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Über dieses Buch:

Jetzt fängt das gute Leben an … oder? Christine ist Mitte 50 und hat eigentlich keinen Grund zu klagen: Ihre Buchhandlung läuft gut, ihr charmanter Lebensgefährte weiß genau, wie er sie glücklich machen kann ... und die kleinen Herausforderungen des Alltags wie ihren erstaunlich anhänglichen Ex-Ehemann, ihren schrulligen Vater und ihre Tochter, die das Enkelkind allzu gerne bei ihr parkt, nimmt Christine mit Humor. Doch als ein Konzern droht, ihr Geschäft zu übernehmen und ihr Ex auf einmal mit seinem neun Monate alten Baby um Asyl bittet, steht Christines Leben plötzlich Kopf …

Über die Autorin:

Die Romane Annemarie Schoenles werden millionenfach gelesen, zudem ist sie eine der begehrtesten Drehautorinnen Deutschlands (u. a. Grimme-Preis). Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von München.

Die Website der Autorin: www.annemarieschoenle.de

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Aktualisierte und überarbeitete eBook-Neuausgabe Oktober 2020

Dieses Buch erschien bereits 2013 bei dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2008 Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der aktualisierten und überarbeiteten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

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Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / ingebogenbijl / New Africa / Gau Meo / LUMIKK555 / superbank stock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95520-451-8

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Annemarie Schoenle

Familie ist was Wunderbares

Roman

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Für Victoria und meine wunderbare Familie

Das Erste, das der Mensch im Leben vorfindet, das Letzte, wonach er die Hand ausstreckt, das Kostbarste, was er im Leben besitzt, ist die Familie.

ADOLF KOLPING

Das Wort »Familienbande« hat einen Beigeschmack von Wahrheit.

KARL KRAUS

Kapitel 1

Es war natürlich ein Fehler, mit diesem Bernd Nickelmann auszugehen. Ich saß mit ihm bei meinem Lieblingsitaliener, freute mich auf meine Tortellini ... da erzählte er mir, dass er nur zufällig als Buchvertreter für den Westmann-Verlag arbeite. In Wirklichkeit sei er Psychotherapeut. Er leide allerdings an einer Art Patientenallergie, die seinen Körper in ein Schlachtfeld konkurrierender Schmerzen verwandele. Sitze er länger als eine Viertelstunde einem an seinen Fingernägeln kauenden Häufchen Elend in seiner Praxis gegenüber, befalle ihn ein unerträglicher Juckreiz, gepaart mit bellendem Husten.

»Sobald ich auf die Anamnese zu sprechen komme. Sie wissen schon ... die Vorgeschichte, was unweigerlich zum Thema ›Familie‹ führt.«

»Verstehe«, antwortete ich völlig verständnislos.

»Familie«, sagte er voller Verachtung. »Beginnt mit dem Kopulationsblick und endet mit monogamem Primatenverhalten.«

Ich dachte an Ulrichs Kopulationsblick – fast dreißig Jahre her, ein herrlicher Frühlingstag und wir so unbeschreiblich jung. Fünf Monate später waren wir verheiratet, ein Jahr später bekamen wir Anja. Sein Jahrzehnte währendes monogames Primatenverhalten legte Ulrich allerdings vor fünf Jahren so geschwind ab, dass mir Hören und Sehen verging. Eine junge Sachbearbeiterin brachte ihm den neuen Marketingleitfaden in sein Büro. Ulrich, wie vom Blitz getroffen, entsann sich seines längst entschwundenen Aufreißerblicks und wechselte zum Seitensprung. Und da die marketinggeschulte Sabine, dreißig Jahre alt, meinem Mann das Gefühl vermittelte, wieder jung und stark zu sein, bat er mich, die ich mit meinen fünfzig Jahren quasi das unliebsame Kontrastprogramm zu Sabine darstellte, um die Scheidung. Nur um sofort wieder zu heiraten und sich dann auch noch zu reproduzieren. Baby Jonas ist inzwischen neun Monate alt, jünger als unser Enkelkind Leonie. Jonas ist somit Anjas Bruder und Leonies Onkel, was ihn sicher später einigermaßen verwirren wird, und obwohl ich keine rachsüchtige Exfrau bin, gönne ich Ulrich die Peinlichkeit, dem Sprössling irgendwann einmal Papas Paarungsverhalten erklären zu müssen. Meine Freundin meinte kürzlich, dieses ganze geschlechtliche Tohuwabohu wäre nicht nötig, würden Menschen sich wie Rennechsen verhalten. Diese klugen Tierchen verzichten auf Sex, legen unbefruchtete Eier, aus denen Ebenbilder ihrer selbst entstehen. Kein Werben, keine Kämpfe, keine Seitensprünge, identische DNA. Was allerdings nachdenklich stimmt. Kamerageile Politiker, hirnlose Popstars oder die Jury für »Deutschland sucht den Superstar« als Rennechsen? Und daraus folgernd eine hundertprozentig identische DNA? Nein, dann doch lieber Nebenbuhler, kampfbereites Geweih und vermischte Gene.

Während ich meine Tortellini aß, sprach Bernd Nickelmann über seinen verworrenen Berufsweg, der ihn schließlich ins Verlagswesen geführt hatte, und dann sehr ausführlich, als sei dies der eigentliche Zweck seines Hierseins, über seine Familie. Schon nach den ersten Schilderungen wurde mir klar, dass er in kurzer Zeit selbst Fingernägel kauend einem Therapeuten Juckreiz bescheren würde. Was hatte mich nur geritten, mit ihm auszugehen? Eigentlich wollte er mir lediglich das neue Herbstprogramm seines Verlages vorstellen, und da ich die letzten Tage nie Zeit für ihn gefunden hatte und er mir in seiner müden grauen Nonchalance leidtat, nahm ich die Einladung zum Abendessen an. Eine Frau in meinem Alter kann das sogar im kleinstädtischen Bodenfurt getrost tun. Nach herkömmlicher Meinung ist man dann, bei allem Wohlwollen, nicht mehr auf der Piste, als keuche Gott Eros nur hinter jugendlichem Fleisch her. Wenn ich also mit dem noch relativ jungen Bernd Nickelmann zum Essen ging, war das so unverfänglich, als würde ich einen Milchshake trinken. Ah, guck mal ... dort drüben, Christine Bonhof! ... Ist wohl ihr Schwiegersohn oder dieser Neffe aus Itzehoe.

»Haben Sie auch Familie?«, fragte Nickelmann.

»Jeder Mensch hat Familie.«

»Verheiratet?«

»Eigentlich wollten Sie mir die Neuerscheinungen Ihres Verlages nahebringen.«

Nach seinem Vortrag hatte ich den Eindruck, dass er nicht nur mit Allergien, sondern auch mit Phobien gestraft war: Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich in meiner Buchhandlung nur Ratgeberliteratur anbieten dürfen, da kämpfte sich offensichtlich der Psychotherapeut in ihm an die Oberfläche. Romane fand er zum Kotzen. Je länger wir darüber sprachen, desto öfter kratzte er sich, und als er die Rechnung verlangte, stellte sich bellender Husten ein.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen fand ich nicht aus dem Bett, obwohl sich ein strahlend blauer Himmel über der Stadt spannte. Vielleicht deswegen. Perfektion macht mich misstrauisch. Außerdem hatte ich Kreuzschmerzen, laut meiner Apothekenzeitschrift der Beginn bröckelnder Knochensubstanz und unaufhaltsamer Vergreisung. Die Zeit war einfach vorbei, da jeder Tag wie eine Verheißung vor einem liegt, da man ungeniert sein nabelfreies Top mit den Spaghettiträgern aus dem Schrank zieht, in seine Jeans hüpft und weiß, dass man so oder so zum Anbeißen aussieht. In meinem Alter bedurfte schon die morgendliche Routine genauer Überlegung, unendliche Geduld mit sich selbst war angesagt. Ein wenig Bodengymnastik – hatte der Orthopäde, der wohl auch die Apothekenzeitschrift liest, empfohlen, da sich angeblich die Lendenwirbel im Laufe der Jahre beängstigend nähern, die Bauchmuskulatur schlaff wird und der Rücken in sich zusammenfällt wie ein Baiser, das man zu früh aus dem Herd nimmt. Wechselduschen, Feuchtigkeit spendende Körperlotion, das Hormongel, eine kleine Gesichtsmaske, ein deprimierender Schritt auf die Waage, frühstücken, Maske abwaschen, ankleiden und das nachtgraue Antlitz mit der nötigen altersgerechten Ausdauer schminken. Auch wenn meine Mitmenschen beteuern, dass ich immer noch eine gutaussehende Frau bin, schleicht sich doch leises Bedauern ein, wenn ich an der Fotowand im Flur vorbeigehe, die Anja mir vor ein paar Jahren gebastelt hat, mit Bildern aller Familienangehörigen. Das Foto dort oben: ich? Gertenschlank, faltenloses Gesicht und daneben Ulrich, volles Haar, straffes Kinn? Ich amüsiere mich immer köstlich, wenn man mir in Magazinen und Filmen weismachen will, dass das Alter einer Frau keine Rolle mehr spiele. Falsch, ganz falsch. Richtig ist vielmehr, dass unser Selbstbewusstsein gestiegen ist und wir uns auch jenseits der fünfzig attraktiver fühlen, als unsere Mütter das getan hatten. Wir färben uns die Haare, wir benutzen Puder und Rouge, wir gehen ins Fitnessstudio, wir tragen modische Kleidung, wir scheuen uns nicht, allein in Urlaub zu fahren, riskieren Seitensprünge und One-Night-Stands. Wie schön für uns! Aber, Hand aufs Herz – wie gut wir auch aussehen mögen, es bleibt eine Tatsache, dass keine jungen Männer mehr wie angewurzelt stehen bleiben, wenn wir an ihnen vorübergehen. Und der Kellner ist zu uns nicht deshalb so charmant, weil er fieberhaft überlegt, wie er uns in sein Bett kriegen könnte, sondern weil wir mit lässiger Eleganz ein Designerkostüm tragen und ebendieses ein stattliches Trinkgeld erwarten lässt.

Vielleicht ein bisschen zynisch, und Ausnahmen sind natürlich möglich, aber mal ganz ehrlich – was sollte ich auch mit einem milchjungen Mann? Ich habe es lieber mit Männern meiner Generation zu tun, die sich ihr »Werde, was du bist« bereits erkämpft haben. Und wieviel Selbstbewusstsein muss man wohl besitzen, seinen wohlgepflegten, aber dennoch älteren Körper einem jungen Liebhaber zu präsentieren? Natürlich ergeht es Männern nicht anders, sie behandeln nur das Problem auf andere Weise. Fernsehmacher beispielsweise bestücken ungeheuer fette, schlecht verdienende ältere Kommissare mit attraktiven, schlanken jungen Freundinnen in der Hoffnung, der Abglanz der Jugend möge diese Herren weniger schmuddelig erscheinen lassen und uns das Gehirn vernebeln. Also wirklich, Jungs, für wie blöd haltet ihr uns eigentlich? Diese Menschen müssten eine sehr dicke Brieftasche ihr Eigen nennen, um noch irgendein halbwegs annehmbares weibliches Wesen an Land zu ziehen, aber welcher kleine Kommissar verfügt schon über eine dicke Brieftasche? Man stelle sich vor: Eine fette alte Kommissarin schlurft schwitzend und nach Luft japsend mit dreißigjährigen Lovern durchs abendliche Fernsehbild. Die ganze Nation würde sich den Bauch halten vor Lachen!

Nachdem ich Kaffee getrunken und ein winzig kleines Brötchen verschlungen hatte – die Badezimmerwaage! –, machte ich mich auf den Weg zu meiner Buchhandlung. Ich hatte ihr den netten Namen »Bücherinsel« verpasst, weil ich nach meiner Scheidung von Ulrich eigentlich nur noch den Wunsch verspürte, mich auf einer einsamen Insel zu verkriechen, mit weniger als nichts im Gepäck, ausgenommen meiner Lieblingslektüre. Leider erlaubte es mir meine desolate finanzielle Lage nicht, mich auf die Seychellen oder die Malediven zurückzuziehen, da meine neue Existenz, die Buchhandlung, das ganze Geld verschlungen hatte, das mein Anwalt Ulrich aus den Rippen schneiden konnte. Was nicht allzu viel war, da wir im Laufe unserer Ehe außer dem üblichen Spargroschen in Form von Wertpapieren und einer Lebensversicherung nichts zurückgelegt hatten. Ich entschloss mich, auf Unterhaltszahlungen zu verzichten und mir stattdessen einen Traum zu erfüllen: die eigene Buchhandlung. Wir verkauften die Wertpapiere, ließen uns die Lebensversicherung ausbezahlen und trennten uns als Freunde, wie es so schön heißt. Dass Ulrich mein Freund bleiben wollte, war nachvollziehbar. Er heiratete schließlich eine fünfundzwanzig Jahre jüngere Frau, da entstand außerehelicher Gesprächsbedarf, und wer ist dafür besser geeignet als eine Gefährtin, die einen in- und auswendig kennt, die weiß, wie man tickt, die von der Unterhosengröße bis zum Lieblingsdessert alles herunterleiern kann, was im Laufe der langjährigen Ehe haftenbleibt im geduldigen Gattinnengehirn.

Warum ich auf diesen Deal einging? Keine Ahnung. Weil nie einer allein am Scheitern einer Ehe Schuld trägt. Weil uns schon die letzten Jahre vor der Scheidung eher Freundschaft denn Leidenschaft verbunden hatte. Weil ich es ablehnte, die verbitterte Verlassene zu spielen. Weil ich neugierig auf die Zukunft war – jeder Verlust birgt auch eine neue Chance. Natürlich. Zuerst war ich geschockt, dann verletzt, dann stinkwütend. Aber was half es? Reisende soll man nicht aufhalten, hatte schon meine Mutter immer gesagt. Und ich beneidete Ulrich um seine Reise nicht. Eine so junge Frau? Das war doch, als müsse man Tag und Nacht in einem zu engen Smoking herumlaufen, nachdem man leichtsinnigerweise seine bequemen Jogginghosen der Kleidersammlung vererbt hat.

Als ich über den Marktplatz ging, öffneten die ersten Geschäfte. Ich mag diesen Platz, ich mag den Ort, obwohl oder gerade weil ich hier aufwuchs. Mit zwanzig flüchtete ich in die Großstadt, überzeugt davon, sie nie mehr zu verlassen. Als damals klar wurde, dass Ulrich dem Ruf der Firma »Eltec«, einem Elektrokonzern, nach Bodenfurt folgen würde, war mir, als schicke man mich zurück ins Gefängnis. Ich glaubte zu wissen, was mich erwartete. »Bodenfurt ... grauenhaft! Alle Leute kennen einen, jeder deiner Schritte wird registriert, ich finde keine Arbeit und ende als grüne Witwe, die in ihrer Verzweiflung den Postboten anbaggert«, jammerte ich. Ulrich sprach mit dem Vorstandsvorsitzenden seiner neuen Firma, der in Bodenfurt wie eine Art Gottheit verehrt wurde – schließlich garantierte das Unternehmen eine Menge Arbeitsplätze –, und siehe da: Im Nu hatte man mir, der gelernten Buchhändlerin, einen Job in der hiesigen Stadtbibliothek beschafft. Das nahm mir den Wind aus den Segeln, denn die drohende Arbeitslosigkeit war mein stärkstes Argument gegen meine Heimatstadt Bodenfurt gewesen.

Auf den Bistrotischen, die vor der Bäckerei standen, flatterten die Tischdecken im morgendlichen Wind, der Gemüsehändler schleppte Kisten mit Obst zu seinem Stand, Musik drang aus dem Elektrogeschäft, der Kioskbesitzer stapelte seine Zeitungen und hielt auffordernd ein Exemplar des »Bodenfurter Anzeigers« hoch, als er mich sah. Am meisten liebe ich den Blumenstand, ich bin eine Blumennärrin, in besonders bitteren Scheidungsnächten fragte ich mich oft, welcher Verlust mehr schmerzte – der von Ulrich oder der meines üppig blühenden Gartens? Wir waren übereingekommen, dass Ulrich das Haus behielt, schließlich lauerte eine neue Ehefrau mit mühsam gezügeltem Kinderwunsch auf ein adrettes Heim. Ich zog dagegen in eine große Altbauwohnung nahe des Stadtparks. Dieser Park blühte, ohne dass ich einen Finger krumm machen musste. Ich wollte nach der Scheidung überhaupt mein ganzes Leben umkrempeln und nur mehr für mich da sein. Schließlich wurde der geschiedene Gatte jetzt von einer anderen versorgt, meine Tochter war erwachsen und lebte mit ihrem Freund in einer eigenen Wohnung ... Na ja eigentlich hätte ich es besser wissen müssen.

Ich holte mir meine Zeitung und winkte meiner Freundin Petra zu, die in ihrer Boutique das Schaufenster dekorierte. Und sah im gleichen Moment Anja, Leonie im Schlepptau und das Reisekinderbett geschultert, auf mich zukommen.

»Hallo, Mama! Katastrophe. Fieber, Schnupfen, Heiserkeit ...«

Sie deutete auf Leonies rotes Näschen. »Ist für die Krippe genauso schlimm, als hätte sie Lepra.« Sie blickte mich flehend an. Ich blickte zaudernd zurück.

»Omi«, hauchte Leonie mit verklärtem Gesichtchen, als verfüge sie schon in ihrem zarten Alter von knapp drei Jahren über ein vollständiges herzerweichendes Bettelrepertoire.

Ich beugte mich zu ihr. »Ja, was denn?«, fragte ich voller Mitleid und war mir bewusst, dass mein Tag wieder einmal anders verlaufen würde als geplant. Denn ich war nicht nur geschiedene Frau, Geschäftsfrau, Mutter – ich war auch Oma. Eine eigene Spezies von Mensch, die zwar im Wandel der Zeit die Kittelschürze ab- und das Strickzeug aus der Hand gelegt hat, aber nicht minder bemüht ist, die Enkel zu verwöhnen und die Eltern mit Tat zu erfreuen, ohne sie mit Rat zu nerven.

Also seufzte ich lächelnd, öffnete die Tür zur »Bücherinsel« und trat ein. Mein Volontär Jakob war gerade dabei, alle Lichter anzuknipsen und die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Leonie lief sofort begeistert zu ihm. Sie liebte Jakob, der immer Gummibärchen für sie in der Hosentasche hatte, ihr aus Bilderbüchern vorlas und Legotürme mit ihr baute. Anja stellte mit geübtem Griff das Reisekinderbett in unserer Teeküche auf und wühlte aus ihrer überdimensional großen Strohtasche Ersatzwäsche, Gemüsegläschen, Hustensaft, Grippetropfen und Eukalyptusöl.

»Einen Messbecher Saft, zehn Tropfen und das Öl auf den Schlafanzug.«

Ich nickte. War nicht der erste Schnupfen, den Leonie bei mir auskurierte. Jetzt erst nahm Anja Jakob wahr, sie lächelten sich zu, die beiden mochten sich.

»Morgen, Jakob.«

Ich zog meinen Mantel aus und schaltete den PC ein. Eine unserer Stammkundinnen, Frau Schneider, betrat den Laden und ging zu den Regalen mit den Taschenbüchern, während ich die Post durchsah und einen Brief vom Finanzamt öffnete.

»So ein Mist!«, entfuhr es mir.

Anja und Jakob sahen mir über die Schulter.

»Eine Steuernachzahlung. Und was für eine!«

Jakob grinste. »Das heißt doch, dass wir gut verdient haben?«

»Jetzt nicht mehr.«

»Gehaltsaufbesserung ade«, sagte Anja zu Jakob.

»Und was ist mit der ruinösen Sucht meiner Freundin nach Champagner und Austern?«, fragte mein Volontär.

Er schnappte sich Leonie, die zu seinen Füßen sorgfältig ihre Bauklötzchen nach Farben sortierte, und zauberte ein paar Gummibärchen aus seiner Hosentasche. »Warum könnt ihr Mädels nicht bei den Gummibärchen bleiben?«

Leonie strahlte ihn an, und er schob ihr ein Bärchen in den Mund.

Frau Schneider reichte mir ein dickes Taschenbuch. Ich sah es zweifelnd an.

»Taugt es nichts?«, fragte sie.

»Na ja ... der Autor müsste etwas intelligenter sein, um so einen Wälzer zu schreiben.« Ich holte den Roman einer jungen, vielversprechenden Autorin aus dem Regal. »Hier, Frau Schneider, das kann ich wirklich empfehlen.« Nachdem ich das Buch eingepackt hatte, bezahlte Frau Schneider. Als sie gerade den Laden verlassen wollte, stieß sie mit Ulrich und Sabine zusammen. Sabine trug den kleinen Jonas auf dem Arm, Mutter und Kind waren so adrett herausgeputzt, als hätten sie anschließend ein Fotoshooting bei einem Elternmagazin.

Konnte der Tag schöner beginnen? Das kranke Enkelkind an der Backe, während sich einem der geschiedene Mann auf leisen Sohlen nähert, ein äußerst glückliches Familienvaterlächeln um den Mund und ein bisschen ausgespuckten Brei auf dem Sakkokragen.

»Hallo, Papa«, sagte Anja reserviert und schaute ihm und Sabine kühl entgegen. Sabine blickte ebenso kühl zurück, während Ulrich sich sichtlich unwohl fühlte. Seit der Scheidung war sein Verhältnis zu Anja denkbar schlecht, vor allen Dingen, seit sie ihm an den Kopf geworfen hatte, dass sie es grauenhaft finde, einen Vater ihr Eigen zu nennen, der sein Alter mit einer jungen Blondine kaschierte. Einer Untergebenen, die bei »Eltec« sicherlich nichts anderes getan hatte, als Leitfäden von einem Zimmer zum anderen zu schleppen, um zu überprüfen, welcher der gutbezahlten Lustgreise in Nadelstreifen ihr eine gesicherte Zukunft garantieren konnte.

Ulrich strich Leonie zögernd und etwas lasch über die Wange. Die eigene junge Vaterschaft powerte ihn anscheinend dermaßen aus, dass für sein Opadasein keine Kraft mehr blieb – auch etwas, das Anja ihm verübelte.

»Tja, wir ... kommen als Kunden«, sagte er.

Ich schwieg.

»Wir möchten was für Jonas. Irgendwas Intelligentes.« Er sah seinen Sohn stolz an.

Anja lachte verächtlich. »Die Kuh macht muh, der Hund wauwau ... Oder ist mein kleiner Bruder schon bei Goethe?«

Jonas nuckelte begeistert an seinem Schnuller und sah dabei allerliebst, aber nicht unbedingt nobelpreisverdächtig aus. Ich ging zur Kinderecke und suchte nach einem Bilderbuch, das seinem Gesichtsausdruck und Alter Rechnung tragen würde.

Unbehagliches Schweigen in meinem Rücken. Als ich mich umwandte, beugte sich Anja zu Leonie.

»Guck mal, Mäuschen. Das hier ist Opa Ulrich ... und das hier Oma Sabine ...« Ich hörte sie vergnügt glucksen und bemerkte aus den Augenwinkeln Sabines säuerliches Gesicht. »Und das da ist dein Onkel Jonas ... der noch in die Windeln kackt.«

»Warum?«, fragte Leonie.

»Vor Schreck. Weil sein Papa schon Opa ist.«

Anja lachte und küsste Leonie. »Tschüss, meine Süße!« Sie wandte sich zu mir. »Bis heute Nachmittag, Mama.« Dann verließ sie den Laden.

Jakob nahm Leonie hoch und trug sie zu ihrem Bettchen, während ich ein paar Pappbilderbücher auf den Tresen legte. Sabine fing an zu blättern.

»Geht's dir gut?«, fragte Ulrich.

Das geht dich nichts mehr an, wollte ich schon antworten, aber dann fiel mir ein, dass wir ja Freunde waren.

»Aber ja. Und dir?«

Sofort nahm Sabine Ulrichs Hand. »Ihm geht es blendend. Wir nehmen das da ...« Sie schob mir ein Bilderbuch zu, ich tippte den Preis ein, Sabine griff sich Jonas – und Ulrich griff nach seiner Geldbörse. Die klassische Rollenverteilung. Während er bezahlte, lächelte er mich an, bemerkte dann aber Sabines misstrauischen Blick und beeilte sich, zu ihr zu kommen. Sie verließen den Laden.

Jakob stellte mir eine Tasse Kaffee hin. »Morgenstund hat Gold im Mund.«

Ich nahm einen Schluck. Jakob schaute mich an, als überlege er, ob er mich etwas fragen könne.

»Was ist?«

»Normal ist das aber nicht, oder? Ich meine, dass Sie sich Mühe geben, ein Bilderbuch für das Produkt des neuen Glücks Ihres Exgatten zu finden. Ich muss das wissen ... für später ... soll ja von Ihren Erfahrungen lernen, haben Sie bei meiner Einstellung gesagt.«

»Werd bloß nicht frech!«

Plötzlich stand das Ehepaar Gutmann vor mir. Sie mussten sich angeschlichen haben wie Indianer auf dem Kriegspfad.

Den Gutmanns gehörte mein Laden. Ich hatte ihn für eine unverschämt hohe Miete von ihnen gepachtet und überlegte blitzschnell, was ihr Besuch bedeuten mochte. Der dringende Wunsch, mehr zu lesen, bestimmt nicht.

»Das ist aber eine Überraschung!«

»Wir müssten Sie dringend sprechen.« Gutmann versuchte ein Lächeln, schaltete es aber sofort wieder ab, um zu bedeuten, dass es nichts zu lächeln gab. Mein Warnsystem schrillte.

»Aber natürlich, gehen wir doch in mein Büro!« Ich schritt, um Haltung bemüht, voran, die beiden folgten mir.

Jakob sah uns verwundert nach, widmete sich dann der quengelnden Leonie und kitzelte sie, während er wieder einen schiefen Blick auf uns warf.

»Weißt du was?«, sagte er zu Leonie. »Ich mach eine Geschlechtsumwandlung und werde Super Nanny.«

Ich schloss die Tür zu meinem Büro und bot dem Ehepaar Platz an.

Gutmann druckste herum. »Tja ... ist mir jetzt ein bisschen unangenehm. Aber wir können Ihren Pachtvertrag nicht verlängern.«

Ich starrte ihn an.

»Wir geben hier alles auf und gehen nach Mallorca.«

»Und deshalb verkaufen wir«, sagte seine Frau. »Nicht nur die Buchhandlung – wir möchten die ganze Immobilie loswerden.«

Ich war immer noch zu keinem Wort fähig.

»Tut uns wirklich leid, Frau Bonhof«, sagte Gutmann, der Heuchler. »Aber vielleicht können Sie von dem neuen Eigentümer den Laden wieder pachten. Warum denn nicht?«

»Und natürlich haben Sie Vorkaufsrecht«, beeilte sich seine Gattin genauso heuchlerisch anzufügen.

Das Wort »Vorkaufsrecht« war das nötige Quentchen Gift an der Spitze des Dolches. »Wunderbar«, erwiderte ich bitter. »So ein kleines Milliönchen kann ich bestimmt noch irgendwo lockermachen.«

Als sie schon längst gegangen waren, saß ich immer noch da, ohne mich zu regen. Ich hörte, wie draußen Jakob mit Leonie sprach, wie er Kunden bediente und anschließend Kartons aufriss. Ich verliere meinen Laden, an mehr konnte ich nicht denken.

Kapitel 3

Ich kann mich nicht mehr genau entsinnen, wie ich die Stunden bis zur Mittagspause überstand. Im Laden war es relativ ruhig. Ich fütterte Leonie, gab ihr die nötigen Medikamente und legte sie schlafen. Zu Jakob, der misstrauisch um mich herumschlich und auf Informationen wartete, war ich ausgesprochen freundlich und sagte, ich wolle nur schnell einen Kaffee trinken und einen Krapfen verspeisen. Ich bezeichnete Letzteren als »Bagel«, ich zollte Jakobs Jugend Tribut, die jungen Leute essen ja inzwischen Bagels und Muffins, trinken Bier und Cola aus der Flasche, verwässern ihren Weißwein mit Eiswürfeln und stochern mittels Stäbchen China-Food aus kleinen Pappkartons. Ami-Land lässt grüßen, trotzdem ist man als Europäer anscheinend schizophren genug, sich als kulturell höherstehend zu betrachten.

Jakob lächelte. »Könnten Sie mir eine schöne altmodische Zimtschnecke mitbringen?« Für solche Bemerkungen liebe ich ihn, sie signalisieren Renitenz und Selbstironie, die ersten Boten eigenständigen Denkens. Ich betrachtete Jakob überhaupt als Glücksgriff. Er las leidenschaftlich gern, war lustig und gescheit, ohne mit seiner humanistischen Bildung hausieren zu gehen. Er würde einmal den klassischen Stadtbuchladen seines Vaters übernehmen, der in einem kaufkräftigen Viertel in Frankfurt lag. Doch vorher wollte er sich beruflich Wind um die Nase wehen lassen. Warum er sich für eine Volontärzeit in Bodenfurt, in meiner Buchhandlung, entschieden hatte, ist mir noch heute ein Rätsel. Er behauptete, er bewundere meinen Mut, gegen Filialisten anzukämpfen. Genau diesen Mut, so führte er aus, würde er einmal bitter nötig haben, wenn er den Buchladen seines Vaters übernehmen wolle.

»Natürlich kriegst du deine Zimtschnecke, wenn du auf die verschnupfte Schnecke namens Leonie aufpasst.«

Er lachte. »Wissen Sie, dass Leonie ein ständiger Zankapfel zwischen mir und meiner Freundin ist?«

»Warum denn?«

»Leonie macht Appetit auf Vaterschaft. Aber meine Freundin meint, sie sei viel zu gut ausgebildet, um zu Hause zu bleiben und auf kleine Kinder aufzupassen. Außerdem seien Mütter nicht sehr beliebt in den Karrierekonzepten der Chefetagen.«

»Da hat sie durchaus recht.«

»Ihre Tochter schafft es doch auch.«

»Weil sie zurückgesteckt hat. Sie arbeitet in ihrem Krankenhauslabor nicht Vollzeit. Was bedeutet, dass sie nicht mehr auf Seminare geschickt wird und keinerlei Aufstiegschancen hat.«

»Sie meinen also, meine Freundin liegt richtig, wenn sie sagt, sie will keine Kinder?«

»Ich kenne deine Freundin nicht. Aber sicher ist auch sie intelligent und gutaussehend, so was schreit eigentlich nach Vermehrung, wenn man bedenkt, was alles an grölendem Dummvolk auf der Welt herumläuft.«

»Bescheiden wie ich bin, teile ich Ihre Meinung. Außerdem ...«, er wurde ein wenig rot, »... wenn ich kinderlos bleibe, werde ich mit vierzig plötzlich in meiner Designerwohnung stehen und nicht wissen, was der ganze Mist eigentlich soll. Kinder sind die Antwort auf vieles.«

»Aber die Freundin denkt anders?«

»Sie will Juristin werden. Na ja ... da ist es vielleicht besser, sie vermehrt sich nicht.«

»Klingt so gar nicht nach gemeinsamer Zukunft.«

»Tja. Es kriselt. Ich bin in ihren Augen ein Bücher fressender Sonderling, während ich sie allmählich für ein interieurbesessenes Yuppieweib halte.«

»Was, um Himmels willen, hat euch beide denn zusammengebracht?«

»Aus meiner Sicht? Sie quietscht so nett, wenn sie einen Orgasmus hat.«

»Äußerst wichtig für eine lebenslange Partnerschaft. Und aus Sicht der Gegenseite?«

»Meines Vaters Buchhandlung. Wir beliefern sie mit sämtlichen juristischen Fachbüchern, nach denen sie lechzt.«

Auf dem Marktplatz herrschte reges Leben. Mütter, ihre Kinder an der Hand, warteten geduldig am Obstkarren, Berufstätige holten sich Fast Food, Rentner trafen sich zum Kaffeeplausch. Am Kiosk stand mein guter Freund Hannes, der einzige Halbpenner, den Bodenfurt aufzuweisen hat. Ein zaundürres Männchen in abgetragener Kleidung, das von Bier, belegten Brötchen und der Sozialhilfe lebt. Wenn er das nötige Quantum Alkohol in sich hat, begibt er sich zum Bahnhof und unterhält die Leute mit Opernarien. Er besitzt eine kräftige Stimme, die man seinem ausgemergelten Körper nie und nimmer zutraut, seine Lieblingsarien stammen samt und sonders aus Puccini-Opern. Er lehnt es ab, Spenden für seine Darbietungen anzunehmen, nur gegen ein Fläschchen Bier oder Doornkaat hat er nichts einzuwenden. Ich bringe ihm regelmäßig ein Käsebaguette, er bedankt sich mit einer Verbeugung und nimmt mit graziösem Armschwung die milde Gabe entgegen. So auch heute.

»Musikalische Vorträge nur auf dem Bahnsteig, verehrte Frau Bonhof«, sagte er. »Fahrende Züge, Freiheit, Weite ...«

Hannes ist nebenberuflich auch noch Dichter und Philosoph, ein sicherer Weg zur Leberzirrhose. Wenn ich ihn dränge, ein bisschen mehr zu essen und weniger zu trinken, meint er nur: »Dummheit frisst, Genie säuft.« Ein Standpunkt, dem ich nicht wirklich etwas entgegenzusetzen habe.

Ich holte mir in der Bäckerei Nagel einen Cappuccino. Nichts zu essen, auch mir war der Appetit abhandengekommen. Wenn ich sonst an einem der Bistrotische stand, genoss ich das bunte Marktleben, heute hatte es an Farbe verloren, als sei es im falschen Waschgang ausgebleicht. Ich verliere meinen Laden, ich verliere meinen Laden ...

Meine Freundin Petra bestückte einen Ständer mit Sonderangeboten und winkte mir zu. Ich winkte zurück, machte aber keine Anstalten, zu ihr hinüberzugehen. Bestimmt wunderte sie sich, aber mir war, als hingen bleierne Gewichte an meinen sämtlichen Gliedmaßen. Ich verliere meinen Laden ...

Ein Wagen hielt am Straßenrand, Toni Hoffmann. unser Bürgermeister, stieg aus und steuerte auf mich zu.

Kapitel 4

Ich lernte Toni kennen, als ich noch verheiratet war und die Städtische Bibliothek leitete. Es ging um die Zuschüsse für Bücherankäufe und Lesungen, und ich versuchte, Toni, der damals erst zwei Monate im Amt war, klarzumachen, dass das Budget zu niedrig bemessen war. Er lauschte aufmerksam, dabei hatte ich das diffuse Gefühl, er sei nicht bei der Sache. Das machte mich nervös, zumal er den Typ Mann verkörperte, der mir von jeher gefährlich werden konnte. Mittelgroß, durchtrainiert, intelligentes Gesicht, und wenn er lachte, saß so viel schalkhafte Ironie in seinen Augen, dass man mitlachen musste. Er hatte einen ausgesprochen sauberen Wahlkampf geführt. Er war kein Weltverbesserer, er machte die Welt dadurch besser, dass er versuchte, politisch so wenig wie möglich zu tricksen und zu lügen. Er war ein Meister des Kompromisses, der dem politischen Gegner Respekt entgegenbrachte, aber hart zur Sache gehen konnte, wenn er sich im Recht fühlte. Als wir uns damals in der Bibliothek an meinem Schreibtisch gegenübersaßen – kleine Sonnenstreifen fielen auf die Bücherregale –, da bemühte ich mich, kompetent und sachlich zu wirken. Am Morgen noch hatte ich mich mit Ulrich gestritten, es ging um eine Kleinigkeit, aber schon da zeichnete sich ab, dass irgendetwas nicht stimmte. Es sollte nur mehr ein paar Tage dauern, und Ulrich würde mir eröffnen, sich verliebt zu haben. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie es wohl sei, diesen Bürgermeister näher kennenzulernen. Er war ein bisschen jünger als ich, aber nicht so jung, dass es mir etwas ausgemacht hätte. Später erzählte er mir, dass er eigentlich vorgehabt habe, mich zum Essen einzuladen, aber ich hätte mich wie ein Eisblock hinter meinem Schreibtisch verschanzt, er habe sich nicht einmal getraut, mich um einen unverfänglichen Kaffeeplausch zu bitten.

Dann kam das ganze Scheidungsunglück über mich. Wie betäubt und mit Tunnelblick schlich ich durch meine Tage. Zukunft? Ich hatte keine Zukunft mehr. Mein Mann, mit dem ich seit mehr als fünfundzwanzig Jahren verheiratet war, verließ mich wegen einem kleinen jungen Persönchen mit ausladenden Hüften und braver Pagenfrisur. Ich konnte nicht einmal spöttisch damit hausieren gehen, von einer strähnchengebleichten, mit ihren Reizen protzenden Sexschnepfe aus dem Feld geschlagen worden zu sein. Nein. Sabine war sanft, sie war brav, sie konnte sehr gut kochen, basteln, handarbeiten und besaß keinerlei beruflichen Ehrgeiz. Ihr Ehrgeiz sei es, so erklärte mir Ulrich, ein Heim zu haben, in Haus und Garten zu arbeiten und Kinder zu bekommen. Kinder?

»Nun ja«, meinte er verlegen, »natürlich will sie Kinder, sie ist noch jung.«

»Aber du nicht mehr.«

»Ich bin fünfundfünfzig.«

»Und wahrscheinlich bald Großvater, deine Tochter und dein Schwiegersohn arbeiten dran.«

Diese für ihn deprimierende Auskunft quittierte Ulrich mit Schweigen. Es wurde überhaupt viel geschwiegen bei uns. Wir reichten die Scheidung ein, regelten die finanziellen Dinge und benahmen uns absolut zivilisiert. Ulrich, weil er ein blondes Ziel vor Augen hatte, und ich, weil ich mich innerlich auflöste. Petra meinte, ich hätte finanziell viel mehr aus Ulrich herausschlagen sollen, bei Männern mit dem Hang zu jungen Blondinen komme man nur mit Gemeinheit weiter. Aber ich wusste es besser.

Ulrich litt. Man kann sich sehr wohl verlieben und dabei himmelhoch jauchzend glücklich sein, dabei aber gleichzeitig tiefe Trauer empfinden über das, was man aufgibt. So viele Jahre verheiratet, kleinere und größere Katastrophen, Krankheiten und Todesfälle miteinander durchgestanden, ein Haus gebaut, ein Kind großgezogen, Freunde gewonnen und wieder verloren: ein Leben zu zweit, das jetzt in einem »Ohneeinander« enden würde.

Eines Nachts, als ich nicht schlafen konnte, setzte ich mich auf die Terrasse und bemerkte Ulrich, der bei meinen geliebten Rosenstauden stand, eine graue Silhouette – er weinte. Ich ging zu ihm, beschämt wandte er sein Gesicht ab, und in diesem Moment entschied ich, ihn nicht zu hassen oder zu verachten. So standen wir eine Weile, schweigend, meine Kletterrosen verströmten einen zarten Duft, und ich musste daran denken, dass ich dies alles zurücklassen würde, dass eine andere die schweren Rosenköpfe mit Bast hochbinden und den lichtblau blühenden Rittersporn mit Bambusstäben abstützen würde.

»Ich nehme dir so vieles weg. Das hast du nicht verdient«, sagte er.

»Aber du kannst nicht anders?«

Er nickte.

»Dann musst du es auch tun.«

Er strich über ein Blütenblatt. »Du hast mir einmal erklärt, dass man die Wurzelballen mit dem Spaten oder einer Axt zerteilt, und wie wichtig es sei, dass jedes Teilstück sowohl Wurzeln als auch Blattknospen behält. Und wie sorgfältig und gefühlvoll man vorgehen müsse, wenn man den Ballen trennt.« Er lächelte traurig. »Wie viel es braucht, unseren Wurzelballen zu trennen! Und ich habe die Befürchtung, dass nur ich mit Wurzeln und Knospen rechnen kann.«

»Ach ... und ich nicht?«

Er schwieg.

»Hast du dir schon mal überlegt, dass auch ich andere ... Interessen entwickelt haben könnte?«

Er sah mich so erstaunt an, als hätte ich damit geprahlt, demnächst als Tabletänzerin aufzutreten. Das nahm unserem Gespräch die Trauer. Ich lachte. Und genau in diesem Moment fiel mir Toni Hoffmann ein. Sein schalkhafter Blick und die lässige Art, mit der er erst vor zwei Tagen zur Tür hereinkam und einen Becher Kaffee vor mich hinstellte.

»Ja, ja, ich weiß«, hatte er gesagt. »Sie sind eine vielbeschäftigte Frau. Sie haben keine Zeit, mit mir auszugehen.«

»Und verheiratet bin ich auch«, hatte ich, die heimlich Fastgeschiedene, patzig zur Antwort gegeben. Da sah er mich an – in Romanen und Filmen nennt man dies den »magischen Moment« –, und ich erschrak und dachte: Nein, bitte nicht! Nie mehr!

Aber er musste etwas gemerkt haben. Er neigte den Kopf zur Seite, musterte mich und sagte: »Wenn Politiker eine Tatsache besonders betonen, ist an der Sache etwas faul.«

Mir schossen Tränen in die Augen, was mich zornig und hilflos machte. Wie kam ich dazu, vor diesem wildfremden Menschen zu weinen? Ganz zu schweigen, dass sich in meinem Alter Tränen äußerst ungünstig auf die mühsam erarbeiteten Schminkergebnisse auswirkten.

Toni drückte mir den Kaffeebecher in die Hand, reichte mir dezent ein Papiertaschentuch und tat dann so, als studiere er die Buchrücken in den Bibliotheksregalen.

Ich putzte mir die Nase, nahm einen Schluck Kaffee und räusperte mich. »Also gut. Ich esse gern italienisch. Ich wähle normalerweise eine andere Partei als jene, die Sie vertreten, habe Ihnen aber meine Stimme bei der Bürgermeisterwahl gegeben. Ich trinke gerne Weißwein, auf Partys rauche ich ab und zu, mit Sport sieht es ein bisschen schlecht aus, und für Schokopralinen würde ich jede Straftat begehen.«

Er schaute immer noch die Buchrücken an.

»Und in zwei Monaten werde ich geschieden.«

Jetzt drehte er sich um. Völlig überrascht.

»Aber keine Sorge, ich verfalle nicht in eine Anfangfünfzigerinnenpanik, ich lasse mich auch nicht liften und lese keine Ratgeberbücher über die innere Misere von Scheidungskrüppeln.«

»Donnerwetter! Unser erstes persönliches Gespräch!«

»Aus rein politischem Interesse. Ich wollte immer schon einen Bürgermeister kennenlernen.«

»Einen geschiedenen Bürgermeister.«

»Hat sich Ihre Frau auch mit etwas Jüngerem davongemacht?«

»Mit etwas Reicherem.«

»Sie Glücklicher. Das kratzt wenigstens nicht an der Psyche.«

»Wenn ich nicht genügend Geld verdiene, um die Wünsche meiner Frau zu erfüllen?«

»Man könnte argumentieren, dass Sie den wirtschaftlichen Aufstieg Ihren politischen Idealen opfern. Wohingegen in meinem Fall eigenes Versagen ausschlaggebend ist. Ich bin nicht jung, ich bin nicht sanft, und ich kann nicht häkeln.«

»Das mit dem Häkeln ist natürlich ein echtes Manko.«

»Sie sagen es.«

Er stützte sich mit beiden Händen auf meinem Schreibtisch ab und sah mir in die Augen. »Morgen Abend?«

»Morgen Abend, was?«

»Was immer Sie wollen.«

»Lassen Sie mich überlegen ... Ich wollte schon immer nachts in ein Schwimmbad einbrechen. Mir endlich eine Nudelmaschine kaufen und selbstgekurbelte Spaghetti anbieten. Trampolinspringen. Im Freien schlafen. Einen Buchladen eröffnen. Einen Tag lang nur die Wahrheit sagen.«

»Wenn heute so ein Tag der Wahrheit wäre, was würden Sie dann jetzt, in diesem Augenblick, sagen?«

Tja ... und da sprang ich einfach. Zum Teufel mit dem »nie mehr«!

»Ich würde antworten, dass ich morgen Abend Zeit habe, dass ich verspreche, nicht ständig von meinem Fast-schon-nicht-mehr-Ehemann zu reden, und dass ich mich freue auf was auch immer.«

Ja, so begann es.

Kapitel 5

Toni meinte, er habe jetzt gleich eine Sitzung des Bauausschusses, aber die Gelegenheit, mich kurz zu sehen, wolle er sich nicht entgehen lassen.

»Hast du Sorgen?«, fragte er unvermittelt.

»Seh ich so beschissen aus?«

»Du vergisst, dass ich dich schon ein Weilchen kenne ...«

»Was Wichtiges im Bauausschuss?«, versuchte ich abzulenken.

»Das neue Sportzentrum. Der Auftrag wird vergeben. Also – hast du Sorgen?«

»Und wer ist der Glückliche?«

»Schon wieder der Bremer. Hat das billigste Angebot abgegeben. Ich möchte bloß wissen, woher der seinen Riecher hat. Ein Phänomen, der Mann. Und dann haben wir noch einen Antrag der Firma ›Eltec‹. Sie wollen eines ihrer Grundstücke an die Lebensmittelkette ›Krone‹, verkaufen.«

»Ach ja?«

Toni lächelte spöttisch. »Hat dir dein geschiedener Gatte nicht davon erzählt? Er erzählt dir doch sonst alles.«

Das war eindeutig ein kleiner Giftpfeil. Toni fand das freundschaftliche Verhältnis zwischen Ulrich und mir mehr als eigenartig und versäumte nie, darauf anzuspielen. Und ich versäumte nie, diese Bemerkungen zu übergehen.

»Und du hast was gegen den Plan der ›Eltec‹-Leute?«

»Einiges. Krone will dort ein Zentrallager errichten ... Na ja, das geht sowieso nur über eine Änderung des Bebauungsplans. Also über einen Stadtratsbeschluss.« Er blickte auf die Uhr. »Ja, dann ... Kommst du heute Abend? Wir sprechen die Wahlkampagne durch.«

Ich nickte.

Er umarmte mich, für einen Moment fühlte ich mich getröstet und war nahe daran, ihm alles zu erzählen. Aber er war weg, bevor ich den Mund aufmachen konnte. Leute grüßten ihn, er grüßte zurück, er lächelte, stieg in seinen Wagen und fuhr los.

Ich trank meinen Kaffee aus und wollte mich auf den Weg zur Buchhandlung machen, als Petra plötzlich neben mir stand.

»Hey! Was ist los? Du strafst mich mit Nichtachtung, meine Liebe.«

»Aber nein. Ich bin nur ein bisschen müde.«

»Alles in Ordnung mit Toni und dir?«

»Ja, sicher.«

»Ich mein ja nur. Wenn man die Freundin des Bürgermeisters ist, der im Wahlkampf steht ...«

»Dann hat man zeitliche Defizite, meinst du? Du weißt doch ... die männliche Rundumbetreuung habe ich hinter mir.«

»Oh ja. Hast ihn gefüttert, geliebt und warst immer zur Stelle.«

»Und wurde geschieden.«

»Ich habe ihn nie gefüttert und war selten zur Stelle ...«

»Und bist auch geschieden. Ich kenne inzwischen überhaupt nur mehr Leute, die geschieden sind. Scheint eine Epidemie zu sein, so wie dieses Norovirus. Du kriegst unerträgliche Bauchkrämpfe, Schweißausbrüche, Kreislaufprobleme und schwörst dir, in Zukunft vorsichtig zu sein und dir immer sofort die Hände zu waschen, wenn das Wörtchen ›Heirat‹ fällt.«

Wir lächelten uns voller Wärme an. Es mag sonderbar erscheinen, dass ausgerechnet wir beide befreundet sind: ich, die ich so gerne lese und mir nicht allzu viel aus Mode mache, und sie, die Boutiquenbesitzerin, extrovertiert, elegant gekleidet, aufwendig geschminkt. Aus einer verrückten Laune heraus hatte ich mir in ihrer Boutique ein Kleid für meinen Scheidungstag gekauft. Wir lachten damals viel beim Aussuchen, und sie stattete mich so raffiniert aus, dass ich mir wie ein atemberaubend schöner Hungerhaken vorkam, obwohl ich gerade eindeutig ein paar Kilo zu viel auf die Waage brachte.

»Aber irgendwas hast du«, sagte Petra in meine Gedanken hinein.

Ich schaute hinüber zur »Bücherinsel«, deren Schaufenster ich zusammen mit Jakob erst vor ein paar Tagen so liebevoll dekoriert hatte. »Die Gutmanns gehen nach Mallorca.«

»Ja, und? Meine Nachbarn fliegen an die Costa Brava und essen jeden Tag Wiener Schnitzel.«

»Sie gehen für immer nach Mallorca.«

»Sind sie schon so alt?«

»So reich. Sie verkaufen das Haus. Und damit auch meine Buchhandlung.« Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Petra sah mich betroffen an, doch sofort hellte sich ihre Miene wieder auf. »Dann mietest du dich halt woanders ein. Hey! Die Gutmanns werden versauern auf Mallorca. Wer will schon nach Mallorca? Würdest du wo hinwollen, wo Dieter Bohlen dir über den Weg läuft?«

Ich musste lachen.

»Siehst du«, sagte Petra zufrieden.

Kapitel 6

Der Himmel wurde noch eine Spur blauer, die Sonne schien so strahlend, als wollte sie uns unbedeutenden Menschen vor Augen führen, was für ein Verbrechen es ist, an so einem Tag nicht permanent guter Laune zu sein. Aber ich konnte dem Tag nichts mehr abgewinnen. Ich kam in den Laden zurück und betrachtete ihn, als müsste ich schon heute von ihm Abschied nehmen. Die langen Regale, die großen Tische mit den aktuellen Bestsellern, die Kinderecke mit den bunten Sitzwürfeln, die Verkaufstheke. Mit welchem Elan und welcher Begeisterung hatte ich vor fünf Jahren Pläne gezeichnet, mit den Handwerkern verhandelt und nächtelang über Finanzierungsvorschlägen gebrütet. Der Tag der Eröffnung, was für ein Fest! Am Abend ging ich mit Anja, ihrem Freund Steffen und Petra zum Essen, sie beschenkten mich mit Glücksbringern und einem großen Poster, das besagte, man könne im Leben auf vieles verzichten, nur nicht auf Literatur und Katzen; denn auch eine Katze hatte ich mir zugelegt.