Vorspann


So ist das Leben. Ich sitze in meinem italienischen Stammrestaurant am Berliner Bundesplatz und warte auf das georderte Mahl. Spricht am Nebentisch eine ältere, sehr sympathische Dame kurz mit ihrem Sohn, steht dann auf, kommt auf mich zu und sieht mich prüfend an. Ich zucke zusammen. Gott, wenn das so ist wie in einer TV-Serie: Da wäre sie eine intime, aber längst total vergessene Freundin aus dem Jahre 1975 und gesteht mir nun, dass sie damals ein Kind von mir bekommen hat, den jungen Mann um die Vierzig neben ihr am Tisch, mir das aber aus den verschiedensten Gründen verschwiegen hat.

„Entschuldigen Sie“, beginnt sie. „Sind Sie Horst Bosetzky?“

„Ja ...“, hauche ich.

„Ich wollte Ihnen nur schnell sagen, dass einer Ihrer frühen Kriminalromane mein absolutes Lieblingsbuch ist – Ein Mord am Lietzensee.“

„Da haben Sie wirklich einen guten Geschmack, allerdings ist der besagte Roman nicht von mir, sondern von meinem Freund Richard Hey, und der ist leider schon vor über zehn Jahren gestorben.“

Ich erhole mich nur langsam von diesem Schock und will nach dem letzten Bissen sofort das Roma verlassen, hätte aber noch gern zum Abschluss einen Kaffee getrunken und wende mich an den Ober.

„Gibt es bei Ihnen auch diesen berühmten Kaffee aus einer der früheren deutschen Kolonien, der heute so angesagt ist?”

„???”

„Na, steht doch überall: Coffee to go!”

Zu Hause wirft mir meine Tochter vor, ihr nichts aus dem Restaurant mitgebracht zu haben. „Gemein von dir!“

Beim Formulieren einer Antwort kommt mir sofort ein Lieblingsspruch meines Vaters in den Sinn: „Gemein ist, wenn man seine Großmutter die Treppe hinunter stößt und dann ausruft: 'Oma, warum rennst du denn so!?'“

Am Abend sehe ich – wie freitags immer – Oliver Welkes treffliche heute-Show, und da geht ein Reporter, möglicherweise auch ein Horst, der Lutz van der Horst, in der belebten Fußgängerzone einer deutschen Großstadt auf ausgesprochen bürgerliche Bürger zu, hält ihnen das Mikrofon hin und fragt sie ganz ernsthaft:

„Haben Sie hier schon einmal einen Homo sapiens gesehen?“

„Nein, die gibt es bei uns zum Glück noch nicht.“

So ist das jedenfalls in meiner Erinnerung gespeichert, und so erzähle ich es immer wieder – wie auch Hunderte anderer Anekdoten, Witze, Kalauer, Sentenzen kluger Frauen und Männer und Gags aus alten TV-Serien.

Als ich dann im Bett liege, denke ich darüber nach, was sich in meinem langen Leben in dieser Hinsicht schon alles angesammelt hat. Sollte ich das nicht aufschreiben, denke ich noch, dann falle ich in den verdienten Schlaf, zum Glück noch nicht in den ewigen. Am nächsten Morgen will ich gleich loslegen, doch dann tue ich nur das, was für mich typisch ist und das ich, weil es meine absolute Stärke ist, immer so formuliere: Schnell entschlossen zögerte er. Das nennt sich in der Fachsprache Prokrastination, salopp: die Aufschieberitis, gehobener auch Erledigungsblockade oder Handlungsaufschub. Irgendwann schreite ich dennoch zur Tat, schreibe alles auf, was mir in den Sinn kommt, und schicke das fertige Produkt im Anhang einer E-Mail dem Dr. Alexander Schug vom Vergangenheitsverlag, der auch -ky´s Berliner Jugend veröffentlicht hat. Er ist mit meinem Titel Was ich immer wieder gern erzähle nicht einverstanden und schlägt in Anlehnung an Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke aus dem Jahre 1936 den Titel -ky´s literarische Trostpflaster vor. Okay!

Über das Trostpflaster lese ich bei Wikipedia:


Es steht im übertragenen Sinn für eine Wiedergutmachung oder Genugtuung. Das Trostpflaster soll in Gestalt tröstender Worte oder kleiner Geschenke das Nichterreichen eines angestrebten Ziels quasi ersetzen und so im übertragenen Sinn die „offene Wunde“ bedecken. Dies zeigt sich auch bei einem „Kinderpflaster“ das oft bunt gehalten und gelegentlich bemustert ist, so dass man die verletzte Stelle am Körper nicht sieht und trotzdem der Verarztete etwas zum Vorzeigen hat.


Bei mir sollen die „literarischen Trostpflaster“ Leserinnen und Leser zum Schmunzeln und zum Lachen bringen, denn der klügste aller Psychologen, der Volksmund, weiß es schon lange: Lachen ist gesund. Inzwischen gibt es auch die die Gelotologie. „Was bitte?“ Die Wissenschaft der Auswirkungen des Lachens. „Das ist doch lachhaft!“ Hm ... Lesen wir einmal, was bei Wikipedia dazu geschrieben steht: Die Gelotologie (von griech. γέλως gélōs „Lachen“, Genetiv γέλωτος gélōtos) ... beschäftigt sich mit den körperlichen und psychischen Aspekten des Lachens. Begründer der Gelotologie ist der Psychiater William F. Fry, der 1964 an der Stanford-University erstmals über die Auswirkungen des Lachens auf die körperlichen Vorgänge forschte. Fry hat auch den Begriff Gelotologie geprägt. Als therapeutische Anwendung gelotologischer Erkenntnisse gelten die sogenannten Humor-Therapien oder Lachtherapien ....

Eine kleine Abschweifung: Bei unserem letzten Urlaub in Griechenland hatte ich stapelweise hochliterarische Hörbücher eingepackt, die mir zum Geburtstag geschenkt worden waren. Es ehrt mich ungemein, dass mich meine Freunde und Verwandten für einen intellektuellen Bildungsbürger halten. Nur einer/ein muss meine wahren Bedürfnisse erahnt haben und hat mir schamhaft eine CD von Eckart von Hirschhausen und Hellmuth Karasek geschenkt (mit dem zusammen ich einmal vor Jahren in Andernach „aufgetreten“ bin): Ist das ein Witz? Und nun kommt mein Geständnis: Alles Andere habe ich nicht angerührt, diese CD aber jeden Abend gehört. Einmal kommt meine Frau aus dem Bad und fährt zusammen: „Du weinst ja!“ Nein, ich habe nur Tränen gelacht.

Aber zurück zum Ernst der Gelotologie. Im Heft 3/2015 der Psychologie Heute findet sich ein Artikel von Annette Schäfer mit der dicken Überschrift: Wir sollten was zum Lachen haben! und dem Untertitel: Wie Studien eindrucksvoll belegen, kann unser psychisches wie körperliches Befinden durch Gelächter verbessert werden. Erwähnt wird der Pionier der modernen Lachtherapie, der amerikanische Wissenschaftsjournalist Norman Cousins, und unter der fundamentalen Erkenntnis „Wer viel lacht, lebt potentiell länger“ auf die wichtigsten therapeutischen Wirkungen des Lachens hingewiesen:

Wunderbar. Zwei eigene Erlebnisse sollen das Gesagte ergänzen: Zuerst: Werde ich nach meinem Schlaganfall, nachdem es mir besser geht, von der stroke unit in ein Zweitbettzimmer gebracht. Das Nachbarbett ist noch leer. Wird ein Mann von etwa vierzig Jahren hereingebracht, der so verzweifelt aussieht, dass ich fürchte, er wird in den nächsten Stunden Selbstmord begehen. Er trägt an einer Stirnseite ein dickes Pflaster, denn er leidet unter einer Meningitis und man hat ihm gerade Nervenwasser abgenommen. „Gott“, sage ich. „Nun bekomme ich als Zimmernachbarn auch noch einen Bankräuber. Hat man also bei der Flucht auf Sie geschossen. War es nur ein Streifschuss oder steckt die Kugel noch im Kopf?“ Da fängt er – zum ersten Mal seit Tagen – an zu lachen, und von dieser Minute an geht es ihm, einem Lehrer, besser, denn wir blödeln noch eine Weile herum. – Dann zweitens: Etwas zum Lachyoga. Die Frau meines lieben Freundes Heiner (Name geändert, weiter unter aber steht sein richtiger) betreibt es seit Jahren. Ruft sie mich eines Tages lachend an. „Du, Horst, soll ich dir mal etwas Urkomisches erzählen?“ – „Ja, bitte, immer ...“ – „Heiner ist doch gerade 82 geworden ...“ – „Ja ...“ – Ihre Heiterkeit steigert sich: „Und hat immer noch in seinem Hochbett schlafen wollen.“ – „Ich weiß – und ...?“ – „Nun schläft er im Keller. Für immer ...“ – „Wieso denn das? Habt ihr euch gestritten?“ – „Nein, er wollte schlafen gehen und ist von der Leiter seines Hochbetts gefallen. Nun liegt er im Leichenkeller der Charité ...“

Die komischsten Episoden aus meinem langen Leben will ich hier vor Ihnen ausbreiten, nicht nur aus Langeleben, einem Flecken am Rande des Elms, wo es einmal eine Jugendherberge gegeben hat und wohin wir unsere erste Klassenfahrt unternommen haben. Sie sehen schon, dass ich unter einem ganz besonderen Anankasmus leide, dem Zwang zum Kalauern und zum Assoziieren. Sitze ich neulich bei der Goldenen Hochzeit eines befreundeten Ehepaares, und alle singen das schöne Lied von Paul Gerhardt: Geh aus, mein Herz, und suche Freud ... Da ich bei Freud sofort an Sigmund denke, muss ich murmeln: „Wieso denn das? Müssen sich die beiden psychiatrisch behandeln lassen, weil sie 50 Jahre nie jemand anderes hatten ...?“ – „Pssst!“ – Den Witz, der mir sofort zu Sigmund Freund einfällt, wage ich nicht mehr zu erzählen: Frage: „Wer liegt auf dem Friedhof neben Freud?“ – „???“ – Antwort: „Na, Leid, denn Freud und Leid liegen ja dicht beieinander.“ Da quietscht die Bartwickelmaschine ...

Zurück zu Langeleben und der besagten Klassenfahrt. Von der ist mir nur in Erinnerung geblieben, dass ich, obwohl ich wirklich klasse war, unser Tischtennisturnier fast verloren hätte, weil Ingrid Weiß, unsere Klassenbeste, mit einem damals neuartigen Schaumstoffschläger angetreten war, und Uwe Buchmann, unser schönster Mitschüler und ein Ebenbild des jungen Curd Jürgens, mich noch zusätzlich verunsichert hatte: „Ich möchte mal wissen, wo Ingrid noch überall Schaumstoff hat ...?“ Da sollte ich nun nichts weiter als die Tischtennisbälle im Auge haben, die lautlos und mit ungewohntem Schnitt übers Netz kamen.

„Der Mensch“, sagt Jean-Paul Sartre, „ist immer Geschichtenerzähler und sieht alles, was geschieht, durch seine Geschichten.“

Ja, so ist es, und das ist schlimm, denn immer wieder höre ich von der geliebten Gefährtin meines Lebens: „Das hast du mir doch schon hundertmal erzählt!“ Dann nehme ich meine eingeübte Demutshaltung ein und erwidere: „Ja, entschuldige, aber ich habe wieder einmal vergessen, alles zu vergessen!“ Mein Sohn geht noch härter mit mir ins Gericht („Bosetzky, setzen! Fünf!“), wenn ich alles an dem messe, was ich einmal erlebt habe. Ein Beispiel: Da gibt es bei uns in der Großfamilie ein „Wunderkind“, das nur Einsen mit nach Hause bringt. Als wir auf die junge Dame zu sprechen kommen, entspinnt sich folgender Dialog:

ICH: „Bei mir in der Schule wie auch an der Uni sind alle die Einser-Kandidaten später im Leben nicht groß herausgekommen, während die Sitzenbleiber ...“

ER: „Vater, du mit deinem Abiturschnitt von 3,2 ...!“

ICH: „Aber sitzengeblieben bin nicht nie! Nicht einmal in einem Interzonenzug zu DDR-Zeiten, als deren nicht eben weltmarkttüchtige Computer aus Sömmerda meinen Sitzplatz zweimal vergeben hat – und eine ältere und sehr gebrechliche Dame vor mir stand ...“

ER: „Was hat das mit den angeblichen Wunderkindern auf der Schule und der Uni und ihrem späteren Scheitern im Leben zu tun?“

ICH: „Nichts, aber angeblich soll ja Alles mit Allem zusammenhängen. Und die ältere Dame mit derselben Platzkarte sah nun einmal aus wie unsere frühere geniale Musterschülerin Ingrid.

Und die ist keine Nobelpreisträgerin geworden, sondern, glaube ich, ‚nur‘ Grundschullehrerin. Womit meine These als verifiziert gelten kann.“

ER: „Aber das ist doch unwissenschaftlich, was du da sagst! Du kannst doch von deinen zwei bis drei erlebten Fällen nicht auf Hunderttausende von Musterschülern schließen, von denen vielleicht 99,9 Prozent erfolgreiche Ärzte, Apotheker, Unternehmer, Manager oder Professoren geworden sind.“

Das genau ist mein Problem (aber nicht nur meins): die leichtfertige Generalisierung. Ein anderes wiegt ebenso schwer: Einiges von dem, was ich hier schildere, hat auch mein Protagonist Manfred Matuschewski in meinen Kartoffel-Romanen schon erlebt. Nun, ich bin nicht deckungsgleich mit ihm, denn wir weisen einen schwerwiegenden Unterschied auf: Er war nie Schriftsteller, also irgendwie süchtig nach dem Schreiben und Gedrucktwerden, und auch sonst bin ich beim Schreiben der Romane nach dem Prokrustesbett-Prinzip vorgegangen: Mal habe ich etwas weggelassen, was mir zu peinlich war, mal etwas hinzugefügt, was andere erlebt hatten, meine Romane aber bunter gemacht haben. Wer nun die Romane von Brennholz für Kartoffelschalen bis Kartoffelsuppe oder Das Karussell des Lebens gelesen hat, wird also öfter ausrufen: „Das kenne ich doch schon!“, aber dies dann bitte mit der Freude des Wiederkennens und nicht schimpfend. Und das Selbstplagiat ist ja nicht strafbar. Bundesminister will und kann ich auch nicht mehr werden.

Was ich im Internet finde, macht mir Mut zu meinem Vorhaben:


Nichts fesselt die Aufmerksamkeit der Zuhörer mehr, als wenn der Redner zu Beginn eine spannende oder humorvolle Anekdote zum Besten gibt. Medienkundige und fernsehverwöhnte Kinder hören mucksmäuschenstill zu, wenn Sie ihnen eine exotische Geschichte erzählen. Und auch bei einem fachkundigen Publikum ist Ihnen Aufmerksamkeit gewiss, wenn Sie Ihre Rede oder Ihren Vortrag mit einer lustigen Anekdote beginnen.


Nun gibt es sicherlich Unterschiede zwischen dem Lesen eines Buches und dem Lauschen einer Rede, aber die grundsätzliche Frage ist dieselbe: Wie schaffe ich es, andere Menschen dahin zu bringen, mir zu folgen? Am besten, so scheint mir, indem ich sie zum Lachen bringe. Ich habe das Jahrzehntelang im Hörsaal, bei Lesungen, im Radio und Fernsehen, bei Familienfeiern und Versammlungen des Berliner Schriftstellerverbandes versucht. Da hatten wir zum Beispiel den Berliner Verleger Christoph Links zu einem Vortrag eingeladen, und die Frage kam auf: „Warum gerade Links?“ Da habe ich dann geantwortet: „Weil ich an den jeden Tag erinnert werde, wenn ich mit der S-Bahn fahre und alle zwei Minuten im Zug die Durchsage höre: 'Ausstieg links'.“ So gut dieser Einstieg auch sein mochte, sofort verdrehte ein Kollege von der Lyrik die Augen und rief in meine Richtung: „Kann denn der Kerl nicht mal ernst sein!?“ Meine Reaktion auf diese laut geäußerte Kritik brachte ihn noch mehr auf die Palme. „Gut, gehen wir alle ins Theater und sehen uns das Stück von Oscar Wilde an: Bunbury oder Die Kunst, ernst zu sein“.

Ein kleiner Einschub: 1815 hätten wir als Titel dieses Buches vielleicht 100 Schnurren aus dem Leben des Dr. -ky gewählt, doch bei Schnurren denkt heutzutage alles an das, was bei Wikipedia so formuliert ist: Schnurren ist ein niederfrequentes ..., gleichmäßig vibrierendes Geräusch, das Katzen in bestimmten Situationen erzeugen. In der Regel signalisiert es Wohlbefinden, wird aber auch in Stresssituationen hervorgebracht. Eine Schnurre hingegen wird definiert als: eine kurze unterhaltsame spaßige Erzählung über eine wunderliche Begebenheit (von: Schnurrpfeife), siehe auch: Anekdote. Aha! Bleibe ich also bei der, obwohl ich früher immer gerne etwas von Wolfgdietrich Schnurre (1920–1989) gelesen habe. Aber lasse ich das lieber mit der Schnurre, denn sie löst auch ungute Assoziationen aus: Schnurrpfeife oder Schnurrpfeiferey ist ein veralteter Begriff für einen unbrauchbaren, nutzlosen und wertlosen Gegenstand, vergleichbar mit Tand oder Nippes. Und wenn Leser dann mein Buch 100 Schnurrpfeifereyen aus dem Leben des Dr. -ky nennen, dann ist das ja nicht so erhebend.

Ich frage mich gelegentlich, wenn ich wieder einmal nach einem Schlaganfall, einer Bandscheibenoperation oder einem diagnostizierten Karzinom im Krankenhaus liege, ob ich wohl auf dem Totenbett ernst sein kann oder wie Kaiser Augustus ausrufe: „Habe ich meine Rolle gut gespielt? Nun, so klatscht Beifall, denn die Komödie ist zu Ende.“ Und wenn ich mich einmal voll dem Ernst zuwenden will, dann klappt es nicht. Da habe ich mir im letzten Urlaub bergeweise Hörbücher mit Texten der Hochliteratur mitgenommen, siehe oben, und ergötze mich an einem Witz wie diesem: Wir sind im tiefkatholischen Bayern, die Oma hat sich in der Scheune erhängt. Niemand traut sich zum Pfarrer zu gehen und ihm das zu erzählen, weil man Angst hat, dass sie sonst keine ordentliche Beerdigung bekommt. Schließlich schickt man den minderjährigen Enkel hin, um den Tod der Oma zu vermelden. Der Pfarrer staunt: „Wie konnte das denn geschehen, gestern in der Kirche war sie doch noch kerngesund?“ – „Ja, aber heute Nacht hat der Herr sie mit dem Lasso heimgeholt.“

Ich bin kein Neurobiologe, aber ich vermute einmal, dass unser Gehirn längst nicht so viel Speicherplatz aufzuweisen hat, um unser Leben, dauert es siebzig oder achtzig Jahre, Sequenz für Sequenz aufzuzeichnen. Unwichtiges wird bald wieder gelöscht werden, und wir behalten nur die Szenen im Gedächtnis, die für unser Leben entscheidend sind und ein ganz besonderes Erlebnis darstellen. So scheint es, blicken wir auf unser Leben zurück, als hätte es nur aus wenigen takes bestanden. Selbstverständlich habe ich auch Schreckliches erlebt: Den Bombenkrieg im Luftschutzkeller, die Gräuel beim Einmarsch der Roten Armee, als meine Mutter neben mir vergewaltigt worden ist und ich sie nur mit Mühe am erweiterten Suizid hindern konnte, den Beschuss durch Tiefflieger, den Tod vieler Menschen, an denen ich ungemein gehangen habe, die eigenen Operationen, die Krebs-Diagnosen – und, und, und. Aber all das will ich hier ausblenden, und im Großen und Ganzen nur von dem berichten, was in die Rubriken Humor und Situationskomik fallen dürfte. Dabei versuche ich, meinem großen Guru Theodor Fontane gerecht zu werden, wenn er schreibt: „Ohne einen feinen Beisatz von Selbstironie ist jeder Mensch mehr oder weniger ungenießbar.“ Ohne Ironie und Selbstironie nicht und mein Motto: „Ein bisschen Hollywood muss überall dabei sein.“ Schön, einen großen Literaturpreis werde ich nie verliehen bekommen, zumal, wenn ich ausrufe: „Lieber Hertha BSC als Herta Müller!“, nicht einmal mit der versteckten Drohung beziehungsweise dem Versuch einer Erpressung den Literaturpäpsten gegenüber: „Wenn ich einmal meinen ersten Mord begehen sollte, dann wüsste ich schon, wer da in Frage käme ...“

In der Wissenschaft soll ja gelten: Publish or perish, also veröffentlichen oder umkommen, untergehen, sterben ... Ich mache daraus für mich: Wer schreibt, der bleibt ... am Leben. Besonders wenn dabei gelacht werden kann.

Am 9.10.2014 hatte ich die Ehre, bei einer Veranstaltung des VS Berlin unter der Überschrift (Fast) Vergessene Schriftsteller Texte von Fred Wander zu lesen, unter anderem dies: Und wovon lebt der Mensch – vom Wort und von den Bildern in seinem Kopf! – Das hat mir Mut gemacht, an diesem Text weiterzuschreiben.

Zwischenruf: „Geht´s denn nicht bald mal los!?“

Ja, sofort. Es folgen also all die Anekdoten und Episoden, die mein Leben ausmachen, und von denen ich hoffe, dass sie Trostpflaster in der oben beschriebenen Art für alle Leser und Leserinnen sind, wobei ich, schließlich war ich einmal der Wissenschaft verpflichtet, versuchte habe, alles ein wenig zu ordnen und in den Schubladen unterzubringen, die oben unter „Inhalt“ zu finden sind. Hinzugefügt sind noch alle Zitate und Sprüche, die ich immer wieder „ablasse“ und das, was ich an Sitcom-Serien liebe.

Also: „Auf die Plätze! Fertig ... Schuss!“ Als alter Hundertmeterläufer komme ich nicht los davon. Tragisch ist auch, dass sich mein großer Jugendtraum nicht erfüllt hat, einmal Deutscher Meister zu werden. Bei den Jugendmeisterschaften 1956 habe ich den ersten und letzten Anlauf genommen – und bin schon im Vorlauf ausgeschieden. Wo das war? In Paderborn. Nun raten Sie einmal, warum ich als Fußballnarr nicht gerade Anhänger des SC Paderborn bin.

Doch nun zuerst zu den amüsanten Szenen, die mir spontan einfallen, wenn ich an meine Eltern denke ...

I. Geschichten für Leute mit Zweifeln am eigenen Namen oder die meinen, keine Wunschkinder zu sein


Meine Eltern, das waren Hildegard Bosetzky, geb. Schattan (* 11.6.1910 in Rixdorf, † 28.5.2009 in Berlin) und Otto Bosetzky (* 24.1.1906 in Züllichau/Unterweinberge, † 17.7.1968 in Berlin). Meine Mutter ist in der Muskauer Straße in Kreuzberg groß geworden, hat ein Lyzeum am Mariannenplatz und danach die Höhere Handelsschule besucht, um dann solange bei der AOK zu arbeiten, bis sie „gemaßregelt“ wurde, wie das damals hieß, also entlassen, weil ihr Vater/mein Großvater (Oskar) Jude war. Mein Vater war ein nichteheliches Kind, ist auf der Oder auf dem Schleppkahn seiner Tante und später in einem Kreuzberger Kohlenkeller aufgewachsen, hat bei der Reichspost das Handwerk des Telegraphenbauhandwerkers gelernt, ist später zur Gaußschule gegangen und ist dort, wie man heute sagt, Ingenieur (FH) geworden. Früh in die SPD eingetreten, hat er in Kreuzberg gegen die Nazis gekämpft und stand auf deren Abschussliste, wurde aber nicht aus dem Reichspostzentralamt (RPZ) entlassen, weil er für die kriegswichtige Produktion unentbehrlich war und seine Nazi-Vorgesetzten ihre Hand schützend über ihn hielten (bis er dann Anfang 1945 doch noch „eingezogen“ wurde, also Soldat werden musste).

Warum ich Horst (Otto, Oskar) heiße? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich noch mit 77 Jahren darunter leide, zumal mein Sohn Sascha mir nach einem heftigen Streit einmal zugerufen hat: „Vater, du heißt nicht nur Horst, du bist auch ein Horst!“ Ein „Horst„ ist ja nicht nur in der Jugendsprache ein „Depp“ oder „Trottel“. „Sich zum Horst machen“ bedeutet, sich lächerlich zu machen, sich zu blamieren. Zwischenruf meiner – bei allen ganz besonders beliebten – Lehrerin für Deutsch und Latein: „Bosetzky, so wie Sie mit diesem Buch!“ Egal ... Und auch einen Zusammenhang mit dem Schwulsein gibt es, wenn man an den Witz denkt: „Wohin fliegt der schwule Storch? Zu seinem Horst.“ Es besteht aber auch eine eher tiefenpsychologische Vermutung für meine „Behorstung“: Meine Mutter hatte, wie gesagt, einen jüdischen Vater und eine jüdische Großmutter, und da war ihre Angst nicht ganz unberechtigt, einmal in ein KZ oder nach Theresienstadt verbracht zu werden oder in den Weiten des Ostens leben zu müssen. Also dachte sie, wenn ich meinen Sohn nach Horst Wessel nenne, dann bin ich mit Mann und Kind gerettet. Nicht zuletzt aus diesem Grunde bin ich froh, wenn Freunde -ky zu mir sagen.

Bei den eben angerissenen mörderischen politischen Umständen ist es verständlich, dass ich nicht gerade ein Wunschkind war, und so rutschte meiner Mutter einmal raus, ich sei nur ein „Rechenfehler“ gewesen, also ein Irrtum bei der Verhütung. Die Memoiren eines Rechenfehlers – wäre das nicht ein schöner Titel? Jetzt weiß ich jedenfalls, warum ich mit der Mathematik nie zurechtgekommen bin.

Nun zur ersten richtigen Anekdote. Meine Eltern waren begeisterte Paddler, hatten fast alle großen deutschen Flüsse befahren, und es wurde sogar gemunkelt, ich sei im Frühsommer 1937 in ihrem Faltboot gezeugt worden. Das erscheint mir, der ich selbst viele Sommer lang ... äh: gepaddelt bin, relativ unwahrscheinlich, selbst wenn man, was ich bei meinen Eltern ausschließen möchte, das Kamasutra sorgfältig studiert und ausprobiert hat.

Fast jeden Sonntag waren sie auf den Gewässern um Schmöckwitz unterwegs, ich mit meinen vier Jahren immer vorn im Boot zwischen den Knien meiner Mutter. Mein Vater führte über jeden im Boot zurückgelegten Kilometer sorgfältig Buch, weil es vom Kanuverband bei einer größeren absolvierten Strecke einen extra Wimpel gab, den er gern am Bug seines Schiffleins flattern sah. Von daher hatte er es gar nicht gern, wenn unnötig angelegt und Zeit verplempert wurde.

Da verspüre ich das, was er immer „ein menschliches Rühren“ genannt hat.

„Vati, ich muss dringend groß. Ich kann es nicht mehr aushalten.“

„Dann halte es eben ein.“

Das versuche ich dann auch, aber irgendwann auf dem großen Seddinsee will mein Afterschließmuskel nicht mehr mitspielen und ich verfahre nach dem Laissez-faire-Prinzip („Alles einfach so laufen lassen, wie es gerade kommt“). Es ist eine Erlösung! Von nun an sitze ich viel weicher als vorher, und wärmer ist es auch noch.

Meine Eltern paddeln zügig durch den Gosener Graben, und wenn sie wirklich ganz bestimmte Gerüche wahrnehmen, dann führen sie es auf die Düngung der umliegenden Wiesen zurück.

Nach Erreichen des Dämeritzsees wird es Zeit zum Mittagessen. Zu diesem Zweck halten wir in Richtung Müggelspree auf eine Lichtung zu, an deren Ufer sich gut anlegen und aussteigen lässt. Behälter mit Buletten und Kartoffelsalat werden ausgeladen, dazu die nötigen Teller. Alles ist aus Glas und Porzellan, Plastik gab es ja noch nicht, und man muss aufpassen, dass dabei nichts entzwei geht. Schnell ist eine Stelle gefunden, sich gemütlich zu lagern. Doch kaum hat meine Mutter den ersten Bissen im Mund, schreit sie auf.

„Otto, hier stinkt es!“

„Ich war es nicht“, erwidert mein Vater.

Meine Mutter glaubt ihm nicht, denn er war, bevor Tomi Ungerer sein diesbezügliches Buch Der Furz geschrieben und so herrlich illustriert hatte, schon mehrfach als „Kunstfurzer“ in Erscheinung getreten, so hatte er mir beispielsweise, als meine Mutter und ich im Rahmen der Kinderlandverschickung während des Krieges evakuiert waren und er uns an jedem Wochenende besuchte, die vier Himmelsrichtungen auf ganz besondere Weise beigebracht. Bei „Nord“, „Ost“, „Süd“ und „West“ streckte er jedes Mal sein Hinterteil aus und ließ dabei – so im Berliner Jargon – mächtig einen fahren, vier richtige Knaller also. Um mich in der Flatologie kundig zu machen, recherchiere ich im Internet und finde im Spiegel 27/1987 einen Bericht über den Palast der Winde in Hamburg und auch folgende Definitionen:


Nach der Lehre der Bauch- und Darmwinde zerfällt die Gattung Furz in vier Unterfürze: 1. den geräuschvollen, gleichwohl geruchlosen und kontrollierten Preßfurz; 2. den gemeinen, lauten Stinkpups, auch vapor tonans odoratus oder „het windje“, wie die Holländer ihn verniedlichend nennen, 3. den ordinären Kolonnenknaller, der häufig nach mißbräuchlichem Genuß von Hülsenfrüchten oder Apfelwein mit Bullrichsalz auftritt, 4. den nassen, gelben Färber (vapor succulentus), den man an seinem brutzelnden Begleitgeräusch erkennt (vgl. Limbach, „Der Furz“. Handbuch der Flatologie, München, 1983, S. 20 ff).

Als mein Vater bei einer Geburtstagsfeier einmal behauptet hat, er könne zaubern, sah er nur ungläubige Gesichter.

„Was kannst du denn zaubern, Otto?“

„Dass die Luft nach Kacke stinkt.“

Ich weiß, wer ein wenig Psychologie studiert hat, schreit jetzt sofort auf, ebenso auf mich wie auf meinen Vater bezogen: anale Fixierung! Nein, nein, beide weisen wir nicht deren typische Merkmale auf, nämlich ein starkes Bedürfnis nach Ordnung, Sauberkeit und Kontrolle bis hin zu Geiz und Pedanterie, tief sitzende Angst vor Kontrollverlust und Hingabe. Eher ist es bei uns, um Sigmund Freud noch einmal zu bemühen, die Lust am Tabubruch. Und so erwähne ich jetzt auch das, was mir Heike, die geliebte Gefährtin meines Lebens sicher sehr übel nimmt: Angenommen ich blähe am Morgen um 7 Uhr, reiße danach das Fenster auf und lüfte stundenlang und ausgiebig, und sie kommt um 17 Uhr nach Hause, dann ruft sie sofort: „Hier stinkt es gewaltig!“ Mein Pech ist, dass sie eine so feine Nase hat, wie sie sich die Parfümeure aus Grasse (siehe Patrick Süskinds Parfum) nur erträumen können.

Genug davon, nehmen wir Rücksicht auf die Koprophoben unter uns. Daneben gibt es aber auch die Koprophagen. Einen solchen habe ich einmal in einem Kriminalroman (Friedrich der Große rettet Oberkommissar Mannhardt) auftreten lassen und geschrieben: „Der Mensch lebt nicht vom Kot allein“, sagte der Koprophage und biss in einen Apfel. Damals gab es noch kein Internet und kein bashing, aber die Zahl der empörten Leserbriefe, die den Verlag erreichten, war beträchtlich.

Zurück zu dem Tag, an dem ich die Hosen gestrichen voll habe. Meine Eltern schlussfolgern, dass der ekelerregende Duft (im elaborierten Kot, äh, Code: die olfaktorische Belästigung) aus dem nahen Gebüsch kommen muss.

„Da haben bestimmt welche hin gemacht!“

Wir ziehen zwanzig Meter weiter, um hier unsere Decke auszubreiten und unser Picknick fortzusetzen. Wieder rümpft meine Mutter die Nase.

„Hier müffelt es aber auch gewaltig!“

Daraufhin sucht mein Vater die umliegenden Büsche sorgsam nach menschlichen Exkrementen ab, denn die transportablen Toiletten waren ja noch nicht erfunden worden. Er entdeckt aber weder einen menschlichen „Haufen“ noch Kuhfladen oder Pferdeäpfel.

Lange wird nun über die besagte nicht unerhebliche olfaktorische Belästigung gerätselt. Und es wird immer schlimmer, denn inzwischen habe ich alles breit gesessen und den Düften damit geholfen, sich voll zu entfalten.

Dann aber sieht meine Mutter, wie sich an meinem rechten Bein vom Rand meiner Hose zum Knie hinunter ein braunes Rinnsal schlängelt.

Der Fall ist aufgeklärt. Im anschließenden Prozess werde ich dann freigesprochen.

„Otto, wärst du ans Ufer gefahren, ohne zu meckern, hätte sich der Junge nicht in die Hose gemacht. So hat er sich nicht getraut, was zu sagen.“

Schläge ebenso wie andere negative Sanktionen, zum Beispiel Stubenarrest und Taschengeldentzug, blieben mir also erspart – anders wie zehn Jahre später...

... als mein Vater und ich in einer übervollen Straßenbahn stehen, eingequetscht wie die Sardinen in der Büchse. Da lässt einer der Fahrgäste in unserer Nähe „einen durch die Reihen schleichen“, wie man damals sagte, entledigt sich also lautlos einer Blähung der Marke vapor oderatus. Es stinkt fürchterlich, und alles ist empört, zumal ja augenblickliches Entweichen ausgeschlossen ist.

Da sage ich laut und vernehmlich: „Vati, musste das denn sein?“

Er bekommt die berühmte „rote Birne“, was alle als Schuldeingeständnis werten, und wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken, aber wie denn?


Bleiben wir noch bei meinem Vater. Ich habe Tränen in den Augen, da ich dies schreibe, denn ich habe sehr an ihm gehangen. Nun, als eine Folge meines Schlaganfalls überfällt mich jetzt immer leicht die Rührung, ich werde leicht rührselig, habe also dicht am Wasser gebaut. Die nächste Szene dürfte aber auch hartgesottene Gemüter nicht gänzlich kalt lassen.

Mein Vater hat Krieg und Kriegsgefangenschaft überlebt, ist aber aus Russland mit einer Hüftgelenks-Tbc heimgekehrt und liegt im St. Hedwigs-Krankenhaus. Ich habe ihn mehr als drei Jahre nicht gesehen, und meine Mutter steht mit mir in der Tür eines Krankensaals, in dem an die dreißig ausgemergelte und vom Tode gezeichnete Männer liegen. Einer sieht aus wie der andere. Da sagt sie zu mir: „Geh, such deinen Vati!“

Und ich steuere ohne jedes Zögern auf sein Bett zu.

Noch heute rätsele ich, was mir damals diese Gewissheit verschafft hat. Gibt es so etwas wie die Stimme des Blutes? Unsinn, das ist mir zu viel Nazi-Ideologie. Waren es magische Anziehungskräfte, Wellen, die von ihm ausgingen und mich erreicht haben? Ach, nein, ich bin kein Freund alles Esoterischen? Haben meine Gene auf seine Gene irgendwie reagiert und in unseren Gehirnen bestimmte Orientierungsprozesse freigesetzt? Müsste ich einmal einen Neurobiologen befragen. Wahrscheinlich hatte sich sein Gesicht bei mir so eingeprägt, dass ich es trotz all der Veränderungen – weißer Stoppelbart, totale Abmagerung, Glatze – instinktiv wiedererkannt habe. Psychologen würden vielleicht auf die operante Konditionierung verweisen und sagen: Hat der Bosetzky also ein bestimmtes Reiz-Reaktions-Muster erlernt, bevor sein Vater Soldat geworden ist, und das ist dann bei der beschriebenen Szene im Krankenhaus wieder zum Vorschein gekommen.

Er ist dann vom St. Hedwigs-Krankenhaus (Ost-Berlin) ins Oskar-Helene-Heim (West-Berlin) gebracht worden, wo er auch in den Zeiten der Berliner Blockade gelegen hat. Wir konnten von der Neuköllner Ossastraße aus am besten mit der U-Bahn zu ihm fahren, aber die verkehrte aus Mangel an Strom nur bis 18 Uhr, dann musste man auf die DDR-liche S-Bahn ausweichen und hatte weite Wege zurückzulegen. Gab es dazu auch noch eine Stromsperre, so musste ich die vielleicht zwei Kilometer vom Bahnhof Sonnenallee nach Hause im Dunkeln zurücklegen. Da zog ich ein jedes Mal aus, das Fürchten zu lernen.

Mein Vater wurde schließlich mit einem „Gehgips“ entlassen, den er später gegen einen „Gehapparat“ eintauschen konnte. Schließlich brauchte er nur noch einen Stock. Als er nach einem schweren Schlaganfall spürte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, flüsterte er mir auf dem Sterbebett zu: „Den will ich mit in den Sarg nehmen ...“ Als ich den Ärzten und dem Herrn vom Bestattungsunternehmen dies mitteilte, dachten die ganz offensichtlich, dass eine Einweisung in die Psychiatrie für mich das Beste sei. Nun, die Frage, ob der Stock wirklich mit im Sarg gelegen hat und so ins Krematorium gekommen ist, quält mich nicht sonderlich, dafür aber etwas Anderes bis hin zur posttraumatischen Belastungsstörung, und ich erzähle es immer wieder, um es abzuarbeiten: Als mein Vater im Koma liegt, und ich mit meiner Mutter an seinem Bett sitze, kommt eine jüngere Ärztin, die ich gut kenne, weil sie mit meinem Cousin Curt und seiner Frau Bärbel befreundet ist und man sich bei Geburtstagsfeiern immer wieder trifft, zu mir und sagt mir, dass mein Vater nicht mehr zu retten sei und womöglich bis zu seinem Tod über Jahre hinweg im Koma liegen werde. „Er spürt aber trotz seines elenden Zustandes genau, dass ihr bei ihm seid. Wenn ihr geht, dann merkt er, dass das ein Abschied für immer ist und ...“ Ich weiß nicht, was Medizin und Neurologie heute dazu sagen, und vielleicht wird man es nie herausfinden, im Jahre 1968 aber war ich mir sicher, dass genau das eintreten würde, was man heute beim Thema Sterbehilfe salopp „den Stecker ziehen“ nennt. Meine Mutter überließ mir die Entscheidung, und ich entschied mich, seinen Qualen ein Ende zu bereiten. Wir küssten ihn noch einmal, dann gingen wir. „Mutti, wir nehmen keine Taxe, wir laufen nach Hause, um müde zu werden.“ Als wir eine Stunde später an der Treptower Brücke ankommen, klingelt das Telefon. Es ist das Neuköllner Krankenhaus. Man teilt uns mit, dass mein Vater soeben verstorben sei.

Ich sehe ihn noch heute immer wieder vor mir die Straße entlanglaufen. Langsam mit der steifen Hüfte und seinem Stock. Seine Aktentasche hatte er mit einem langen Riemen über der Schulter hängen, und egal, ob Sommer oder Winter, immer trug er einen braunen Hut. Er hatte nämlich kaum noch Haare auf dem Kopf und begründete dies mit Sprüchen wie: „Wo Verstand und gute Sinne walten, da könn´n sich keine Haare halten.“ Ich schlich mich oft von hinten an ihn heran, schob mit dem Zeigefinder die Hutkrempe nach oben, so dass sie vorn seine Augen bedeckte und rief: „HO senkt die Preise!“ Das war ein geflügeltes Wort, weil in einigen Jahren die Handelsorganisation (HO) aus Ost-Berlin alle West-Berliner zum Einkauf in der Hauptstadt der DDR bewegen wollte.

Die Ossastraße ... Die ist nicht benannt nach dem Gebirgsmassiv in Nordgriechenland, sondern nach einem Fluss in Ostpreußen (in Polen heute nur Osa). An die 50 Kilometer entfernt von der Os(s)a fließt die Pissa, und an der lag Pisserkehmen (auf Pruzzisch „Dorf an der Pissa“). Kommen nun die verspotteten Anwohner vom Ufer der Pissa nach Berlin und bitten den Kaiser, ihren Fluss umzubenennen. Seine Majestät nickt huldvoll und verkündet: „Genehmigt! Soll Urinoko heißen.“ So jedenfalls mein Vater.

Otto Bosetzky war ein liebenswerter, belesener, politisch sehr interessierter, humorvoller und pfiffiger Mann, und immer wieder erzähle ich davon, wie wir uns so um 1955 einmal auf dem Balkon versammelt hatten, um Kirschen zu essen. Viele davon gab es nicht, und damit es gerecht zuging, wir drei alle dieselbe Anzahl von Früchten in den Mund stecken konnten und ich als Schnellster nicht das meiste abbekam, wurde vereinbart, dass alle die Kerne ihrer verzehrten Kirschen in Reih und Glied auf den Teller legen sollten. - Fünf Minuten später: Meine Mutter hatte, sagen wir, neunzehn Kirschkerne auf dem Teller liegen, ich zwanzig, mein Vater aber nur fünf, obwohl wir uns sicher waren, dass er ebenso oft wie wir in die Schale gegriffen hatte. Was war passiert? Er hatte die Mehrzahl seiner Kerne einfach hinuntergeschluckt ... Nix da mit einer Blinddarmentzündung, die uns Kindern bei solchem Verschlucken immer angedroht wurde.


Meine Eltern waren Mitglied der Freien Volksbühne, gingen also jeden Monat einmal ins Theater. Wurde einer von ihnen krank oder war sonst wie verhindert, durfte ich mit. Trat man ins Foyer, gab es jedes Mal ein besonderes Beispiel an sozialer Gerechtigkeit, das an utopische Gesellschaftssysteme denken ließ: Nicht, dass die Schönen und die Reichen vorn im Parkett in der ersten Reihe saßen und das Prekariat ganz hinten oder oben auf dem 2. Rang, nein, es gab einen Sektkübel, in dem die Sitzplatznummern zusammengerollt wie Lose steckten, und in den jeder hineingreifen durfte, der einen Anrechtschein vorweisen konnte, egal, was er verdiente und wo er in der sozialen Schichtungspyramide verortet war. Das war immer ungemein spannend. Diesmal sollte es ins Schiller-Theater gehen, und wir, das heißt, mein Vater und ich, freuten uns auf Erich Schellow und Martin Held. Wir kamen von Bekannten und mussten am Zoo in die U-Bahn zum Ernst-Reuter-Platz umsteigen. Der Zug war gerade weg, und es hieß, neun Minuten warten. Mein Vater wollte die Zeit nutzen, mir Nachhilfe im Fach Heimatkunde zu erteilen und trat mit mir an den Stadtplan.

„Hier unten ist Schmöckwitz, hier Neukölln, hier Kreuzberg, und da ist die Manteuffelstraße, wo dein Vater im Kohlenkeller groß geworden ist. Wer war Manteuffel?“

„Keine Ahnung, wahrscheinlich ein Bezirksbürgermeister von Kreuzberg.“

„Unsinn! Bosetzky, setzen: Fünf! Otto Theodor Freiherr von Manteuffel war um 1850 preußischer Innenminister und später auch Ministerpräsident und Außenminister.“ Er zeigte mit dem Finger auf die Waldemarstraße. „Nach wem ist die benannt?“

Ich lachte. „Nach deinem Freund Waldemar Blödorn.“ Der kam aus Rahnsdorf und war Gewerbelehrer in Neukölln, also „Grenzgänger“, und von Waldi sangen sie immer: „Er hieß Waldemar, weil es im Wald geschah.“

„Quatsch! Die ist nach einem preußischen Prinzen benannt, der um 1850 nach Südamerika und nach Indien gereist ist, bis nach Tibet hinauf, bis die Engländer ihren Krieg gegen die Sikhs begonnen haben und er schleunigst nach Deutschland zurückkommen musste. Aber wenn es nach mir ginge, dann sollte die Waldemarstraße nach dem letzten Askanier heißen, dem Markgrafen Waldemar ...“ Und nun holte er zu einem längeren Vortrag über diesen Waldemar aus (1280 bis ???). Danach zeigte er auf die Wrangel- und die Muskauer Straße und ließ sich das Längeren über die Fürsten Wrangel und Pückler aus.

Ich schlich mich leise davon. Er merkte das nicht und stand dann allein und laut redend und gestikulierend vor dem Stadtplan auf dem Seitenbahnsteig. Die Leute ringsum hielten ihn für einen „armen Irren“ und ließen die flache Hand vor den Gesichtern kreisen.


Wie sehr mir mein Vater noch immer in Gehirn und Blut steckt und damit bestimmte Thesen der Genforschung verifiziert, habe ich neulich im Supermarkt bemerkt. Da stehe ich vor der Käsetruhe und suche nach einer bestimmten Art und Marke. Kommt eine jüngere Verkäuferin vorbei, und ich sehe sie fragend an:

„Haben Sie keine Leichenfinger?“

Sie fährt zusammen, glaubt, wieder einmal einen älteren Berliner vor sich zu haben, der eigentlich in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik gehörte, erkennt mich aber dann als „den -ky“ und fragt, ob ich für meinen nächsten Kriminalroman eine Leiche in der Kühltruhe suchen würde.

Ich grinse. „Schön wär´s, aber ich suche nur Harzer Käse in rollenförmiger Form, in Stangen, die so aussehen wie abgeschnittene Finger, von meinem Vater 'Leichenfinger' genannt.“