Anni Lechner

Die schöne Försterin

Die Schatzkapelle

Die Todeswand

Anni Lechner: Band 4, Die schöne Försterin ... und zwei weitere spannende Romane

Copyright © by Anni Lechner

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.

Überarbeitete Neuausgabe © 2017 by Open Publishing Verlag

Covergestaltung: Open Publishing GmbH – Mathias Beeh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

eBook-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95912-211-5

Die schöne Försterin

Eben noch hatten die hochragenden Felswände zu beiden Seiten der Straße Manuela das Gefühl gegeben, durch ein endloses Steinlabyrinth zu fahren. Doch nun lag die Passhöhe vor ihr, und sie blickte mit staunenden Augen in das Tal hinab. Ein kleiner Parkplatz bot ihr die Chance, anzuhalten und sich ihre neue Heimat in Ruhe anzusehen. Als sie die Fahrertür öffnete, füllte frische, würzige Bergluft ihre Lungen, und sie roch den Wald, der die Bergflanken bedeckte.

Zu ihrer Linken erstreckte sich der Staatsforst wie ein dunkelgrünes, im Wind wiegendes Meer aus Bäumen. Die Bauernwälder am gegenüberliegenden Hang wirkten wegen des unterschiedlichen Alters der Bäume hingegen wie ein lang gezogenes, geschecktes Schachbrett aus verschiedenen Grüntönen und hellen Frühlingsfarben. Mit einem gewissen Ärger erkannte Manuela, dass einige Stellen des Waldes brachlagen und von dichtem Gestrüpp bedeckt wurden.

Da wartet ja einige Arbeit auf mich, dachte sie, und wandte ihren Blick jetzt dem eigentlichen Tal zu. Es war mehrere Kilometer lang und endete an einem Felsmassiv, auf dessen anderen Seite bereits Österreich lag. Auch im Osten grenzte das Tal von St. Christoph an das Nachbarland, während nach Westen hin jenseits der Berge das Isartal mit dem Ort Krün lag. Um dorthin zu gelangen, musste man jedoch mehr als dreißig Kilometer fahren, obwohl ein Vogel, der über den Soiernspitz flog, nur ein paar Minuten dafür brauchte.

Manuela musste sich zwingen, ihren Blick von dem Tal abzuwenden und wieder in ihr Auto einzusteigen. Ihr Hund Jackl, der bisher gemütlich auf dem Rücksitz geschlafen hatte, machte sich jetzt bemerkbar. Manuela öffnete ihm die Tür und sah zu, wie er im nächsten Gebüsch verschwand. Sorgen um ihn machte sie sich keine. Jackl war gut dressiert und würde sich keine zehn Schritte von ihr entfernen.

Ein junger Bursche, der in dem Moment um die Ecke bog, sah es anscheinend anders. Er blieb stehen, lächelte Manuela zu und deutete auf den Hund.

»Das ist fei gefährlich, Fräulein. Sie dürfen Ihr Zamperl ned frei herumlaufen lassen. Wenn das ein Jäger sieht, schießt er ihn glatt über den Haufen.»

Manuela wandte sich dem Burschen zu und fand ihn auf Anhieb sympathisch. Er war vielleicht einen halben Kopf größer als sie, besaß ein schmales, rassiges Gesicht, eine leichte Adlernase und helle Augen, die sie an einen Falken erinnerten. Sein Haar war dunkel und ragte etwas struppig unter seinem kecken Hut hervor. Seine Kleidung bestand aus derben Schuhen, einer speckigen Kniehose aus Leder und einem rot-weiß karierten Flanellhemd. Da er eine Axt in der Hand hielt, wollte Manuela ihn schon fragen, ob er einer der staatlichen Forstarbeiter wäre. Da fiel ihr ein, dass sie ihm noch keine Antwort gegeben hatte.

»Danke für Ihre Warnung. Normalerweis’ lass ich meinen Jackl auch ned frei herumlaufen. Doch diesmal hat’s ihm ein wengerl arg pressiert.»

»Sie sollten ihn lieber nimmer von der Leine lassen, denn wir kriegen einen neuen Förster. Das wird gewiss ein arg scharfer Hund sein, dem selbst beim Anblick eines so lieben Zamperls wie ihrem Jackl der Zeigefinger jucken dürfte.»

Manuela hustete, um ihr Lachen zu verbergen. »Ist der neue Förster wirklich so schlimm?« Sie betonte dabei das Wort Förster in einer Weise, dass es hätte auffallen müssen. Der junge Mann bemerkte es jedoch nicht, sondern nickte eifrig.

»Das ist doch sonnenklar, Fräulein. Unser alter Förster hat in den letzten Jahren vor seiner Pensionierung ein wengerl die Zügel schleifen lassen. Da schicken s’ uns jetzt gewiss einen jungen, ehrgeizigen Mann, der wieder alles auf Vordermann bringen soll.»

Jetzt musste Manuela doch lachen. »Sie machen mir ja direkt Angst, Herr...?»

»Wallner wär’ mein Familiennam’ und Veit werd’ ich gerufen«, antwortete er, während er Manuela betrachtete. Was er sah, gefiel ihm. Die junge Frau war etwa in seinem Alter, schlank gewachsen mit eher aparten als üppigen Formen und besaß das Gesicht eines Engels mit einem fein gezeichneten Mund, einer geraden Nase und zwei Augen, die wie Amethyste schimmerten. Ihr blondes Haar zeigte einen fast silbernen Schein und war zu einem bis zur Taille reichenden Zopf geflochten worden. Die Kleidung war zünftig, feste Wanderschuhe, helle Kniestrümpfe, eine strapazierfähige Kniehose und eine locker sitzende beige Leinenbluse. Veit hielt sie für eine Touristin, obwohl es eigentlich noch etwas zu früh im Jahr dafür war.

Manuela streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. »Angenehm, Herr Wallner. Ich wär’ die Kneißl Manuela.»

»Kneißl, wie der berühmte Wildschütz?»

»Genau so, und wenn das stimmt, was mir meine Eltern erzählt haben, bin ich sogar mit ihm verwandt.« Veit gefiel Manuela, und sie nahm die Begegnung mit ihm als gutes Omen für ihre Ankunft in ihrer neuen Heimat. Sie wollte ihm eben sagen, dass sie die neue Försterin wäre, als Jackl plötzlich laut bellend in den Forst hineinstürmte. Gleichzeitig war ein Schuss zu hören, der talaufwärts gefallen sein musste.

»Holen S’ Ihren Hund zurück«, rief Veit erschrocken. »Wie’s ausschaut, ist der Grünrock schon da.»

Das ist er auch, aber anders, als du denkst, fuhr es Manuela durch den Kopf. »Jackl, bei Fuß«, schrie sie dem davonlaufenden Hund nach. Der Dackel stoppte kurz und rannte dann weiter.

»Jackl, du Sauhund. Kommst du jetzt bei Fuß.« Manuelas Stimme klirrte vor Ärger, als sie ihrem Hund nachlief. Der Dackel zuckte zusammen und machte dann mit eingezogenem Schwanz kehrt. Er kroch fast auf dem Bauch, als er bei Manuela ankam. Diese leinte ihn sofort an und schalt ihn aus.

»Du bist mir ja ein sauberer Jagdhund, so einfach auszubüxen. Was glaubst du, was die Leut’ dann über mich lachen würden, wenn dich ein Jäger erschossen hätt’. Tu das fei ja nimmer.»

Veit war Manuela gefolgt und atmete sichtlich auf, als er den Hund sah. »Gott sei Dank hast du dein Zamperl rechtzeitig erwischt, bevor was passieren hat können.»

»Ich weiß ned, was in den Jackl gefahren ist«, antwortete Manuela kopfschüttelnd. »So kenn’ ich ihn nämlich gar ned.»

»In der Stadt, wo viel Trubel ist, da bleiben die Hunderl meisten brav bei ihren Herrchen, aber mitten in der Natur, da bricht halt ihr Jagdinstinkt aus.« Noch während er es sagte, fand Veit, dass er zu schulmeisterlich klang.

»Ich wollt’ Sie ned zurechtweisen. Außerdem laufen auch den Einheimischen manchmal ihre Hunde davon. Wenn der alte Förster da jeden über den Haufen geschossen hätt’, wär’ ihm viel Feindschaft daraus erwachsen.»

»Trotzdem haben Sie recht, Herr Wallner. Ein freilaufender Hund hat im Forst nix zu suchen.« Obwohl Manuela Jackl zornig anfunkelte, wedelte der Hund bereits wieder mit dem Schwanz.

Veit fand es an der Zeit, das Thema zu wechseln. »Das mit dem Herrn und Sie nimmt man bei uns ned so genau wie in der Stadt. Sagen S’ einfach Veit und du zu mir, das passt schon.»

»Aber bloß, wenn du zur mir Manuela sagst.»

Veit lächelte erfreut und blickte sie dann fragend an. »Sehen wir uns wieder?»

»Wenn du in St. Christoph wohnst, gewiss.»

»Freilich wohn’ ich in St. Christoph. Der Hof dort unten, der mit dem neuen Dach, das ist der unsere.« Er zeigte dabei auf ein recht stattliches Ansehen. Das neue Dach bedeckte jedoch nicht das malerische alte Wohnhaus mit seinem hölzernen Obergeschoss, sondern den Stall.

»Ned schlecht, Frau Specht«, rief Manuela anerkennend. »Ihr habt wirklich einen schönen Hof daheim.»

»Magst du ihn dir anschauen? Du kannst heut Abend gern kommen. Um sieben bin ich mit meiner Stallarbeit fertig.»

Manuela überlegte kurz und wiegte unschlüssig den Kopf. »Ich weiß ned, ob ich heut schon dazu komm’. Aber vergessen tu’ ich deine Einladung gewiss ned.»

»Ich erinner’ dich schon daran. Jetzt muss ich aber weiter, sonst fragt mein Vater noch, wo ich abgeblieben bin.« Veit winkte ihr zum Abschied fröhlich zu und wandte sich zum Gehen. Er hoffte, das Mädchen würde lange genug in St. Christoph bleiben, damit sich ein Flirt mit ihr auch lohnte. Als er kurz darauf mit der geschulterten Axt in den Wald eintauchte, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Er hatte Manuela eben erst kennengelernt und schon jetzt Angst davor, sie wieder zu verlieren.

*

Das Forsthaus von St. Christoph lag einen guten halben Kilometer oberhalb des Ortes im Wald. Es handelte sich um ein altehrwürdiges Gebäude aus gemauerten Bruchsteinen und einem hölzernen Aufbau, das sich von den Wohnhäusern der Bauern durch die an der Außenwand aufgehängten Jagdtrophäen unterschied. Obwohl Manuela wenig davon hielt, Tiere nur ihrer Geweihe wegen hochzuziehen, war sie Jägerin genug, um von den mächtigen Geweihen beeindruckt zu sein.

Sie interessierte sich jedoch nicht nur für den weidmännischen Schmuck des Hauses, sondern auch für dessen Zustand. Die Mauern hätten einen neuen Anstrich ebenso gut brauchen können wie die Fensterläden, der Balkon und die Tür. Wie es aussah, hatte ihr Vorgänger seine Pflichten arg schleifen lassen. Etwas verärgert öffnete sie die Tür und trat ein. Da das Haus nicht zugesperrt war, erwartete Manuela, jemanden im Innern zu finden. Doch sie fand die Küche im Erdgeschoss ebenso leer wie ihr neues Büro und das spärlich möblierte Wohnzimmer. Auch im Obergeschoss war niemand zu sehen. Die Zimmer selber ließen zu wünschen übrig. In zweien lag nur Gerümpel, das auf den Speicher oder noch besser in den Sperrmüll gehörte, ein weiteres war ratzeputz ausgeräumt und in der Schlafkammer standen ein bemaltes Bett und ein Schrank, die eher in ein Bauernhofmuseum gehörten.

Wie es aussah, hatte Manuelas Vorgänger seine Möbel mitgenommen und es ihr überlassen, sich neu einzurichten. Sie prüfte die Matratze des Bettes und fand, dass sie diese wohl als Erstes ersetzen sollte. Der Rest wird sich schon finden, sagte sie sich und stieg wieder ins Erdgeschoss hinab. Der Kühlschrank in der Küche war wie erwartet leer. Manuela wollte deshalb in den Ort fahren, um einzukaufen. Fast im selben Moment schlug Jackl an.

Manuela eilte ans Fenster und sah eine etwas dralle junge Frau mit einem großen Korb in der Hand auf das Forsthaus zukommen. Sie trug ein dunkelgrünes Dirndlkleid und eine weiße Bluse, deren Ausschnitt beeindruckende Einsichten versprach.

Als die Frau die Tür öffnete und eintrat, hielt Manuela es an der Zeit, sich bemerkbar zu machen und sagte: »Grüß Gott«.

Die andere ließ fast den Korb fallen. »Mei, haben Sie mich jetzt erschreckt. Ich hab’ denkt, es wär’ keiner da.»

»Hast du vielleicht die Tür offen stehen lassen?«, wollte Manuela wissen.

Die dralle Frau schüttelte den Kopf. »Nein, das war schon der Muregger Toni. Der hat nämlich den Schlüssel vom Forsthaus. Aber weil der neue Förster jede Stund’ kommen kann, haben wir denkt, wir lassen ihn ned vor der geschlossenen Tür warten.« Sie betrachtete Manuela mit plötzlich aufkommenden Misstrauen und krauste die Nase.

»Sind Sie vielleicht die Frau vom neuen Förster?»

Manuela schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, die Frau vom Förster bin ich ned. Ich bin der neue Förster, oder besser gesagt, die Försterin.»

Die Dralle starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Das gibt’s ned. Eine Frau kann kein Förster sein!»

Um Manuelas Mundwinkel zuckte es amüsiert. »Anscheinend doch, sonst wär’ ich ned hier.« Sie sah dann auf den Korb, den die andere in der Hand hielt, und fragte: »Was hast du denn da drinnen?»

»Ein paar Lebensmittel, damit der neue Förster ned hungern hätt’ müssen. Aber die kann ich jetzt ja wieder mitnehmen.« Die Frau wollte sich schon umdrehen und gehen, doch Manuela hielt sie zurück.

»Wer hat dir angeschafft, Lebensmittel zu bringen?»

»Niemand! Meine Mutter ist nämlich die Krämerin in St. Christoph, und da hab’ ich halt ein paar Sachen zusammengesucht, die der neue Förster brauchen hätt’ können.»

»Vielleicht kann ich sie brauchen. Zeig’ einmal her, was du hast.« Manuela trat vor, hob das Tuch hoch und entdeckte mehrere Konservendosen, einen Laib Brot, Butter und mehrere verschlossene Tüten.»

»Da sind Wurst und Käs’ drinnen«, erklärte die Krämerstochter.

»Was soll das Ganze kosten«, wollte Manuela wissen.

»Fünfundzwanzig Euro«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.

Es war ein stattlicher Preis für die paar Lebensmittel. Manuela zögerte daher einen Moment, auf dieses Angebot einzugehen. Dann sagte sie sich jedoch, dass sie sich damit einen Gang in den Ort sparte, und nickte. »Also gut, da hast du das Geld.« Sie zog ihre Geldbörse und zählte den Betrag ab. Obwohl es ihr im Herzen wehtat, legte sie noch einen halben Euro als Trinkgeld drauf. »Der ist für’s bringen. In Zukunft werd’ ich mir meine Sachen aber selber holen.»

Der Blick der anderen zeigte ihr, dass sie im Krämerladen nicht besonders willkommen sein würde. Komisch, dachte Manuela, unterschiedlicher kann der Empfang hier in St. Christoph kaum sein. Der Veit war freundlich und nett, während mich diese Dorfschönheit am liebsten fressen würde.

»Du kannst den Korb ja morgen zurückbringen.« Damit steckte die Krämerstochter das Geld ein und verschwand.

Manuela blickte ihr kopfschüttelnd nach und wollte gerade die Lebensmittel verstauen, als draußen ein durchdringendes Hupen ertönte. Sie steckte den Kopf zum Fenster hinaus und sah den Lastwagen des Umzugsunternehmens herankommen, der ihre Sachen brachte.

*

Als Veit Wallner auf dem Heimweg am Adlerwirt vorbeikam, rief ihn jemand an. Er drehte sich um und sah auf der Terrasse des Gasthauses seinen Freund Toni Muregger sitzen und heftig winken.

»He, Veit, wie wär’s mit einer Halben?»

Veit schüttelte abwehrend den Kopf. »Doch ned am helllichten Nachmittag.»

»Jetzt komm’ schon, Veit. Oder pressiert’s bei euch daheim so, dass du ned einmal ein Viertelstünderl Zeit übrig hast, um mit uns zu feiern«, drängte ihn sein Freund lachend.

Jetzt wurde Veit doch neugierig. »Was feiert ihr denn?»

»Die Ankunft unseres neuen Chefs. Wie du siehst, sind wir alle versammelt.« Toni wies auf drei kräftige, untersetzte Männer, die bei ihm am Tisch saßen. Mit ihren Filzhüten, die längst ihre Form verloren hatten, und ihren vom Alter gedunkelten ledernen Kniehosen und ihren karierten Hemden hätten sie genauso gut Bauernknechte sein können. Es handelte sich jedoch um die Arbeiter des hiesigen Forstamtes. Toni war zwar der Jüngste von ihnen, aber trotzdem schon ihr Vorarbeiter. Sonst war er immer der Letzte, der am Feierabend die Axt oder die Motorsäge aus der Hand legte. Daher wunderte Veit sich, seinen Freund um diese Zeit beim Wirt zu sehen. Ein Blick auf die Kirchturmuhr zeigte ihm, dass er ein paar Minuten erübrigen konnte. Daher stieg er die Steintreppe zur Wirtsterrasse hoch und setzte sich zu den Waldarbeitern.

»Ihr seid heut im Wald wohl eher fertig geworden.»

»Wir waren heut gar ned im Wald«, rief Toni grinsend. »Heut soll doch unser neuer Förster kommen. So einen Tag muss man feiern. Schließlich weiß man ned, was einem die Zukunft bringen wird. Wenn’s ein arg scharfer Hund ist, kommen wir vielleicht bloß noch nach Feierabend zum Wirt.»

»Während der Arbeitszeit sollt ihr eh ned saufen«, wandte Veit ein.

»Wir saufen doch ned, das tun ja bloß die Ochsen. Wir trinken, nein, wir genießen das Bier!»

Veit sah seinem Freund an, dass Toni heute schon mehr als ein Bier »genossen« hatte, und winkte kopfschüttelnd ab. »Ich wär’ an eurer Stell’ vorsichtiger. Das habt ihr vielleicht mit dem Zeitler machen können, aber bei eurem neuen Chef setzt ihr euch damit in die Nesseln.»

»Du hättest Pfarrer werden sollen, Veit, weil du so gut predigen kannst«, spottete einer von Tonis Kollegen.

»Ich mein’s ja bloß gut mit euch.« Veit wandte sich ab, weil in dem Moment die Wirtin den Kopf zum Fenster herausstreckte, um zu fragen, ob was gebraucht wurde.

»Bring mir eine Halbe, Maria!»

Toni trank rasch seinen Krug leer. »Mir auch noch eine Halbe. Wenn ich die getrunken hab’, schau ich doch mal zum Forsthaus, ob unser neuer Grünrock schon da ist.« Er erhielt von unerwarteter Seite Antwort.

»Der neue Grünrock ist da!« Die Krämerstochter Erika Volz kam gerade an der Terrasse vorbei und hatte ihn gehört.

Toni musterte das dralle Mädchen spöttisch. »Hat er sich auch gefreut, weil du so lieb für ihn gesorgt hast?»

Erikas rundliches Gesicht wurde zunächst dunkel vor Ärger. Plötzlich musterte sie Toni mit einem seltsamen Blick, kam auf die Terrasse hoch und setzte sich neben ihn. »Aber Toni, du wirst doch ned etwa eifersüchtig sein. Ich wollt’ doch bloß, dass der neue Förster einen guten Eindruck von St. Christoph bekommt.»

»Entweder ist der neue Förster schiach wie ein Teufel oder gar verheiratet, weil die Erika wieder den Toni zu umgarnen versucht«, warf einer der Waldarbeiter ein.

Toni hatte wirklich alle Hände voll zu tun, um Erika von sich abzuhalten. »Und, wie ist er denn nachher, unser neuer Chef?«, fragte er, um das Mädchen abzulenken.

»Das musst du dir schon selber ansehen.« Erikas Stimme klang so seltsam, als wären ihre Erinnerungen an das Forsthaus nicht die besten.

Toni kniff verwundert die Augenbrauen zusammen. »Ich glaub’, es ist wirklich besser, wenn ich jetzt zum Forsthaus geh’.« Noch während er es sagte, kam die Wirtin mit den frischen Bierkrügen heraus und stellte sie auf den Tisch.

»Wohl bekomm’s. Darf ich dir auch was bringen, Erika?»

Die Krämerstochter schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss gleich heim. Ich hab’ bloß meinem Toni was sagen müssen.»

»Ich bin ned dein Toni«, knurrte dieser bissig.

»Freilich bist du’s.« Erika klammerte sich blitzschnell an ihn und drückte ihm ihre Lippen auf den Mund.

»Gott im Himmel, womit hab’ ich das verdient?«, stöhnte Toni, als er sich wieder befreit hatte.

»Du wirst am Sonntag in der Kirch’ ned brav gewesen sein«, spottete einer seiner Kollegen. Erika hatte nämlich mehr als ein Jahr lang versucht, sich Toni zu angeln und es erst aufgegeben, als die Ankunft des neuen Försters angekündigt worden war. Tonis Kollegen zogen sie deshalb nicht wenig auf. Erika antwortete mit einigen giftigen Bemerkungen und beschwerte sich schließlich bei Toni, weil er ihr nicht half.

Er sah sie mit großen Augen scheinbar verwundert an. »Wie stellst du dir das vor? Ich hab’ doch letzte Woch’ selber gehört, wie du gesagt hast, dass ein schmucker Förster genau der Richtige für so ein empfindsames Wesen wie dich wäre.»

Tonis Kollegen wieherten vor Lachen, weil er Erikas Tonfall so gekonnt imitierte. Auch um Veits Lippen zuckte es verdächtig. Erika war ein durchaus ansehnliches Mädchen, trug aber ihr Herz auf der Zunge und erntete damit immer wieder den gutmütigen Spott der Leute.

Jetzt war sie beleidigt und bedachte die Waldarbeiter mit einem überlegenen Blick. »Wisst ihr, wer euer neuer Chef ist?»

»Woher sollen wir’s denn wissen. Schließlich hat er sich uns noch ned vorgestellt«, antwortete Toni grinsend.

»Er?« Erika zog ein Gesicht, als hätte sie Essig getrunken. »Es ist eine Sie. Euer neuer Chef ist eine Frau!»

Toni langte ihr mit einer spöttischen Handbewegung an die Stirn und zuckte sofort wieder zurück. »Ui jeggerl, ist das heiß, Dirndl. Du hast Fieber und siehst Halunkinationen.»

»Das heißt Halluzinationen«, belehrte ihn Veit.

»Das weiß ich doch selber«, sagte Toni unverwüstlich. Zu mehr kam er nicht mehr, denn Erika trumpfte jetzt erneut auf.

»Du kannst ruhig spotten, Toni, aber es stimmt. Der neue Förster ist eine Försterin!»

Ihre Worte riefen bei den Waldarbeitern einen erneuten Lachsturm hervor. Veit hingegen überlief es heiß und kalt. Er erinnerte sich an das schöne Mädchen, das er oben auf der Passhöhe kennen gelernt hatte.

»Könnt’ sein, dass ich der neuen Försterin schon begegnet bin«, sagte er, ohne es eigentlich zu wollen.

»Jetzt fängst du auch noch mit dem Schmarren an«, begann Toni und wurde mit einem Mal ernst. »Stimmt das wirklich? Haben die uns tatsächlich einen Weiberrock geschickt?»

»Ich kann’s ned hundertprozentig beschwören, aber die Manuela könnt’ die Försterin sein.»

Toni musterte Veit mit einem seltsamen Blick. »Manuela heißt sie also mit Vornamen, und wie noch?»

»Kneißl, so wie der Wilderer damals.»

»Saxndi, dann ist’s wirklich wahr. Man hat uns nämlich von der Forstbehörde geschrieben, dass ein M. Kneißl der neue Förster sein soll.« Toni sank wie vernichtet in sich zusammen und wehrte sich nicht einmal mehr gegen Erikas Schlangenarme. Er trank seinen fast noch vollen Krug in einem Zug leer und rief dann laut und grimmig nach dem nächsten. Als die Wirtin Veit fragte, ob er auch noch etwas trinken wolle, schüttelte dieser den Kopf.

»Ich muss jetzt heim. Da, der Rest ist Trinkgeld!« Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und verließ die Runde. In seinen Gedanken sah er Manuela vor sich und konnte es kaum glauben, dass sie Försterin sein sollte.

»Das ist kein Beruf für eine Frau«, murmelte er leise vor sich hin. Insgeheim ertappte er sich jedoch dabei, wie er das Mädchen gerade deswegen bewunderte.

*

Die erste Nacht in dem alten Bett mit der ausgeleierten Matratze war fürchterlich gewesen. Manuela tröstete nur die Tatsache, dass sie von Veit geträumt hatte. Als sie am Morgen aufstand, freute sie sich darauf, den jungen Burschen bald wiederzusehen. Vorher rief allerdings die Pflicht. Sie hatte am Vorabend bereits damit begonnen, die Berichte ihres Vorgängers durchzusehen. Das Ergebnis war erschreckend gewesen. Förster Zeitler hatte es in seinen letzten Jahren gemütlich angehen lassen und heuer überhaupt nichts mehr getan. Die Formulare für den Waldzustandsbericht, der längst hätte eingereicht werden müssen, steckten noch in dem Kuvert, in dem die Oberforstdirektion sie verschickt hatte.

In gewisser Weise war Manuela froh, dass ihr Vorgänger das Forsthaus bereits verlassen hatte. Sie hätte ihm sonst ein paar überdeutliche Worte sagen müssen. Während sie sich in der Küche ein einfaches Frühstück zubereitete, legte sie sich schon ihre Aufgaben für diesen Tag zurecht.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr erinnerte sie daran, dass vier Waldarbeiter zum Forsthaus gehörten. Eigentlich hätten diese um sieben Uhr kommen und sich vorstellen müssen. Der Zeiger kroch aber bereits auf halb acht zu, ohne dass jemand erschien. Um acht Uhr hatte Manuela gefrühstückt und machte sich für ihren Reviergang bereit. Da noch immer kein Forstarbeiter erschienen war, überlegte sie, deren Vorarbeiter anzurufen. Sie hielt den Hörer schon in die Hand, legte ihn dann aber wieder zurück. Wahrscheinlich waren die Männer bereits im Wald und erfüllten ihre Pflichten. Die Liste dessen, was alles getan werden musste, war ziemlich lang gewesen. Da blieb ihnen wohl kaum die Zeit, um nachzuschauen, ob der neue Förster schon gekommen war.

Obwohl ihr der Verstand dies einredete, ärgerte Manuela sich trotzdem darüber. Bis auf den freundlichen Empfang durch Veit hatte sie bislang nicht viel Gutes hier erlebt. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht besser zum Wallnerhof gehen sollte, um Veit wiederzusehen. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Der Beruf ging vor.

Sie befestigte die Leine am Halsband des Hundes und streichelte ihm kurz über den Rücken. »Auf geht’s, Jackl. Der Forst ruft.« Der Dackel bellte erwartungsvoll und strebte zur Tür. Manuela wollte schon öffnen, als ihr Blick auf ihren Gewehrkoffer fiel. Eigentlich hielt sie es für unnötig, auf einem einfachen Besichtigungsgang eine Waffe mitzunehmen. Aber um nicht mit einer x-beliebigen Touristin verwechselt zu werden, nahm sie dann doch eines ihrer beiden Gewehre heraus und hängte es sich über die Schulter.

Mit Jackls Leine in der einen und einer Karte ihres Reviers in der anderen Hand machte sie sich auf den Weg. Schon in der Nähe des Forsthauses entdeckte sie die ersten abgestorbenen Stämme, die bereits im letzten Herbst hätten entfernt werden müssen. »Das ist unglaublich, Jackl«, sagte sie zu ihrem Hund. »Wenn wir da ned aufpassen, haben wir eine Borkenkäferplage am Hals, die sich gewaschen hat.»

Jackl wuffte kurz und sah treuherzig zu ihr auf. Von Borkenkäfern verstand er wenig, aber die Art, in der sein Frauchen dieses Wort aussprach, zeigte ihm, dass sie diese Käfer nicht mochte. Als treuem Jagdhund waren sie auch Jackl nicht sympathisch, so bellte er mehrere der ausgedörrten, toten Stämme böse an.

Die Zeit verging. Manuela wanderte durch ihr Revier, verglich die an Bäumen aufgemalten Nummern der Schläge mit ihrer Karte und fand, dass sie sich einen schöneren Posten hätte wünschen können als das Revier von St. Christoph. War im Staatsforst schon viel zu tun, so stellten die Bauernwälder teilweise eine Zumutung dar. Mehrere Windbrüche waren nicht abgeräumt worden und mancher Bauer hatte einen Schlag abgeholzt, aber nicht mehr aufgeforstet. Zu allem Überfluss gab es keinen heilen Hochsitz mehr, und die Futterstellen des Reviers spotteten jeder Beschreibung.

Obwohl Arbeit ohne Ende vorhanden war, waren die Waldarbeiter nirgends zu sehen. Manuelas Laune sank immer tiefer, und sie überlegte gerade, wie sie diesen Muregger zur Schnecke machen konnte, als ein junger Mann zwischen den Bäumen heraustrat. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie Veit erkannte. Sie rief Jackl, der ihn anbellte, mit einem leisen Ruf zur Ordnung und winkte Veit zu.

»Guten Morgen. Das ist aber eine Überraschung.»

»Hoffentlich eine positive«, erwiderte er lächelnd. Sein Blick umschmeichelte sie in einer Weise, die sie fast verlegen machte.

»Du hast wohl auch heut wieder im Wald zu tun?«, fragte sie.

Veit schüttelte den Kopf. »Eigentlich weniger. Aber ich hab’ dich vom Hof aus ins Revier gehen sehen und mir denkt, das wär’ eine gute Gelegenheit, um dich wiederzusehen.»

»Ich freu’ mich auch darüber.« Manuela vergaß ihren Ärger und lächelte ihm zu. Doch dann fiel ihr ein, dass Veit ihr als Einheimischer vielleicht helfen konnte.

»Du, ich hab’ eine Frag’ an dich. Du kennst doch sicher einen gewissen Anton Muregger?»

»Du meinst den Toni. Das ist mein bester Freund.« Noch während er es sagte, hätte Veit sich auf den Mund schlagen können. Er hatte am gestrigen Abend selber Tonis großspurige Worte gehört, die neue Försterin so klein zu falten, dass sie in eine Streichholzschachtel passen würde und sie mit der Aufschrift, »Annahme verweigert« zur staatlichen Forstbehörde zurückzuschicken.

»Dein Freund, dann ist es hoffentlich wirklich bloß ein Missverständnis.« Manuela atmete auf, denn ein Freund Veits konnte ihrer Meinung nach kein arbeitsscheuer Faulenzer sein.

»Um was geht’s denn?«, fragte Veit.

»Der Muregger ist weder gestern Abend noch heut in der Früh’ im Forstamt gewesen, und im Revier kann ich auch keine Spur von ihm und den anderen drei Waldarbeitern entdecken.»

Veit hätte ihr sagen können, dass die vier bei einem gemütlichen Frühschoppen im Adlerwirt zusammensaßen. Um des lieben Friedens willen hielt er jedoch den Mund. Er nahm sich aber fest vor, Toni ins Gewissen zu reden.

»Es tut mir leid, wenn du dich jetzt als Auskunftsbüro missbraucht siehst. Aber könntest du mir sagen, wem dieses entsetzlich vernachlässigte Grundstück dort vorne gehört. Das hätt’ schon vor Jahren neu bepflanzt werden müssen.»

Manuelas Frage erinnerte Veit siedend heiß daran, dass sie sich hier in St. Christoph nicht nur mit Toni Muregger auseinanderzusetzen hatte. »Meinst du das dort vorne?« Er wies dabei auf eine von Brombeeren und Dornbüschen überwucherte Lichtung zur Linken.

Manuela nickte eifrig. »Genau das.»

Veit senkte beschämt den Kopf. »Das gehört leider uns.»

Manuela konnte es kaum glauben. »Aber warum habt ihr ned wieder aufgeforstet?»

»Dein Vorgänger, der Zeitler, hat uns damals, als wir das Stück abholzten, versprochen, wir bekämen vom Staat einen Zuschuss dafür. Als daraus nix geworden ist, war mein Vater so sauer, dass er geschworen hat, den Schlag erst dann wieder anzupflanzen, wenn der Staat den Zuschuss bezahlt.»

»Ich werd’ wohl mit deinem Vater reden müssen«, erklärte Manuela hoffnungsvoll.

Er wird dich ned ernst nehmen, fuhr es Veit durch den Sinn. Es gelang ihm im letzten Moment, diese Worte, die schon über seine Lippen drängten, zurückzuhalten. Schließlich wollte er Manuela nicht schon von vornherein entmutigen. Vielleicht geschah ja doch noch ein Wunder.

Sein Blick ruhte nun warm auf ihr, und das Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. »Ich will aber weniger über den depperten Wald mit dir reden, sondern über dich. Ich tät’ so gern alles von dir wissen.»

»Neugierig bist du ja gar ned«, erwiderte Manuela lachend. »Aber wir können es ja so machen. Zuerst erzähl’ ich ein bisserl aus meinem Leben, dann du aus deinem und irgendwann weiß dann jeder alles vom anderen.»

Veit nickte glücklich und fing als Erster an. Manuela erfuhr, dass er eine Schwester namens Bettina besaß, die ein rechter Treibauf sein sollte, seine Mutter über alles liebte und seinen Vater bewunderte. Sie sagte ihm, dass sie als einziges Kind eines Försters von Kindesbeinen mit ihrem jetzigen Beruf verbunden gewesen war und hier in St. Christoph ihre erste Stelle als Försterin antrat.

»Gleich als Erstes bei uns im Gebirg’, Dirndl, du traust dir was zu!«, rief er verblüfft.

Manuela sah ihn verständnislos an. »Warum? Ist es hier vielleicht schlimmer als im Unterland?»

Veit nickte eifrig. »Aber freilich. Wir Bergler sind schon eine eigene Rass’. Es gibt einige bei uns, an deren Kopf könntest du einen Schmiedehammer zerschlagen.« Er verschwieg, dass sein eigener Vater auch dazugehörte, und fragte sich plötzlich, was er denn eigentlich wollte. Sein Vater würde nur eine große Bauerntochter als Schwiegertochter akzeptieren. Wenn er jetzt mit Manuela zu Hause ankam, waren Streit und Hader vorprogrammiert. Plötzlich erkannte er, wohin sich seine Gedanken verstiegen, und wurde rot. Er betrachtete Manuela genauer und wusste, dass seine Gefühle für sie über Nacht noch gewachsen waren. Jetzt, wo er sie kannte, würde er kein anderes Mädchen mehr ansehen. Vor allem keines von denen, mit denen sein Vater ihn liebend gern verkuppeln würde.

»Weißt du, dass du wunderschön bist«, flüsterte er Manuela leise zu.

»Das sagst du wohl zu jeder.« Trotz dieser Worte freute Manuela sich riesig über dieses Kompliment. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, wie gut er ihr gefiel. Doch gerade, als das feine Band zwischen ihnen fester zu werden schien, hallte ein Schuss durch den Forst, und Manuela verwandelte sich im Handumdrehen von einem jungen, verliebten Mädchen in die Försterin.

»Hier wird ja ziemlich viel herumgeballert«, rief sie verwundert. »Wer hat denn eigentlich alles den Jagdschein?»

»Mein Vater, aber der ist’s gewiss ned, weil er heut nach Miesbach gefahren ist. Außerdem hat noch der alte Schmied den Jagdschein. Dem hat früher das Privatrevier gehört, das jetzt mein Vater gepachtet hat.« Veit wunderte sich selbst über den Schuss, vor allem, weil er seiner Meinung nach im Staatsforst gefallen war, und dort hatten weder sein Vater noch der Schmied etwas verloren.

Auch Manuela war zu der Überzeugung gekommen, dass im Staatswald geschossen worden war, und es juckte sie in den Fingern, herauszubekommen, wer den Schuss abgefeuert hatte. »Die Pflicht ruft, leider«, sagte sie zu Veit und verabschiedete sich von ihm.

»Mach’s gut! Und sei vorsichtig.« Seine Besorgnis ließ Manuelas Augen freudig aufleuchteten. Veit macht sich etwas aus mir, sang ihr Herz, während der Verstand ihr sagte, dass sie sich jetzt nicht um ihre Gefühle zu kümmern hatte, sondern um den Schuss und vor allem den Schützen.

»Ich bin alleweil vorsichtig, Veit. Pfüat Gott bis zum nächsten Mal!« Sie winkte Veit kurz zu und eilte mit schnellen Schritten in den Wald hinein. Veit sah ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war, und wäre ihr am liebsten gefolgt.

*

Manuela war ihrer Meinung nach schon ein ganzes Stück über die Stelle hinaus gekommen, von der sie den Schuss gehört hatte. Es war niemand zu sehen, und sie wollte die Suche schon abbrechen. Da schlug Jackl plötzlich an und zerrte an der Leine. Sie folgte ihm und entdeckte kurz darauf mehrere rote Flecken auf einem Moospolster. An einem Busch in der Nähe fand sie auch noch mehrere blutverschmierte Haare, die von einem Hirsch stammten. Bei diesem Anblick grub sich eine scharfe Kerbe in Manuelas Stirn. Im staatlichen Revier hatte niemand ohne ihre Erlaubnis einen Hirsch zu schießen. Sie wollte zwar noch nicht an einen Wilderer glauben, schloss es jetzt aber nicht mehr ganz aus. So schlampig, wie ihr Vorgänger Zeitler seine Aufgaben erfüllt hatte, musste dieses Revier wie ein Magnet auf jeden schießwütigen Möchtegern-Jennerwein gewirkt haben. Oder lag es etwa an ihr, fragte sie sich. Dachte vielleicht jemand, mit einer Frau könnte er es machen? Dann aber sollte er sich getäuscht haben.

Sie forderte Jackl auf, der Fährte zu folgen. Der Hund zog sofort heftig an der Leine und riss sie beinahe um. Es ging nun mehrere hundert Meter über grünes Moos und von verdorrten Tannennadeln bedeckten Waldboden, bis sie schließlich einen gekiesten Forstweg erreichten. Hier war Jackl mit seiner Kunst am Ende. Er lief noch ein paar Meter in jede Richtung und kehrte zuletzt winselnd zu Manuela zurück. Sie sah seinen treuen Dackelaugen an, wie sehr es ihn wurmte, die Spur hier verloren zu haben.

»Da können wir nix machen, Jackl. Es kommen auch wieder andere Tag’«, versuchte sie, den Hund zu trösten. Sie selber folgte den Forstweg ein Stück weit in beide Richtungen, doch auf dem Kies war weder ein brauchbarer Reifenabdruck zu finden noch etwas anderes, was ihr weiterhelfen hätte können. Da die Mittagszeit längst überschritten war, brach sie die unergiebige Suche ab und machte sich auf den Heimweg. Als sie die Abzweigung erreichte, die in den Ort führte, bog sie dorthin ab. Sie wollte ein paar Sachen einkaufen und dabei auch gleich nach Muregger fragen. Wenn er keine gute Ausrede parat hatte, sollte er sich lieber warm anziehen, sagte sie sich, als hinter ihr das satte Brummen eines motorstarken Autos erklang.

Es handelte sich um einen der großen Geländewagen, wie sie ihn gerne selbst gehabt hätte, sich aber noch nicht leisten konnte. Der Fahrer kam im gemächlichen Tempo heran, bremste und blieb schließlich neben ihr stehen. »Habe die Ehre, schöne Frau. Wo soll’s denn hingehen? Nach St. Christoph kann ich dich mitnehmen.»

Manuela sah einen Mann in einem khakifarbenen Hemd mit einer Unmenge aufgenähter Taschen und einem Hut wie Indiana Jones vor sich. Trotz seines freundlichen Angebotes wirkte ihr sein sonnengebräuntes Gesicht eine Spur zu überheblich. Entsprechend fiel ihre Antwort aus. »Das ist aber großzügig von Ihnen. Schließlich liegen die ersten Häuser von St. Christoph keine hundert Meter vor uns und so groß ist der Ort auch ned, dass man sich bis dorthin Blasen laufen könnt’.»

»Es war ja ned wegen der Entfernung, sondern wegen dem Kennenlernen.« Der Mann leckte sich bei Manuelas Anblick genießerisch die Lippen und deutete dann eine Verbeugung an. »Mein Name ist Max Steinmann. Mir gehört die Trogerhütte dort oben.« Er wies dabei auf ein recht stattliches Gebäude, das ein ganzes Stück weiter oben am Berg am Rand einer Lichtung zu sehen war.

»Sie wohnen wirklich nobel«, sagte Manuela spöttisch. Entweder war Steinmann zu dickfellig, um es zu merken, oder es lag ihm im Blut, anzugeben.

»Das ist mein Wochenendhaus. Mein Hauptwohnsitz ist in der Stadt, natürlich ein Penthouse in Schwabing.»

»Natürlich.« Manuelas Ironie war nun fast schon beißend. Doch auch dieser Pfeil prallte an Steinmann ab. Er lehnte sich aus dem Wagen und deutete auf ihr Gewehr.

»Sag bloß, du bist die Nachfolgerin vom Zeitler?« Es klang direkt belustigt und ärgerte Manuela damit noch mehr.

»Ich bin die neue Försterin«, erklärte sie bissig.

»Na, dann fehlt sich ja aber rein gar nix mehr.« Steinmanns Grinsen wurde noch breiter. Er winkte ihr zu und fuhr dann gemütlich weiter.

Erst jetzt merkte Manuela, dass ihr Hund mit gefletschten Zähnen neben ihr stand und leise knurrte. »Gelt, Jackl, du magst diesen eingebildeten Patron auch nicht«, sagte sie zu ihm und setzte ihren Weg fort. Als sie den Ort erreichte, wanderte ihr Blick neugierig über die Häuser am Straßenrand. Was sie sah, gefiel ihr. St. Christoph war noch nicht der Gigantomanie anderer Orte im Gebirge verfallen, in denen die Häuser der Einheimischen zwischen riesigen Hotelkomplexen und den protzigen Villen Zugereister untergingen. Es gab eine barocke Kirche mit einer kupfernen Turmzwiebel und den Bildstöcken etlicher Heiliger an den Außenwänden. Neben der Heiligen Jungfrau stach vor allem St. Christophorus, der Namenspatron des Dorfes, ins Auge. Das Ortsbild wurde von mehreren großen Bauernhöfen geprägt, und dem wuchtigen Adlerwirt, der fast direkt neben dem Kirchhof stand. Manuela wollte eben an der Gastwirtschaft vorbei gehen, als es auf der etwas erhöht liegenden Terrasse plötzlich laut wurde.

»Ja, wenn das ned unsere neue Försterin ist, könnt ihr mich in Zukunft einen Deppen nennen«, rief ein junger, gut aussehender Mann Mitte zwanzig so laut, dass Manuela es einfach hören musste. Sie wandte sich zu ihm um und musterte ihn mit einem prüfenden Blick.

»Und mit wem hab’ ich die Ehre?»

Der Bursche wandte sich seinen Freunden zu. »Da hört ihr’s! Es ist eine Ehre, mit mir bekannt zu sein.« Einige Männer lachten darüber, einer von ihnen stieß ihn schließlich mit dem Ellbogen an.

»Jetzt stell’ dich schon vor, wenn deine Chefin was von dir wissen will.»

»Freilich, Hans, man ist ja schließlich ein Kavalier. Also ...« Der Sprecher grinste Manuela dabei auf eine Weise an, die ihr die Nackenhaare aufstellte, »Also, ich wär’ der Muregger Toni, der Vorarbeiter deiner Forstleut’, und das sind meine Kollegen.»

»Ist’s ned ein wenig früh dafür, im Wirtshaus zu sitzen?«, fragte Manuela verärgert.

»Wir sitzen doch gar ned in der Wirtschaft, Frau Oberforstdirektorin, sondern auf der Terrasse.« Toni grinste darüber wie über einen gelungenen Witz und rief nach der Wirtin, um sich eine frische Halbe zu bestellen.

»Herr Muregger, ich glaub’, ich muss ernsthaft mit Ihnen reden.« Manuela war über Tonis Verhalten empört.

»Sag Toni zu mir, Frau Oberforstdirektorin. Das Herr Muregger hört sich ein wengerl arg geschwollen an. Da könnten meine Kollegen ja direkt denken, ich halt’ mich für was Besonderes.« Toni erntete von den anderen Waldarbeitern einen wahren Lachsturm, während Manuela sich nur mit Mühe am Explodieren hindern konnte.

»Herr Muregger, da Sie heute anscheinend zu betrunken sind, um arbeiten zu können, werde ich ihnen diesen Tag vom Urlaub abziehen. Morgen früh sind Sie um sieben Uhr beim Forstamt und erstatten mit Rapport. Danach werden wir weitersehen. Und jetzt, wohl bekomm’s!« Manuela wandte sich brüsk ab und ging weiter.

Toni starrte ihr im ersten Augenblick etwas verdattert nach, winkte dann aber lachend ab. »Jetzt reißt sie ihr Mundwerk noch auf. Aber ich sag’ euch, da gehört schon mehr dazu, um einem Muregger Toni einen Tag Urlaub wegzunehmen.»

Sein Kollege Hans wiegte unschlüssig den Kopf. »Ich weiß ned, Toni, die schaut mir ned so aus, als wenn mit ihr leicht Kirschen essen wär’.»

Toni musterte ihn mit einem spöttischen Blick. »Willst du uns vielleicht in den Rücken fallen, Hans? Wir waren uns doch vorhin alle einig. Nach St. Christoph gehört ein richtiger Förster und kein Weiberkittel.»

*

Nachdem sie mit Toni aneinandergeraten war, ging Manuela zum Rathaus weiter. Der Mann in dem einzigen besetzten Büro blickte auf, sah ihr Gewehr und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Grüß Gott. Mein Name ist Kneißl, ich bin die neue Försterin«, stellte Manuela sich vor.

»Kollenberger, Gemeindesekretär. Meine Empfehlung an den Herrn Gemahl. Der Bürgermeister hätt’ gern mit ihm geredet.»

»Ich glaub’, Sie haben ned ganz zugehört. Ich bin die Försterin.« Manuela legte diesmal etwas mehr Nachdruck in ihre Worte.

Der Mann schüttelte energisch den Kopf. »Bei uns ist noch nie eine Frau Förster gewesen, und es wird auch so schnell keine werden.»

Manuela platzte beinahe der Kragen. »Ich bin’s aber. Oder glauben Sie, ich trag’ das Gewehr aus Spaß mit mir herum?»

»Ich weiß ned, ob das Tragen von Waffen in öffentlichen Gebäuden überhaupt gestattet ist.« Kollenbergers Stimme klang so empört, als wäre Manuela mit entblößtem Busen und nichts als einen Tangastring am Leib ins Rathaus gekommen.

Manuela beschloss, das unangenehme Schauspiel abzukürzen. »Ich will wissen, wo der Bürgermeister wohnt und wo der Vorsitzende der hiesigen Waldbauernvereinigung.»

»Das ist beides der Wallner Matthias.« Mehr sagte Kollenberger nicht. Manuela dachte jedoch nicht daran, ihn um weitere Auskünfte anzugehen. Veit hatte ihr am Vortag gezeigt, wo der Hof seines Vaters lag, und sie glaubte nicht, dass es mehr Bauern mit dem Familiennamen Wallner im Ort gab. Sie verabschiedete sich mit einem sehr kühlen »Auf Wiedersehen« und verließ das Rathaus. Als sie jedoch kurz darauf den Wallnerhof betrat, waren weder Veit noch sein Vater zu Hause. Die Bäuerin empfing sie mit sichtlichem Misstrauen und gab ihr das Gefühl, auch hier unerwünscht zu sein. Sie versprach aber, ihrem Mann auszurichten, dass Manuela da gewesen wäre. Manuela war direkt froh, den Hof wieder verlassen zu können. Draußen begegnete ihr ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen von etwa zwanzig Jahren. Es besaß etwas vollere Formen als sie selbst, ohne jedoch mollig oder gar untersetzt zu wirken. Das Gesicht war schmal und wies eine verkleinerte Form von Veits Adlernase auf, die ihr aber gut stand, und große, graue Augen, die spöttisch über sie hinwegglitten.

»Ah, die Frau Oberforstdirektorin beehrt uns mit ihrem Besuch.»

»Ein einfaches Försterin tut’s auch, sonst muss ich mir eine entsprechende Bemerkung für dich einfallen lassen, wie zum Beispiel Frau Oberkuheuterentleerungsspezialistin.»

Es war Manuela dabei egal, dass sie Veits Schwester gegenüberstand. Sie hatte heute schon genug Spott hinnehmen müssen und war nun selber auf ein Opfer aus. Zu ihrem Pech, aber auch einer gewissen Erleichterung, ging Bettina Wallner mit hochmütiger Miene an ihr vorbei und verschwand im Haus.