unterhalb des Kofel würde sie niemand belästigen.

Was für einen Spaß sie bei ihrem ersten Gipfel in der Nähe von München gehabt hatte! Besonders die Felsen oben – Mist, das war schon der Gasthof »Ettaler Mühle«. Sie hatte die Abzweigung zum Frauenwasserl verpasst: also doch über die B 23 nach Oberammergau.

Susi warf einen Blick empor zur Notkarspitze, die sie dieses Jahr unbedingt noch ersteigen wollte. Von München aus brauchte sie nur eine Stunde hierher.

Es war eine gute Entscheidung gewesen, nicht daheim in Stuttgart zu studieren. Natürlich hatte sich Mama quergestellt, sie wollte Susi in ihrer Nähe haben. Und Papa befürchtete, sie könne in falsche Gesellschaft geraten. Dass Susi in eine WG gezogen war, gefiel ihm gar nicht, er hätte ihr ein schickes Apartment bezahlt, aber sie war gern unter Leuten. Natürlich hatte sie ihren Eltern nie von ihrer Mitbewohnerin Babs erzählt, bei der die Männer alle paar Wochen wechselten.

Auch Mama war da streng, sie kam aus einer schwäbischen Familie, in der Fleiß und Rechtschaffenheit zählten. Was Susi gar nicht so schlecht fand, aber die raschen Urteile ihrer Mutter über Menschen, die nicht in dieses Schema passten, ärgerten sie.

Der Kletterkurs in den Tannheimer Bergen hatte Susi aus der Stuttgarter Enge erlöst.

Ihre Eltern waren Stubenhocker, aber sie liebte es, draußen zu sein, über den nächsten Grat zu gucken, von einem Gipfel weit übers Land zu schauen. Für morgen hatte sie sich eine richtig lange Tour vorgenommen, sie hatte ja den ganzen Tag Zeit: auf den Kofel, über den Sonnenberggrat zur Klammspitze, weiter zum Feigenkopf und hinunter ins Graswangtal. Den Rückweg zum Auto würde sie per Anhalter hinter sich bringen. Ihre Mutter würde durchdrehen, wenn sie das wüsste. Aber Susi würde nicht zu jedem beliebigen Kerl ins Auto steigen. Und sie war bestimmt kein typisches Opfer.

Sie fuhr durchs nächtliche Oberammergau, bemalte Fassaden, leere Gehsteige, warmes Licht hinter den Scheiben, vereinzelt flackerte es blau von einem Fernseher. Nach der Brücke über die Ammer bog Susi links ab und fuhr am Wanderparkplatz vorbei. Er kam für sie nicht als Übernachtungsort in Frage, die große, mit Kies bestreute Fläche war wenig einladend. Und außerdem war es nicht auszuschließen, dass irgendein unangenehmer Mensch hier die Nacht im Wohnmobil verbringen wollte.

Sie fuhr noch ein Stück an der Ammer entlang, parkte ihren Fiat am Waldrand und stieg aus.

Die Nachtluft war frisch, ein leichter Wind wehte ihr das lange Haar ins Gesicht, und sie strich es hinter ihre Ohren.

Es roch nach Holz und feuchtem Laub. Hinter der dunklen Wand der Bäume ragte die schwarze Silhouette des Kofel in den Sternenhimmel. Kofel – was für ein schnöder Name für diesen schönen Berg, der in Werbeprospekten als „Matterhorn von Oberammergau“ angepriesen wurde. Etwa 500 Höhenmeter waren es dort hinauf, aber er reckte sich empor wie ein wilder Dolomitengipfel.

Susi klappte den Kofferraumdeckel auf. Das Klacken zerbrach die Stille der Nacht.

Sie beugte sich über den Kofferraum, zog eine Isomatte heraus und legte sie aufs Autodach; es folgten der Beutel mit dem Schlafsack, ihr Anorak und eine Fleecejacke.

Einen Augenblick blieb sie zögernd stehen, den Autoschlüssel in der Hand. Sie fühlte sich seltsam hier – ganz allein und ohne ein schützendes Dach.

Sollte sie lieber nach München fahren und morgen früh wieder herkommen?

Blödsinn. Das wäre Benzinverschwendung. Und feige.

Susi schaute sich um. Weit und breit war kein Auto zu sehen, in dem jemand sitzen könnte.

Der Wald war eine verschwommene Masse. Alles Mögliche mochte sich dort verstecken, etwas unheimlich war das schon.

Sie schüttelte das Gefühl ab. Kindliche Ängste. Weder Wölfe noch Bären lebten in den Ammergauer Alpen. Eigentlich war da nur eine Gefahr, und die war gering: Jemand könnte auf dieselbe Idee kommen wie sie und hier einen Schlafplatz suchen. Und dann – na ja, es gab Verrückte.

Ein Stück weiter oben am Wanderweg war die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, praktisch null.

Sie ließ das Autoschloss zuschnappen, steckte den Schlüssel in ihre Jeanstasche, klemmte sich ihre Ausrüstung unter den Arm und ging los. Auf dem gerade noch erkennbaren Weg zwischen den Bäumen musste sie ihre Füße vorsichtig setzen. Nach einem kurzen Stück bergauf wurde es heller, und sie trat aus den Stämmen heraus. Vor ihr breitete sich eine große Wiese aus. Bei ihrem ersten Besuch im Frühjahr war sie ein Meer aus Butterblumen, Margeriten und Lichtnelken gewesen. Nun war sie fremd und geheimnisvoll, eine silbergrau schimmernde Fläche im Mondlicht.

Ein paar Schritte vom Waldrand entfernt fand sie einen ebenen Platz mit niedrigem Gras. Sie rollte die Isomatte aus, legte den Schlafsack darauf und kroch hinein. Der Anorak lag neben ihr bereit, falls es ihr in Jeans und Pullover zu kalt würde. Sie knuddelte ihre Fleecejacke zu einem Kopfkissen zusammen und legte sich auf den Rücken.

Der Himmel war hell vom Licht unzähliger Sterne. Je länger sie hinaufstarrte, desto größer und leuchtender erschienen sie ihr, sie begannen zu pulsieren, zogen sich zusammen und weiteten sich im Rhythmus ihres eigenen Herzschlags.

Lange lag sie so da und schaute.

***

Sie erwachte in einer Welt aus Silberlicht und Schatten. Ihr Schlafsack war feucht an ihrer Wange, ihr Rücken kalt. Zu träge, um ihren Anorak anzuziehen, drehte sie sich auf die andere Seite und schloss die Augen.

Ein Geräusch drang in ihr Bewusstsein, so leise, dass sie nicht sicher war, es gehört zu haben. Etwas wie ein Rascheln. Ja, da war etwas.

Susi richtete sich zum Sitzen auf und lauschte. Im Wald knackte und knisterte es.

Sie starrte auf die finstere Mauer der Bäume am Wiesenrand. Hatte sich dort etwas bewegt? Was für ein Tier …?

Ein splitterndes Geräusch, als bräche ein dürrer Ast. Susi fuhr zusammen. Das musste etwas Großes sein. Ein Fuchs, ein Wildschwein? Ihr Atem ging schnell und flach. Da – zwischen den Bäumen – eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit – sie kam direkt auf sie zu!

Schnell zog sie ihre Hände aus dem Schlafsack. Mit fliegenden Fingern nestelte sie am Reißverschluss, verdammt, er klemmte, sie blickte auf, er war fast da, sie wollte weg, nur weg! Keine Chance – ein Mensch stand über ihr. Sein Gesicht verbarg sich unter einer Skimütze mit Augenschlitzen.

Susis Herz raste, sie brachte kaum einen Ton hervor.

„Was … was …“

Er beugte sich über sie. Sie winkelte ihre im Schlafsack gefangenen Beine an und stieß sie mit aller Kraft gegen seine Knie. Er schrie auf und kippte zur Seite. Susi rollte sich von ihm weg, dabei wischte ihr Gesicht über feuchtes Gras, nun lag sie auf dem Rücken.

Ein massiger Körper stürzte auf sie herab und quetschte ihr die Luft aus den Lungen. Er keuchte über ihrem Gesicht, der Dunst von Schweiß und Leder schlug ihr entgegen. Ihre Handgelenke wurden gepackt und mit enormer Kraft auf den Boden gepresst.

Plötzlich ließ der Druck auf Susis Brust nach, ihr Gegner saß rittlings auf ihrer Taille.

Susi zappelte und schrie. „Hilfe! Hiiiilfe!“

Er schob ihre Hände seitlich an ihrem Kopf vorbei nach hinten, bis sich ihre Handgelenke berührten, umklammerte sie mit einer Hand und zog mit der anderen etwas aus der Tasche seiner Lederjacke – ein Messer?

Susi wand sich, bäumte sich auf und biss mit aller Kraft in den Unterarm ihres Gegners. Unter ihren Zähnen spürte sie Haut und Muskeln. Warmes Blut quoll ihr in den Mund.

Er jaulte auf, ließ sie los. Seine andere Hand stieß auf sie herab.

Greller Schmerz fraß sich in Susis Schulter. Vor ihren Augen verschwamm alles, dann tauchte sie ins Dunkle.

2. KAPITEL

„In den Alpen gibt es zu viele Berge“, sagte Liam. „Ich bin das nicht gewohnt.“

Moni lachte. „Meinetwegen könnte die ganze Welt aus Bergen bestehen. Du müsstest dann eben vom Trekkingrad aufs Mountainbike umsteigen und dich mal richtig anstrengen.“

Ihr Enkel wickelte eine Strähne seiner schulterlangen braunen Locken um den Finger. „Radfahren ist für mich – äh – mehr als nur Sport. Ich genieße die Landschaft und bin draußen, und das kann ich auch ohne Schwitzen und Keuchen und brennende Oberschenkel. Also ich würde nie klettern, ich verstehe irgendwie nicht, was dich dazu treibt, dich so zu plagen.“

Moni stand auf und ging zum Herd. In der Pfanne blubberte es, Tomatensauce spritzte gegen die Wandfliesen. Sie schaltete die Platte aus und setzte sich wieder. „Beim Klettern bin ich so konzentriert, dass ich nicht einmal merke, ob es anstrengend ist oder nicht.“

Sie musterte Liams längliches Gesicht mit der großen Nase. Seine dunkelbraunen Augen waren die eines verwundeten Teddybären.

Er wirkte oft träumerisch und weltfremd, aber diesen Ausdruck kannte Moni nicht an ihm. Und warum war er heute plötzlich bei ihr aufgetaucht, nur drei Tage, bevor sie einander beim Familienfest sowieso sehen würden?

„Wie war es auf deiner Weltreise, Oma?“

„Nicht so gut, wie ich es mir vorgestellt habe, als ich in Rente gegangen bin. Die Käfighaltung in Büros hinterlässt Spuren. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man plötzlich in die Freiheit entlassen wird.“

Sie ergriff die Pfanne und stellte sie auf einen unkonventionell geformten Untersetzer aus Ton. Moni lächelte. Anjas kleine Finger, ihr eifriges, mit Lehm verschmiertes Gesicht …

Die Spaghetti standen schon auf dem Tisch, aus einem Schüsselchen stieg der Geruch von frisch gehobeltem Parmesan. „Guten Appetit, Liam.“

Davon konnte bei ihrem Enkel keine Rede sein. Er schob seine Nudeln auf dem Teller hin und her, fragte Moni nach ihren Reiseerlebnissen in Thailand, Laos, Australien, dem Yosemite, Kanada und Norwegen.

Er hörte ihr nicht wirklich zu und starrte zu der verglasten Türe hinaus, die in den Garten führte.

Rosen glühten vor dem Grün des Rasens, Phlox und Chrysanthemen leuchteten, als gäbe es keine Schnecken. Seit Moni vor einem Dreivierteljahr auf Reisen gegangen war, war ihr Garten buchstäblich aufgeblüht, ihr Nachbar hatte gute Arbeit geleistet.

Sie leckte ihren Löffel ab und legte ihn auf den blanken Holztisch. „Schluss mit dem Smalltalk. Du siehst unglücklich aus, Liam. Magst du mir erzählen warum?“

Seine Lippen zitterten, seine Stimme war leise. „Sie ist weg. Susi ist weg.“

Er wandte sich von Moni ab und wischte über seine Augenwinkel.

Susi – das war wohl ein Mädchen, das ihn verlassen hatte. Aber warum kam er damit ausgerechnet zu seiner Großmutter? Sicher, Liam mochte sie, weil sie immer seine Partei ergriff, wenn sein Vater ihn als Taugenichts herunterputzte. Aber seine Vertraute war sie nie gewesen, dazu kannten sie einander zu wenig; Liam war erst im letzten Semester nach München gezogen.

Moni stand auf und machte sich daran, den Tisch abzuräumen und das Geschirr in die Spülmaschine einzuordnen. So hatte der junge Mann etwas Zeit, sich zu fassen.

Hinter ihr quietschte ein Stuhl. Ihr Enkel war aufgestanden und marschierte in der kleinen Küche auf und ab, immer knapp daran, Gewürzdosen, Müslipackungen oder Marmeladengläser aus den offenen Regalen zu wischen. „Susi ist verschwunden. Hast … hast du nichts darüber in der Zeitung gelesen? Blödsinn, natürlich nicht, ich habe ganz vergessen, dass du erst seit Kurzem zurück in Deutschland bist.“

„Was ist denn passiert?“

„Ich weiß es nicht! Zuerst habe ich gedacht, Susi hätte das Interesse an mir verloren, sie hat sich nicht mehr am Handy gemeldet und meine SMS nicht beantwortet, aber dann …“

Er warf sich auf den Stuhl und schlug die Hände vors Gesicht.

Moni bereitete eine Kanne Grüntee, den hatte Liam bei ihren seltenen Besuchen in Berlin immer getrunken.

Sie stellte zwei Tassen hin, schenkte ein und setzte sich ihrem Enkel gegenüber. Der herbe Duft stieg in ihre Nase – ach so, sie hatte das Wichtigste vergessen. Sie stand wieder auf und ging zu dem Einbauschrank, in dessen oberstem Fach sie die Süßigkeiten bewusst außerhalb ihrer unmittelbaren Reichweite platziert hatte. Sie musste einen Stuhl heranziehen und hinaufklettern, um an die bereits angebrochene Tafel dunkler Domori-Schokolade heranzukommen. Mit ihrer Beute in der Hand stieg sie wieder herunter, setzte sich und legte sie neben Liams Tasse.

Er versteckte sein Gesicht noch immer hinter seinen tellergroßen Händen, denen er den Spitznamen „Pratze“ verdankte: eine Verballhornung seines Nachnamens Pratzke.

„Du bist kein Kind mehr, das man mit Süßigkeiten trösten kann“, sagte Moni. „Aber ich habe da eine neue Schokoladensorte, die du als Harry-Potter-Fan vielleicht zu schätzen weißt. Ich bin sicher, dass sie gegen Dementoren hilft.“

Er schaute auf, zog ein Tempo aus seiner Jeanstasche und trompetete hinein. „Tut mir echt leid, ich wollte dich nicht – äh – belästigen, nur etwas fragen. Aber ich habe nächtelang kaum geschlafen, und wenn ich an sie denke …“

Er brach ein Stück Schokolade ab und schob es in den Mund. Ein schiefes Lächeln. „Ach, Oma. Es ist so schwer.“

Über der Stuhllehne hing eine Umhängetasche aus Jute; er zog einen Stapel Computerausdrucke heraus und legte sie vor Moni auf den Tisch. „Hier. Schau dir das an.“

Sie nahm den obersten Zettel und hielt ihn eine Armlänge von ihrem Gesicht entfernt vor sich hin, um den Text zu entziffern.

Kochel – Seit dem 3. September suchen Bergwacht und Polizei nach einer vermissten jungen Frau. Die 20-Jährige, die aus Stuttgart stammt, studierte in München an der LMU Pädagogik. Ihr Auto wurde am Kesselberg-Parkplatz gefunden, einem Ausgangspunkt für Wanderungen im Gebiet von Herzogstand und Jochberg. Obwohl bei der Suche 23 Bergwachtleute, ein Hubschrauber und zehn Hundesuchtmpps eingesetzt wurden, fehlt von der Vermissten noch immer jede Spur.

Moni nahm sich einen Ausdruck nach dem anderen vor und las. Die Meldungen lieferten im Prinzip alle dieselben Informationen.

Heute war der 11. September, das Mädchen wurde also seit neun Tagen vermisst.

Arme Eltern. Monis Kehle wurde eng. Es war kaum zu ertragen, wenn ein geliebter Mensch einfach verschwand, das wusste sie nur zu gut.

Sie legte die Papiere hin und schaute ihren Enkel an.

„Ich bin in die Berge gefahren und sinnlos durch die Gegend gelaufen, in der sie ihr Auto gefunden haben“, sagte er. „Durch steile Wälder und Schuttrinnen und absolutes Drecksgelände querfeldein, wo normalerweise kein Mensch hinkommt. Manchmal denke ich, ich werde verrückt.“

„Du liebst sie.“

Liam seufzte. „Ja. Wobei ich nicht einmal weiß, ob es ihr genauso geht. Wir sind eher – äh – befreundet, wir kennen uns erst seit drei Monaten. Ich habe Blumen für sie gepflückt und ein paar Lieder für sie geschrieben. Wir sind oft miteinander an der Isar entlanggeradelt, einmal waren wir im Theater. Und jetzt …“

Er trank einen Schluck Tee. „Jetzt würde ich gerne von dir wissen, wie die Chancen stehen, wenn jemand so lang nicht gefunden wird. Du rennst doch seit vierzig Jahren in den bayerischen Alpen herum und kennst dich dort aus.“

Ihn zu beruhigen wäre verlogen und würde ihm auf die Dauer nichts nutzen.

„Nicht allzu gut, fürchte ich. So etwas passiert relativ oft. Wanderer stürzen ab und verschwinden in einer Gletscherspalte, einer Schlucht oder in anderem Gelände, das man vom Hubschrauber aus nicht einsehen kann.“

„Aber Suchhunde könnten doch der Spur folgen!“, wandte Liam ein.

Moni schüttelte den Kopf. „Es gibt wilde Gegenden in den Bergen, felsig, steil, mit Latschen oder Gestrüpp zugewachsen, da kommen Hunde nicht durch, und die Bergretter haben keine Chance.“

„Susis Auto stand auf einem Parkplatz, von dem man auf den Herzogstand oder den Jochberg wandern kann. Kennst du dich dort aus, Oma?“

„Natürlich. Das sind Münchner Hausberge, an schönen Tagen trifft man dort manchmal Hunderte von Leuten, die Wege sind gemütlich. Aber an einigen Aussichtspunkten am Jochberg steht man direkt über den Felsabbrüchen der Nordwand. Und wer vom Herzogstand zum Heimgarten weitergeht, muss über einen stellenweise mit Drahtseilen gesicherten Grat.“

Liam seufzte. „Zwei Polizisten waren bei mir und wollten wissen, ob Susi deprimiert war oder irgendwie anders als sonst. Sie sagten, bei einem Selbstmord wäre es denkbar, dass sie bewusst vom Weg abgewichen ist.“

„Hältst du es für möglich, dass sie sich umgebracht hat, Liam?“

„Nein! Sie lacht gern und steckt alle mit ihrer guten Laune an. Nein, das ist ausgeschlossen.“

„Erzähle mir mehr von ihr.“

Liam lehnte sich zurück, sein Blick hing im Nirgendwo. „Sie ist keine Barbiepuppe, sondern ein bisschen rundlich, und ich finde das hinreißend, sie hat Grübchen und große braune Augen. Ihre Haare sind dunkelbraun, manchmal trägt sie Zöpfe, und das passt zu ihr, sie hat etwas Ländliches, Einfaches. Noch nie im Leben habe ich so gefühlt. Und jetzt – ich kann es einfach nicht glauben.“

Dass Liam so heftig verliebt war, ließ vermuten, dass er keine Ahnung davon hatte, was in dem Mädchen vorgegangen war. „Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?“

Es dauerte eine Weile, bis Liam antwortete. „Am vorletzten Tag ihres Kletterkurses, am 29. August.“

„Ah, sie wollte also klettern lernen. Wo war denn dieser Kurs?“

„In den Tannheimer Bergen.“

Eigenartig. Warum war Liam dort gewesen?

Moni sagte nichts. Die Taktik hatte ihr früher als Personalchefin schon oft geholfen.

Liam schmorte auf kleiner Flamme, er rutschte auf seinem Stuhl herum. Endlich räusperte er sich. „Ich habe Susi angerufen, und sie hat mir erzählt, dass sie beim Klettern einen Stein auf den Oberschenkel bekommen hat. Die Wunde war nicht groß, aber sie musste genäht werden, und sie wollte von der Hütte ins Tal absteigen und zum Arzt. Ich … ich bin einfach hingefahren und habe vor der Praxis auf sie gewartet.“

Liam wich Monis Blick aus. Offenbar war es ihm peinlich, dass er so weit gefahren war, nur um seine Angebetete kurz zu sehen.

„Nach der Behandlung haben wir miteinander Kaffee getrunken und geredet und geredet. Ich bin froh darüber. Vielleicht war es das letzte …“

Liams Stimme versagte.

Moni wartete eine Weile, dann fragte sie: „Worüber habt ihr gesprochen?“

„Über unser Lieblingsthema. Susi und ich glauben an andere Werte als unsere Eltern. Dass der Mensch zählt und nicht seine Erfolge oder sein Geldbeutel. Dass freie Zeit wichtiger ist als eine Karriere.“

„Habt ihr auch über eure Beziehung geredet?“

„Irgendwie hat es sich nicht ergeben.“

„Hat Susi erwähnt, was sie in den nächsten Tagen vorhatte?“

„Nein. Ich bin davon ausgegangen, sie bald wieder in München zu treffen, wollte aber nichts Konkretes mit ihr ausmachen. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Aber nach ihrem Kletterkurs hat sie kein Mensch mehr gesehen.“

3. KAPITEL

Moni betrat den Flur, in dem ein leichter Geruch nach Pferd hing, und wich den mit Mist verklebten Stiefeln aus. Anja warf sich in ihre Arme. „Monika! Schön dass du da bist! Gut schaust du aus! Wie war dein Flug?“

„Unauffällig. Geht’s euch allen gut, Anja?“

Ihre Tochter sah aus wie immer, rotbackig und fröhlich. Wegen Bennos fünfzigstem Geburtstag hatte sie ihr hellblondes Haar hochgesteckt und sich dezent geschminkt. Sie nahm Moni den Mantel ab. „Mit mir ist alles okay. Liam ist schlecht drauf. Und bei Benno weiß ich’s nicht so genau.“ Anja grinste. „Ich begegne ihm selten und kenne ihn nur flüchtig.“

Benno war ein Workaholic, aber Anja schien das nicht zu stören. Vermutlich übernahmen ihre Pferde die Aufgabe, sie glücklich zu machen.

„Ich habe das Dachzimmer für dich gerichtet“, sagte sie. „Es ist ein bisschen unordentlich, aber du bist ja nicht pingelig.“

Moni folgte ihr die Treppe hinauf. Im ersten Stock hörte sie das Klimpern einer Gitarre.

„Liam ist gestern Mittag mit dem Fernbus angereist“, sagte Anja. „Und natürlich hat er gleich wieder mit seinem Vater gestritten. Seitdem ist er die meiste Zeit in seinem Zimmer. Und wenn man ihn mal zu Gesicht bekommt, läuft er herum wie ein Zombie.“

Sie führte Moni in ein vollgestopftes Dachzimmer. Erstaunlicherweise fand Moni ein nicht belegtes Stückchen Boden, auf dem sie ihre Reisetasche abstellen konnte.

Anja umarmte sie noch einmal. „Ich freue mich total, dass du da bist. Du kommst viel zu selten zu uns zu Besuch.“

Moni lächelte, sagte aber nichts. Ihre Tochter wäre beleidigt, wenn sie ihr die Wahrheit sagen würde: Dass sie während ihres Arbeitslebens keine Lust gehabt hatte, ihre wenige Freizeit im Flachland zu verbringen. Und es auch als Rentnerin kaum länger als eine Woche hier aushalten würde.

Anja zog sich zurück.

Moni ging ins Bad nebenan, duschte und zupfte ihre kurzen grauen Haare mit Gel zurecht, dass sie igelig vom Kopf abstanden. Das Kostüm aus beigefarbener Wildseide sah solide genug aus für ein Familienfest, das Benno zu Ehren stattfand.

***

Als Moni zusammen mit Liam im Restaurant „Zum Alten Fritz“ eintraf, hatten sich bereits vierzig Gäste um die Stehtische im Foyer gruppiert, tranken Champagner und aßen bunte Häppchen.

Sie fand einen freien Platz neben einer fliederfarbenen Matrone und einem hageren Herrn mit kariertem Jackett. Ein Kellner schwang sich um die Tische, reichte ihr und Liam ein Glas. Sie stießen miteinander an. Die Augen des jungen Mannes waren verschwollen, seine Miene verschlossen, die Locken hingen ihm wirr auf die Schultern. Dass er keine Lust hatte zu reden, war offensichtlich. Und die Fliederfarbene und der Karierte diskutierten über die Schwierigkeiten, vernünftiges Hauspersonal zu finden.

Moni beobachtete ihren Schwiegersohn, der von Gruppe zu Gruppe marschierte. Benno hatte wohl schon einiges an Sekt intus, der sonst sachlich-kühle Preuße klang ungewohnt leutselig. „Prostata, alter Freund, na was macht das Geschäft?“, „Hallo Sabine, warum so still? Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, haha.“ Nächster Tisch. „Ah, Helenchen, kennst du schon meinen Schwager Friedrich? Er ist Bauunternehmer, ein sehr erfolgreicher sogar …“

Zur Feier des Tages hatte Benno einen Nadelstreifen-Anzug über sein eckiges Gestell geworfen; immer wieder wischte er mit einem großen Taschentuch über die Stirn, die zu Ungunsten der grauen Haare ein Drittel der Schädelfläche erobert hatte.

Er näherte sich Monis Tisch, auf seinem Gesicht pappte ein Lächeln. „Darf ich euch miteinander bekannt machen? Mein Onkel Bodo Witteler, ein bekannter Anwalt, mit seiner Frau Dorothea. Und das ist meine Schwiegermutter Monika Trautner, einst Leiterin der Personalabteilung von Reckling Pharma in München, sie ist seit Kurzem in Rente.“

Er warf einen scharfen Blick auf Liam. „Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen! Reiß dich zusammen, Junge, kümmere dich ein bisschen um unsere Gäste!“

Benno wandte sich von seinem Sohn ab und hielt auf den nächsten Gästetisch zu.

„Na, dann haben Sie ja jetzt eine Menge Zeit“, sagte der karierte Onkel. „Was tun Sie eigentlich den ganzen Tag lang? Machen Sie Volkshochschulkurse oder engagieren Sie sich für irgendeine wohltätige Aufgabe?“

Mal sehen, ob die beiden reagierten wie erwartet.

„Reisen. Lesen. Und klettern.“

Die fliederfarbene Frau namens Dorothea hob die Brauen. „Klettern? Sie meinen so richtig mit Seil und Haken?“

„Ja.“

„Ist das nicht furchtbar gefährlich?“

„Nicht schlimmer als Autofahren.“

Onkel Bodo glaubte Bescheid zu wissen. „Verstehe. Sie machen also nicht dieses Freeclimbing ohne Seil, das ich mal im Fernsehen gesehen habe. Na, das war ein Muskelprotz, der da die Show abgezogen hat, und Nerven hatte der! Aber so was ist wohl nur eine Herausforderung für echte Kerle.“ Er beugte sich zu Moni herunter. „Und, haben Sie schon das Matterhorn bezwungen?“

Bezwingen. Herausforderung. Diese Wörter lösten bei Moni stets einen leichten Brechreiz aus. Man konnte einen Berg nicht „bezwingen“, höchstens die eigene Schwäche; und „Herausforderung“ war ein von Betriebswirtschaftlern und Politikern total abgenudeltes Wort. „Ja.“

„Na dann müssen Sie in Ihrer Jugend eine sehr gute Bergsteigerin gewesen sein!“

In ihrer Jugend. Diese Reaktion war typisch. Die meisten Leute dachten, man könne nicht mehr auf hohe und schwierige Berge steigen, wenn man um die Sechzig war. Moni hatte das Matterhorn erst vor drei Jahren gemacht. Sie fing Liams Blick auf und zwinkerte ihm zu. Er würde die Ironie verstehen: „Wenn man auf die Hundert zugeht, muss man sich damit abfinden, dass die Kräfte allmählich nachlassen.“