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Georg E. Becker

Lehrer lösen Konflikte

Handlungshilfen für den Schulalltag

 

 

 

 

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Beltz Taschenbuch 178

© 2006 Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Das Werk erschien seit 1983 im Beltz Verlag unter dem Titel »Lehrer lösen Konflikte – Ein Studien- und Übungsbuch« in insgesamt 8 Auflagen.

2000 erschien die Taschenbuchausgabe in 2 Auflagen. Die jetzt vorliegende, vollständig überarbeitete Neuausgabe ist also insgesamt die 11. Auflage des Werkes.

Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal

Umschlagabbildung: Paul Eckenroth/Joker

Konvertierung e-book Zentrale Medien, Bochum

e-book ISBN: 978-3-407-22420-0

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Inhaltsübersicht

Vorwort

Einleitung

I Allgemeiner Teil

Einführung in die Konfliktproblematik

Thesen zur Konfliktproblematik

Maßnahmen der Konfliktprophylaxe

Interventionsmöglichkeiten

Handlungsmatrix zur Konfliktanalyse

Beispiele zur Konfliktanalyse

Erhebung des Konfliktpotenzials

II Studien- und Übungsunterlagen

Konflikte zwischen Lehrern und Schülern

Disziplinkonflikte

Problemschüler

Provokationen und Regelüberschreitungen

Gewalt gegen Lehrer

Gewalt zwischen Schülern

Pause und Schulhof

Sachbeschädigungen und Vandalismus

Fremdes Eigentum

Leistungsbeurteilung

Schulangst

Schulversagen

Hausaufgabenkonflikte

Gruppenkonflikte

Außenseiter

Mobbing

Sexuelle Probleme

Drogenproblematik

Nutzung neuer Medien

Kulturelle Unterschiede

Vernachlässigt, misshandelt, missbraucht

Aktivitäten des Schullebens

Konflikte zwischen Erwachsenen

Konfliktfeld Referendariat

Konfliktfeld Kollegium

Konfliktfeld Schulleitung

Konfliktfeld Eltern

Lehrer verursachen Konflikte

Fragwürdige Berufsauffassung

Mangelndes Durchsetzungsvermögen

Fragwürdige Eigenschaften

Verbale Gewalt

Sadismus

Physische Gewalt

Mangelnde Fachkompetenz

Mangelnde Methodenkompetenz

Mangelnde Sozialkompetenz

Mangelnde Gesprächsbereitschaft

Mangelnde Konfliktkompetenz

Mangelnde personale Kompetenz

Sexuelle Grenzüberschreitungen

Alkoholkrankheit

Empfehlungen zur Konfliktprophylaxe

Literaturverzeichnis

Sachregister

Vorwort

Lord Ralf Dahrendorf

 

Die Meinung ist durchaus verbreitet, dass Konflikte in menschlichen Beziehungen gleichsam Krankheiten sind. Eigentlich sollte es sie nicht geben; wenn sie aber doch auftreten, muss man alles tun, um sie zu beseitigen. Es gilt, Rezepte zu finden, die helfen, Konflikte nicht nur einzudämmen, sondern aus der Welt zu schaffen. Das Leitideal einer »gesunden« Gesellschaft ist eine konfliktfreie Welt.

Georg Becker teilt diese Meinung nicht. Darin liegt eine der zahlreichen Stärken seines Leitfadens für Lehrer. Professor Becker nimmt den Gedanken der modernen Sozialwissenschaften auf, dass Konflikte ein Teil des sozialen Lebens sind. Sie sind sozusagen normal. Es gibt sie überdies nicht nur in allen Gesellschaften, Organisationen und zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern sie sind oft ein belebendes Element des Zusammenlebens. Um Immanuel Kant zu zitieren: »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.« Ohne diese, also ohne Konflikte »würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat«.

Wer Konflikte so sieht, erkennt ihre Kraft als Beweger fruchtbarer Veränderungen. Die Aufgabe liegt dann nicht mehr darin, sie zu bekämpfen, gar zu beseitigen, sondern sie zu regeln. Es gilt, Mittel und Wege zu finden, die gewaltlosen Wandel durch Konflikt bewirken. Das ist der Kern des Prinzips der Demokratie. Der notwendige Streit der Teilinteressen – der Parteien – wird durch Institutionen wie Wahlen und Parlamente für das ganze des Gemeinwesens fruchtbar gemacht.

Professor Becker hat sich in seinem hier in überarbeiteter Form vorgelegten Buch die Perspektive der Fruchtbarkeit von Konflikten zueigen gemacht. Seine konzise »Einführung in die Konfliktproblematik« bedarf keiner Ergänzung. Aber Georg Becker ist nicht naiv. Er weiß, dass Konflikte auch zerstörerisch sein können. Hier geht die heutige Perspektive über die der »Erfinder« der Konflikttheorie hinaus. Damals, in den 1950er und frühen 1960er Jahren, ging es darum, den Harmonietheorien, also in der Tat dem Lob des »arkadischen Schäferlebens« eine realistische Betrachtungsweise gegenüberzustellen. Heute ist eines der Hauptthemen die Ausbreitung unbewältigter Gewalt. Vom Terrorismus bis zum Alltag der Schule sehen wir uns mit Konflikten konfrontiert, die nicht einfach »geregelt« und dadurch fruchtbar gemacht werden können. Heute gilt es zu unterscheiden zwischen potentiell fruchtbaren und zerstörerischen Konflikten.

Professor Becker gelingt diese Unterscheidung in vorbildlicher Weise. Seine »Thesen zur Konfliktproblematik« können weit über die Schule hinaus nützliche Hinweise geben. Wer Verständnis hat für die schwierige Lage, in der sich Lehrer heute finden, und doch festhält an der Einsicht in den möglichen Nutzen von Konflikten, findet hier Handlungshilfen. Als einer der Erfinder der Konflikttheorie in den Sozialwissenschaften habe ich von Professor Beckers Ansatz viel gelernt.

Noch etwas bedarf der Erwähnung. Wer Theorie liebt – und ich zähle mich dazu – hat auch eine Vorliebe für klare und einfache Erklärungen. Wer in der Praxis steht, kann mit solchen klaren und einfachen Erklärungen nur bedingt etwas anfangen. Die Wirklichkeit, also der »Schulalltag«, ist eben nicht klar und einfach. Professor Georg Becker weiß das, und seine Leser werden es schätzen, dass dieses Wissen in seine Darstellung eingeht. Das mittlerweile zum Klassiker gewordene Buch ist ein Musterbeispiel für angewandte Wissenschaft und wird als solches für viele unentbehrlich werden.

 

London, September 2006 

 

Lord Ralf Dahrendorf

Prof. em. für Soziologie

Einleitung

Die Berufsfelder der Lehrerinnen und Lehrer sind in besonderer Weise konfliktträchtig. Ihr Schulalltag wird durch zahlreiche Auseinandersetzungen, Belastungen und Schwierigkeiten bestimmt, die häufig zu einer starken emotionalen Betroffenheit führen. Zwar variieren die Berufsfelder – wenn man idyllische Landschulen mit Brennpunktschulen in Ballungszentren vergleicht –, doch überall gehören Konflikte zum Berufsalltag, und überall müssen die Lehrer mit und in Konflikten leben.

Gesellschaftliche Veränderungen bewirken andere und neuartige Konflikte, verändern somit das schulische und unterrichtliche Konfliktpotenzial. Wohlstandsverwahrlosung, neue Kinderarmut, fragwürdige Mediennutzung, Schüler mit Migrationshintergrund und Sprachdefiziten oder die angespannte Situation auf dem Lehrstellenmarkt sind Probleme, die früher so nicht in Erscheinung traten. Andererseits gibt es Konfliktbereiche, die sich kaum verändert haben. Pubertierende Schüler provozierten und provozieren ihre Lehrer. Sie missachteten Regeln, um die Grenzen zu testen, und sie tun dies auch heute. Sie konsumierten Drogen – aus Neugier oder um Lehrer und Eltern zu schockieren –, nur die Art der Drogen änderte sich. Gleiches gilt für die Konflikte mit Problemschülern, undisziplinierten Klassen oder für Auseinandersetzungen mit Kollegen, Vorgesetzten oder Eltern. Konflikte dieser Art gab es schon immer und wird es auch künftig geben. Mit diesem Buch wird die Absicht verfolgt, sowohl das typische als auch das aktuelle Konfliktpotenzial darzustellen.

Das Thema – Konflikte in der Schule und im Unterricht – wird in vielen Publikationen einseitig abgehandelt. So geht es vielen Autoren lediglich darum, Konflikte beizulegen, bei Auseinandersetzungen zu schlichten, bei Belastungen zu entlasten und auftretende Schwierigkeiten zu bewältigen. Zweifelsohne ist es gerechtfertigt, das Anliegen der Konfliktbeilegung zu favorisieren, doch darf das der Konflikterzeugung nicht ausgeblendet werden.

Wenn ein Schüler keine Hausaufgaben macht, muss der Lehrer die Auseinandersetzung mit ihm suchen. Schließlich ist er für dessen Lernerfolg mitverantwortlich, und es kann ihm nicht gleichgültig sein, ob der Schüler seine Aufgaben erfüllt. Wenn ein Lehrer monatelang Klassenarbeiten nicht korrigiert, sind konflikterzeugende Aktivitäten der Schüler, Eltern und Vorgesetzten ebenfalls gerechtfertigt. Und wenn Eltern ihre Kinder nicht zur Schule schicken, muss im Interesse der Kinder die Auseinandersetzung gesucht werden, damit die Eltern ihren Erziehungspflichten und die Schüler ihrer Pflicht zum Schulbesuch nachkommen.

Einseitig sind auch jene Veröffentlichungen, welche die Konfliktursachen nur bei den Schülern sehen, die sich mit störenden Schülern oder undisziplinierten Lerngruppen befassen und zahlreiche Tipps liefern, wie man den »Störenfrieden« begegnen oder die »kleinen Teufelchen« disziplinieren könne.

Ausgeklammert werden meist auch die Strukturkonflikte, die sich aufgrund der klassisch hierarchischen Schulbürokratie ergeben, aus dem veralteten 85-jährigen Schulsystem, aus der zu frühen Selektion, der Halbtagsschule, der Hausaufgabenproblematik, der Beziehungslosigkeit im Fachlehrersystem, der fragwürdigen Unterrichtsorganisation im 45-Minuten-Takt u.a.m. Veröffentlichungen, welche die Strukturkonflikte unberücksichtigt lassen, sind wenig hilfreich, weil sie nur Symptome beschreiben und behandeln, die Ursachen ausblenden und deshalb keine wirksamen Therapien anbieten (Lange-Garritsen 1972).

Fragwürdig sind auch jene Publikationen und Trainingsprogramme, in denen ausschließlich die gewaltfreie Konfliktaustragung empfohlen wird, ohne das Recht auf Selbstverteidigung zu erwähnen. Zwar ist es völlig gerechtfertigt, den Schülern Möglichkeiten der gewaltfreien Konfliktregelung aufzuzeigen und einzuüben. Doch leider nehmen Schüler mit einem hohen Aggressionspotenzial auf diesen Grundsatz keine Rücksicht, wenn sie schwächere Schüler verprügeln, ausrauben oder »abziehen«. Programme zur gewaltfreien Konfliktaustragung müssten wohl deshalb durch Kurse zur Selbstverteidigung ergänzt werden.

Einseitig sind auch jene Publikationen, die suggerieren, man könne nahezu alle Konflikte spielend lösen (Jefferys-Duden 2001). Zwar gibt es für viele Konfliktkonstellationen förderliche Verhaltensweisen und Handlungsmuster, die man spielerisch einüben und den Schülern bewusst machen kann. Und wenn sie sich dann in die Konfliktsituation hineinversetzen, sich mit den Personen identifizieren und im Spiel kreative Lösungen aufzeigen, findet sinnvolles produktives Lernen statt. Für zahlreiche Randkonflikte, für dominantes oder passives Verhalten oder für Streit um attraktive Tätigkeiten, lassen sich spielerisch Lösungen finden. Aber wenn die Konflikte gravierender werden, wenn Körperverletzungen oder strafbare Handlungen im Spiel sind, hört das Spiel bald auf, ein Spiel zu sein, und man muss sich mit dem Ernstfall befassen.

Bücher, in denen die gemeinsame Konfliktbewältigung empfohlen wird, betonen den Grundsatz der Mitverantwortung und Mitentscheidung, der für ausgebildete Lehrer selbstverständlich ist. Kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Lehrer und einem Schüler, müssen die beiden den Konflikt austragen, wer sonst? Weder der Lehrer noch der Schüler ist in der Lage, die Auseinandersetzung alleine beizulegen. Über fragwürdige Umgangsformen wird ein Lehrer mit der ganzen Klasse sprechen, die Art des Umgangs zur Diskussion stellen und die Gruppe nach einem Ausweg suchen lassen. Doch gibt es viele Konfliktkonstellationen – Kinderarmut, Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch –, die zunächst einmal eine gemeinsame Bearbeitung ausschließen. Auf solche Ereignisse müssen Lehrer mit Zurückhaltung und Takt reagieren, kursierenden Gerüchten nachgehen, Tatsachen von Vermutungen trennen, um dann zu einem späteren Zeitpunkt das Gespräch mit den unmittelbar betroffenen Schülern zu suchen.

Einseitig sind auch Publikationen, in denen die Konfliktaustragung ohne Sieg und Niederlage empfohlen wird, bei denen es keine Sieger und keine Verlierer geben soll (Gordon 1977). Sie kommen zwar dem vorherrschenden Harmoniebedürfnis entgegen, aber sie leugnen die Wirklichkeit. Stiehlt ein Schüler wie ein Rabe, kann man ihm keinen Kompromiss anbieten, indem man die Vereinbarung trifft: Nicht mehr so häufig und nicht mehr so viel! Dem Schüler muss eine Niederlage beigebracht werden, was sonst? Ein anderer Schüler macht sich einen Spaß daraus, seinen Mitschülern genüsslich Reißbrettstifte ins Fleisch zu drücken. Er selbst findet das ganz toll, wenn diese aufspringen und aufschreien. Doch die Gepeinigten finden das nicht so gut. Soll nun zwischen den Konfliktparteien verhandelt und vermittelt werden: Nicht mehr so oft und nicht mehr so tief? Selbstverständlich ist auch diesem Schüler eine Niederlage beizubringen.

Überschätzt werden auch die gut gemeinten Streitschlichter-Programme, deren Ziel es ist, Schüler die Konflikte möglichst selbst regeln zu lassen (Faller 1996, Jefferys-Duden 2002a, 2002b). Diese Programme verfolgen den Grundsatz der Selbsttätigkeit, das Anliegen des sozialen Lernens und der Erziehung zur Mündigkeit. Der Grundsatz Was Schüler selber regeln können, sollten sie auch alleine regeln! ist seit der pädagogischen Reformbewegung bekannt und zu befürworten. Der Ablauf ist ebenfalls plausibel: Einige Schüler werden zu Streitschlichtern, auch Mediatoren genannt, ausgebildet. Sie werden im Zuhören und in der Gesprächsführung geschult. Kommt es zwischen Schülern zu einer Auseinandersetzung, können sie die Mediatoren aufsuchen. Die Konfliktparteien tragen ihre Anliegen vor, die Mediatoren hören zu, fragen nach und tragen so zur Klärung der Positionen bei. Dann werden beide Parteien aufgefordert, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und vorzutragen, und die Vermittler versuchen, gemeinsam mit den Streitenden eine Lösung zu finden und eine Vereinbarung zu treffen, die von allen akzeptiert und unterschrieben werden kann. Idealerweise endet die Prozedur bei einem Feedback-Termin, an dem festgestellt wird, dass sich die Beteiligten an die Vereinbarung gehalten haben.

Damit die Streitschlichtung erfolgreich sein kann, müssen die streitenden Schüler zunächst einmal bereit sein, die Mediatoren aufzusuchen. Schuldbewusste Schüler werden sich oft einer Vermittlung entziehen wollen. Gleiches gilt für gehemmte Schüler und für jene, welche die Mediatoren nicht mögen. Vermittlungsversuche durch Mediatoren können ohnehin nur bei Randkonflikten greifen. Kommt es zu einem Zentral- oder Extremkonflikt, z.B. zu einer ernsthaften Körperverletzung, sind natürlich die Lehrer gefordert. Sie müssen erste Hilfe leisten, die Eltern benachrichtigen, den Verletzten zum Arzt fahren und den Unfallbericht schreiben.

Viele Veröffentlichungen befassen sich nur mit einem Aspekt der Konfliktproblematik, so z.B. mit Disziplinkonflikten, mit Gewalt oder mit Konflikten in der Pause und auf dem Schulhof (Korte 1993). So nützlich solche Publikationen auch sein mögen, so wenig hilfreich sind sie, wenn Lehrer gerade in ganz andere Konflikte involviert sind. Deshalb wird versucht, die Problematik umfassend und differenziert darzustellen.

Um einseitige Ursachenzuschreibungen zu vermeiden, soll die Multikausalität schulischer Konflikte beleuchtet werden. So ist es naiv, immer nur die Schüler als Konfliktursache zu sehen (Gräser/ Lederer 1982). Schließlich werden viele Konflikte durch Lehrer, Vorgesetzte und Eltern erzeugt. Und auch die Institution Schule mit ihren veralteten Strukturen und Organisationsformen ist für viele konfliktträchtige Ereignisse verantwortlich.

 

Fassen wir zusammen: Natürlich wird ein gewaltfreier verständnisvoller Umgang befürwortet, doch dürfen Schüler nicht aufgefordert werden, sich bis zur Selbstverleugnung willkürlicher Gewalt auszusetzen. Zwar lassen sich einige Konflikte durchspielen, aber bei ernsthaften Konflikten wird ein Spiel dem Ernst der Lage nicht gerecht. Konflikte sind gemeinsam mit den Beteiligten zu regeln – mit wem sonst? Aber auf Zentral- und Extremkonflikte werden Lehrer mit der gebotenen pädagogischen Zurückhaltung antworten, den Fall überdenken, sich zunächst mit Experten beraten und konfliktanalytisch verfahren, bevor sie die unmittelbar Beteiligten einbeziehen. Sicher ist es erstrebenswert, Vereinbarungen zu treffen, die alle Konfliktparteien akzeptieren können, nach Regelungen zu suchen, die keinen Sieger und keinen Besiegten kennen. Aber wenn die Schuld einseitig beim Täter liegt, bleibt keine andere Wahl, als ihm eine Niederlage beizubringen. Und schließlich können zwar Schüler als Streitschlichter bei Randkonflikten vermitteln, aber bei schwerwiegenderen Auseinandersetzungen sind bald die Lehrer gefordert.

Für wen ist dieses Buch gedacht?

Zunächst einmal für alle junge Menschen, die sich mit dem Gedanken tragen, Lehrer werden zu wollen. Wenn sie dieses Buch gelesen haben, wissen sie in etwa, was auf sie zukommen wird. Sie lernen das breite schulische und unterrichtliche Konfliktspektrum mit den vielen Konfliktfeldern kennen. Und wenn sie im Anschluss an die Lektüre immer noch bereit sind, in und mit Konflikten zu leben, sollten sie diesen anstrengenden Beruf ergreifen.

Dann ist das Buch für Praktikanten und Referendare geschrieben worden. Sie werden zunächst das Konfliktfeld studieren, das sich mit den Auseinandersetzungen, Belastungen und Schwierigkeiten im Referendariat befasst. Für sie besteht die Möglichkeit, die selbst erlebten oder durchlittenen Konflikte mit jenen im Buch zu vergleichen und das Konfliktspektrum durch eigene Erfahrungen zu ergänzen.

Im Beruf stehende Lehrer gelangen bei der Lektüre zu der Einsicht, dass es nicht sie allein sind, die täglich mit den Widerwärtigkeiten des Schulalltags zu kämpfen haben, sondern dass es den Kollegen ganz ähnlich geht. Vielleicht finden sie dann eher den Mut, im pädagogischen Team über die eigenen Konflikte zu sprechen, sich zu beraten und konfliktanalytisch zu verfahren.

Hochschullehrer können mit diesem Buch theoriebewusste und praxisrelevante Lehrveranstaltungen durchführen. Die einleitenden Kapitel dienen als Grundlagenlektüre, dann kann man sich mit ausgewählten Konfliktfeldern befassen, um schließlich selbst erlebte Konflikte zu beschreiben und in Kleingruppen zu analysieren.

Ähnlich hilfreich kann das Buch bei der Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen sein. Nach einer kurzen Einführung in die Konfliktproblematik und in die hier ausgewiesene Terminologie beschreiben die Teilnehmer einen aktuellen Konflikt bis zu jenem Punkt, an dem gehandelt werden muss. Dann bildet man Kleingruppen, liest sich die Beschreibungen vor, wählt einen Fall aus, analysiert ihn gemeinsam, trägt das Analyseergebnis im Kollegium vor und stellt es zur Diskussion. Dieser bewährte Veranstaltungsablauf lässt sich auch auf andere Institutionen übertragen, sofern man daran interessiert ist, die Konfliktfähigkeit der Mitarbeiter zu verbessern, so z.B. auf Ämter oder Krankenhäuser, Wirtschaftsoder Industriebetriebe.

Schulpsychologen, deren vorrangige Aufgabe darin besteht, Problemschüler zu betreuen, konfliktträchtige Ereignisse zu erfassen, zu beschreiben, zu analysieren und nach Möglichkeiten der Bewältigung zu suchen, werden sich mit ihrer Arbeit in diesem Buch häufig wiedererkennen.

Schließlich ist das Buch für alle gesellschaftlichen Gruppen gedacht, die sich für Erziehung und Unterricht, Bildung und Ausbildung interessieren, für Politiker, Schulträger, Schulaufsichtsbeamte, Schulleiter und Eltern. Sie alle können konfliktprophylaktisch wirken, durchdachte Interventionen einfordern und konfliktanalytisch verfahren, bevor sie Entscheidungen treffen.

 

Dieses Buch enthält neben den einführenden Kapiteln zum Konfliktverständnis drei umfangreichere Kapitel zur Konfliktprophylaxe, zur Intervention und zur Konfliktanalyse. Diese drei Kapitel – Prophylaxe, Intervention, Analyse – sind als Einheit zu sehen, damit die Analyseergebnisse prophylaktisch wirksam werden können. Die Beispiele zur Konfliktanalyse sollen den Leser anregen, selbst konfliktanalytisch zu verfahren.

Das übergeordnete Ziel besteht in der Ausbildung der Konfliktkompetenz, der Fähigkeit, in und mit Konflikten zu leben. Im Einzelnen geht es darum, das berufsspezifische Konfliktspektrum kennen zu lernen und zu akzeptieren, zwischen selbst- und fremdverursachten Konflikten zu unterscheiden, erwünschte von unerwünschten Konflikten zu trennen, die eigene Konflikttoleranz zu erhöhen, eine pädagogische Distanz zu gewinnen, konfliktprophylaktisch zu verfahren, angemessen zu intervenieren, die Möglichkeiten des Handlungsaufschubs zu nutzen, um sich vom Zeit und Handlungsdruck zu befreien. Ein weiteres Ziel besteht in der Ausbildung der Konfliktbeilegungsfähigkeit, bei Auseinandersetzungen zu schlichten, bei Belastungen nach Entlastung zu suchen und Schwierigkeiten zu überwinden. Außerdem wird das Ziel verfolgt, Konflikte zu erzeugen, um Grenzen zu setzen und Ungerechtigkeiten entgegenzutreten. Die Studien- und Übungsunterlagen sollen zunehmend befähigen, selbst erlebte Konflikte personen- und sachangemessen zu beschreiben, die Konfliktrelevanz realistisch einzuschätzen, sich um Gesprächspartner zu bemühen, um gemeinsam konfliktanalytisch zu verfahren. Das Studien- und Übungsziel besteht in der Ausbildung konfliktkompetenter Lehrer, die über prophylaktische Kompetenz, Interventionskompetenz und analytische Kompetenz verfügen.

 

Die in den Studien- und Übungsunterlagen beschriebenen Konflikte stammen aus drei Quellen. Zunächst hat der Autor zehn Jahre lang an Grund-, Haupt- und Realschulen unterrichtet und selbst zahlreiche Konflikte erlebt. Dann haben Pädagogikstudenten und Lehrer in Lehr- und Fortbildungsveranstaltungen die von ihnen erlebten Konflikte beschrieben. Und drittens waren Angehörige verschiedener Berufsgruppen zu erlebnis- und erfahrungszentrierten Interviews bereit, um das Konfliktspektrum zu aktualisieren und zu ergänzen. Ihnen allen gilt der besondere Dank des Autors.

Die in diesem Buch beschriebenen Konflikte werden so wiedergegeben, wie sie von den befragten Personen erlebt worden sind. Die Beschreibungen wurden lediglich stilistisch überarbeitet, nicht aber inhaltlich verändert. Man kann also davon ausgehen, dass es sich um eine annähernd realistische Zustandsbeschreibung handelt. Die in den Situationsbeschreibungen genannten Namen sind frei erfunden. Auch ist auf Ortsangaben verzichtet worden, um den Bestimmungen des Datenschutzes zu genügen.

Bei der gegen unendlich strebenden Anzahl der Konfliktkonstellationen war es erforderlich, eine Abgrenzung vorzunehmen. So wurden ideologische Positionen, wie sie z.B. in der Kopftuchdebatte vertreten werden, nicht weiterverfolgt, weil es für sie ohnehin keine Lösungen gibt. Unberücksichtigt bleiben auch jene Konflikte, die sich aus der Zusammenarbeit mit leistungsschwachen, behinderten und psychisch kranken Schülern ergeben, die professionelle therapeutische Hilfe benötigen.

Der Einfachheit halber ist in diesem Buch von Lehrern und Schülern die Rede. Selbstverständlich sind alle Lehrerinnen und Schülerinnen ebenfalls gemeint. Sofern in den Situationsbeschreibungen das Geschlecht eine Rolle spielt, erfolgt natürlich eine Differenzierung.

I Allgemeiner Teil

Einführung in die Konfliktproblematik

Leser, die sich für die allgemeine sozialwissenschaftliche konflikttheoretische Diskussion interessieren, seien auf die Publikation von Peter Imbusch (2005) »Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien – ein Überblick«, aufmerksam gemacht. Imbusch bietet neben dem Überblick zur Konfliktproblematik differenzierte Ausführungen zu einem weiten und engen Konfliktverständnis, zur Relevanz und Bedeutung von Konflikttheorien, zu den Klassifikations- und Differenzierungsmöglichkeiten und zu verschiedenen konflikttheoretischen Ansätzen, den Traditionen konflikttheoretischen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart. Akribisch durchläuft er das problemgeschichtliche Verfahren von Heraklit über Hobbes und Machiavelli, Hegel, Marx und Engels, Darwin und Spencer, Nietzsche und Weber bis hin zur Frankfurter Schule und zu aktuellen Ansätzen von Galtung, Rapoport, Dahrendorf, Collins und Luhmann.

Diese Veröffentlichung beschränkt sich bewusst auf Konflikte in der Schule und im Unterricht, auf das Konfliktpotenzial der letzten Jahrzehnte sowie auf die aktuellen Konfliktfelder und Konfliktkonstellationen.

 

Unter einem Konflikt wird im Rahmen dieser Publikation eine Auseinandersetzung, Belastung und/oder Schwierigkeit verstanden, die bei der beteiligten Person oder den beteiligten Personen zu einer emotionalen Betroffenheit und zu Beeinträchtigungen von unterschiedlicher Relevanz führt.

Damit wird der Konfliktbegriff relativ weit gefasst. Der unterschiedlichen Konfliktrelevanz entsprechend lassen sich Schein-, Rand-, Zentral- und Extremkonflikte unterscheiden (Becker/Dietrich/Kaier 1982, S. 23 ff., Becker/Stadler 1982, Becker 1983).

Scheinkonflikte führen nur zu einer momentanen Betroffenheit und hinterlassen keine Beeinträchtigungen.

Randkonflikte bewirken eine kurzzeitige und geringe emotionale Betroffenheit und hinterlassen nur geringe Beeinträchtigungen.

Zentralkonflikte führen zu einer starken emotionalen Betroffenheit mit Langzeitwirkung und zu starken Beeinträchtigungen.

Extremkonflikte hinterlassen eine sehr starke dauerhafte emotionale Betroffenheit und führen zu Beeinträchtigungen, die nicht korrigierbar sind.

Hauptmerkmal eines Konflikts ist also der Grad der emotionalen Betroffenheit sowie die psychischen, physischen, sozialen und kognitiven Beeinträchtigungen.

 

Dazu ein Beispiel:

Wenn Schüler miteinander flüstern, der Lehrer sie scharf ansieht und die Schüler sofort wieder bei der Sache sind, liegt ein Scheinkonflikt vor.

Wenn sich Schüler halblaut unterhalten, während der Lehrer einen Sachverhalt erklärt, er die Erklärung kurz unterbricht, die Schüler ermahnt, Ruhe einkehrt und er mit der Erklärung fortfährt, handelt es sich um einen Randkonflikt.

Wenn sich viele Schüler häufig ungeniert laut unterhalten, sodass Lehren und Lernen nur noch unter hohem Zeitverlust möglich sind und die Lernergebnisse weit hinter den Erwartungen zurückbleiben, liegt ein Zentralkonflikt vor.

Und wenn es im Unterricht ständig drunter und drüber geht, sich der Lehrer kein Gehör mehr verschaffen kann, die Schüler ihre Freude daran haben, ihn zu quälen, der Lehrer schließlich resigniert, sich krankmeldet und in eine psychosomatische Klinik eingeliefert wird, handelt es sich um einen Extremkonflikt.

 

Konflikte können sich innerhalb einer Person, also intrapersonal, abspielen, z.B. als Widerstreit von Motiven, wenn z.B. ein Schüler unsicher ist, ob er sich zum Klassensprecher wählen lassen oder besser im Hintergrund bleiben soll. Oder wenn ein Lehrer Zweifel hegt, ob er sich um eine bestimmte Schulleiterstelle bewerben soll. Zu den intrapersonalen Konflikten zählen auch die Bewusstseinskonflikte (Wagner 1984). Während des Unterrichts überlegen sich Lehrer mehrmals pro Stunde, wie sie sich entscheiden sollen, und sie zweifeln häufig daran, ob ihre Entscheidung auch die richtige sei:

Soll ich die Arbeitsphase verlängern oder den Prozess abbrechen? … Mich dem Schüler direkt zuwenden oder ihn auf später vertrösten? … Die Frage jetzt beantworten oder sie mit einer Begründung zurückstellen? … Die Schüler ermahnen oder über den Randkonflikt hinweg unterrichten? … Soll ich nach dem Medieneinsatz zunächst Partnergespräche initiieren oder gleich in eine allgemeine Aussprache eintreten?…

 

Bewusstseinskonflikte treten bei gut ausgebildeten und problembewussten Lehrern häufiger auf als bei naiven, weil mit dem Grad der Professionalisierung auch der Blick für die vielen Handlungsmöglichkeiten zunimmt. Allerdings wäre es wohl falsch, die Empfehlung auszugeben, naiv zu bleiben, um so möglichst viele Bewusstseinskonflikte zu vermeiden. Kluge Lehrer müssen nun einmal mit ihren Bewusstseinskonflikten leben. Doch bei etwa 20 Bewusstseinskonflikten pro Unterrichtsstunde und 120 an einem Unterrichtsvormittag lässt sich erklären, warum Lehrer nach sechs Stunden so müde und abgekämpft sind.

Zu den intrapersonalen Konflikten gehören ebenso die Intrarollenkonflikte. Unter einer Rolle versteht man die Gesamtheit der Erwartungen, die an den Träger einer sozialen Position gerichtet werden (Dahrendorf 1965). Der Lehrer hat eine bestimmte soziale Position inne. Schüler, Kollegen, Schulleiter und Eltern richten Erwartungen an ihn. Sind diese unterschiedlich, weiß er oft nicht, welcher Erwartung er gerecht werden soll, und so wird ein Intrarollenkonflikt ausgelöst. Die Schüler möchten z.B. eine Schneeballschlacht durchführen, doch der Schulleiter ist dagegen. Nun steht der Lehrer plötzlich vor der Entscheidung, den Erwartungen der Schüler oder  des Schulleiters zu entsprechen, also vor einem Intrarollenkonflikt, den es zu regeln gilt.

Interpersonale Konflikte werden zwischen zwei oder mehr Personen ausgetragen, wenn unterschiedliche Verhaltenstendenzen, Einstellungen oder Haltungen sichtbar werden, die unvereinbar erscheinen. Entsprechend den vorherrschenden interaktionalen Konstellationen gibt es Lehrer-Schüler-Konflikte, Schüler-Schüler-Konflikte, Lehrer-Lehrer-Konflikte, Lehrer-Schulleiter-Konflikte, Konflikte zwischen Schulleitung und Schulaufsicht sowie zwischen Lehrern und Eltern. Ein typischer Lehrer-Schüler-Konflikt liegt vor, wenn ein Schüler während einer Klassenarbeit abschreibt. Schüler-Schüler-Konflikte lassen sich während der Pause auf dem Schulhof beobachten, wenn zwei Schüler sich prügeln. Ein Lehrer-Lehrer-Konflikt bahnt sich an, wenn einer von beiden den ungünstigeren Stundenplan akzeptieren soll. Ein Lehrer-Schulleiterkonflikt liegt vor, sofern sich ein Lehrer weigert, in einer Freistunde wiederholt eine Vertretungsstunde zu übernehmen. Und ein Konflikt zwischen dem Schulleiter und dem zuständigen Schulaufsichtsbeamten bahnt sich an, wenn der Schulleiter es versäumt hat, die angeforderte Statistik fristgerecht zu übermitteln. Eltern-Lehrer-Konflikte treten auf, wenn sich der Unterrichtsausfall häuft, Schüler vor Klassenarbeiten erkranken oder wenn Lehrer fragwürdige Methoden praktizieren. Bei Zentral- und Extremkonflikten gestaltet sich die interaktionale Konstellation allerdings komplexer, weil bald viele Schüler, Lehrer und Eltern über das Ereignis reden und sich mit ihm auseinandersetzen.

Zu den interpersonalen Konflikten gehören auch die Interrollenkonflikte. Ein Lehrer ist schließlich nicht nur seinem Beruf verpflichtet, sondern er ist z.B. auch Ehepartner, Vater, Parteimitglied und Mitglied in einem Verein, d.h., er hat verschiedene Rollen auszufüllen. Erwartungen werden also nicht nur aus dem beruflichen Segment an ihn gerichtet, sondern auch von seiner Frau, den Kindern, den Parteigenossen und Vereinsmitgliedern. Nach dem Unterricht hat er zu entscheiden, welchen Erwartungen er den Vorrang geben soll: Soll ich heute Abend mit meiner Frau ins Kino gehen oder die Klassenarbeit korrigieren? Soll ich mit den Kindern spielen oder mich auf den Unterricht vorbereiten? Diese konkurrierenden Anliegen können verantwortungsbewusste Lehrer erheblich belasten, wenn sie sich immer wieder zwischen beruflichen und privaten Anforderungen zu entscheiden haben (Dahrendorf 1965).

Treten Konflikte innerhalb einer Gruppe auf, handelt es sich um Intragruppenkonflikte. Und folgerichtig lassen sich die Konflikte zwischen Gruppen als Intergruppenkonflikt bezeichnen. Zu den Intragruppenkonflikten zählen die Auseinandersetzungen und Streitigkeiten innerhalb einer Klasse, eines Kollegiums oder der Eltern einer Klasse, wenn sich z.B. die Schüler nicht auf ein Ausflugsziel einigen können, das Kollegium hinsichtlich des Übergangs von Kurzstunden auf Blockunterricht geteilter Meinung ist oder wenn sich die Eltern über ein mögliches Vorgehen streiten, das geeignet erscheint, einen unfähigen Lehrer zur Frühpensionierung zu bewegen. Intergruppenkonflikte sind vorhersehbar, wenn zwei Lerngruppen dasselbe Klassenzimmer benutzen müssen, eine Gruppe das Zimmer verschönert und die andere es umdekoriert.

Konflikte lassen sich in jeder Institution, in jeder Schule, Verwaltung, in jedem Wirtschafts- oder Industriebetrieb beobachten, in Vereinen, Verbänden und Parteien sowie zwischen denselben. Und Konflikte sind in jedem Gesellschaftssystem präsent, in jedem Staat und zwischenstaatlich bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Gedanklich lässt sich eine direkte Beziehung zwischen den in der Schule und im Unterricht auftretenden Konflikten und der Friedens- und Konfliktforschung herstellen.

 

Jeder Konflikt beinhaltet eine Konfliktstruktur, die einfach oder kompliziert sein kann. Einfache Strukturen haben meist einen geringen Aussagegehalt. Wenn z.B. ein Schüler seinen Lehrer provoziert oder die Mitarbeit verweigert oder eine Regel missachtet, sind solche Aussagen so informationsarm, dass man noch nicht viel mit ihnen anfangen kann. Also muss in jedem Fall die Konfliktstruktur vervollständigt werden, um über den Konflikt beraten und ihn analysieren zu können. Bei der Ergänzung können nachstehende Fragen hilfreich sein:

Wer?

Schüler A und Schüler B, beide neun Jahre alt

Was?

prügeln sich

Wann?

in den Pausen, vor und nach dem Unterricht

Wo?

im Klassenzimmer, auf dem Schulhof und dem Schulweg

Wie oft?

täglich, seit Wochen

Ablauf?

fast immer beginnt Schüler A, er ist der Stärkere

Betroffenheit?

die Betroffenheit des Opfers erscheint hoch, verschmutzte und zerrissene Kleidung

Derzeitiger Stand?

Schüler B hat die Streitschlichter aufgesucht, A kommt aber nicht mit. B hat sich bei der Klassenlehrerin über A beschwert. B bezieht daraufhin von A eine besondere Tracht Prügel. B beschwert sich erneut.

Mit diesen Informationen können die indirekt beteiligten Personen – die Klassenlehrerin, die Kollegen, die in der Klasse unterrichten sowie die Mitschüler – schon mehr anfangen. Zwar ist die Konfliktstruktur noch nicht annähernd vollständig, doch bieten sich nun Ansatzpunkte für weitere Fragen, so z.B. nach dem sozialen Hintergrund von A und B, nach dem Beginn der Auseinandersetzungen oder nach dem Verhalten der Mitschüler. In jedem Fall kommt es darauf an, die jeweilige Konfliktstruktur so realistisch und vollständig wie möglich zu erfassen. Vor allem sind Tatsachen von Vermutungen zu trennen. Eine unrealistische Konfliktauffassung   führt zu Fehleinschätzungen hinsichtlich der Konfliktrelevanz und stellt alle Bemühungen um eine Beilegung, Regelung oder Bewältigung in Frage. Sind bedeutsame Elemente der Konfliktstruktur bekannt, lässt sich die betreffende Konfliktsituation beschreiben. In eine Beschreibung können einmalige und auch einzigartige Elemente aufgenommen werden, die den Konflikt in seiner spezifischen Art kennzeichnen. Schließlich ist jeder Konflikt einmalig, wie die in der Situation handelnden Personen.

Leider haben es Lehrer und Schüler nicht nur mit typischen Konfliktkonstellationen oder Konfliktsituationen zu tun, sondern mit mehreren konfliktträchtigen Ereignissen, die sich als Konfliktsequenz oder Konfliktfolge darstellen. Wenn Lehrer mit einem 13-jährigen Problemschüler nicht mehr zurechtkommen, weil dieser häufig die Schule schwänzt, seine Mitschüler immer wieder nachweislich bestiehlt, er oft gewalttätig wird und die Lehrer in unflätiger Weise beschimpft, liegt eine Konfliktfolge vor, die es zu erfassen und zu analysieren gilt. Und eine vergleichbare Konfliktfolge zeichnet sich für den verantwortlichen Schulleiter ab, wenn ein Lehrer häufig fehlt, seine Dienstpflichten verletzt, er sich Schülern und Kollegen gegenüber unangemessen verhält und sich die Klagen der Eltern über diesen Lehrer häufen.

Um die unendlich vielen konfliktträchtigen Ereignisse annähernd zu erfassen, lässt sich das Berufsfeld des Lehrers in einzelne Konfliktfelder untergliedern. Kriterien der Einteilung sind die bedeutsamen interaktionalen Konstellationen sowie die Art der konfliktträchtigen Ereignisse. Die Felder enthalten typische Konfliktkonstellationen, typische Situationsbeschreibungen, Hypothesen zu den Konfliktursachen sowie Leitlinien zur Konfliktprophylaxe. Letztere sind nicht mehr allgemein gehalten, wie in dem Kapitel »Maßnahmen der Konfliktprophylaxe«, sondern beziehen sich nun direkt auf das betreffende Konfliktfeld.

Thesen zur Konfliktproblematik

Die 25 Thesen zur Konfliktproblematik werden im Anschluss an die strukturell-funktionale Theorie (Parsons 1971) und an die Theorie des sozialen Konflikts entwickelt (Dahrendorf 1971). Zwar lassen sich auch entsprechende Thesen im Anschluss an systemtheoretische oder konstruktivistische Überlegungen ausweisen, und bei der Formulierung einiger Thesen wird auch auf diese Modelle Bezug genommen. Die »Theorie des sozialen Konflikts« erscheint dabei unverzichtbar, weil sie die in der Pädagogik vorherrschende »Miteinander-Füreinander-Ideologie« in Frage stellt und diese durch eine realistischere Sichtweise ersetzt. Letztere erscheint in Anbetracht der zahlreichen schulischen Konflikte dringend geboten.

 

Dahrendorf hat das strukturell-funktionale Gesellschaftsmodell und das Modell des sozialen Konflikts gegenübergestellt. Um die Realitätsnähe beider Modelle unter Beweis zu stellen, werden im Anschluss an den Originaltext die zentralen Überlegungen zunächst auf das soziale System der Schule übertragen, um dann die fünfundzwanzig Thesen zur Konfliktproblematik zu entwickeln.