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Schiffer, Eckhard

Warum Tausendfüßler keine Vorschriften brauchen

Intuition. Wege aus einer normierten Lebenswelt

 

Unter Mitarbeit von Heidrun Schiffer

 

 

Impressum

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1. Auflage

©2008 Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal

Umschlagabbildung: Mauritius, Mittenwalde

Konvertierung e-book Zentrale Medien, Bochum

e-book ISBN: 978-3-407-22430-9

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Inhaltsübersicht

Einleitung

Kapitel I Wissen im Augenblick

Kapitel II Intuition – nicht »aus dem Bauch«, sondern aus dem ganzen Menschen

Kapitel III Improvisieren

Kapitel IV Augenblicke der Begegnung

Kapitel V »Words ...«

Kapitel VI Die Fährleute zwischen den Ufern

Kapitel VII An den inneren Wächtern vorbei – Spontaneität, Intuition, Experimentierlust und Authentizität

Kapitel VIII Zauberkraft und Flüchtigkeit der Augenblicke

Kapitel IX Intersubjektivität – Augenblicke des Verstehens

Kapitel X Vorbilder statt Vorschriften

Kapitel XI Wirkungen und Nebenwirkungen von Vorschriften, Tests und Kontrollen – zum Tode einer Lehrerin

Kapitel XII Caritas

Kapitel XIII Über den Augenblick hinaus

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Ein Vogel fragte den Tausendfüßler, wie er es denn schaffe, seine tausend Füße zu koordinieren.

Der Tausendfüßler dachte nach und geriet ins Stolpern.
Der Vogel fraß ihn auf.


Unbekannt

Einleitung

Noch zu seinen Lebzeiten schenkte mir mein Großvater seine prächtige Münzsammlung. Ich war damals noch ein Kind und meine Freunde staunten nicht schlecht und wollten mir gleich einige Teile »abluchsen«. Gegen großväterliche Empfehlungen ließ ich mich aufs Tauschen ein. Und so bekam ich für eine unansehnliche römische Münze einen im Durchmesser sechs Zentimeter großen Kupfertaler, auf dem die unglaubliche Zahl von fünf Millionen Reichsmark stand.

Als ich meinem Großvater voller Stolz davon erzählte, zeigte der sich »not amused«, sondern bekam einen regelrechten Wutanfall, der sonst gar nicht zu ihm passte: »Dein Kumpel hat vermutlich noch einen ganzen Keller voll von diesem Schrott! Das war mal Inflationsgeld und ’n Dreck wert. Und auch Sammler haben daran kein Interesse, weil es viel zu viel davon gab!« Dann beruhigte er sich und wurde wieder der freundliche Mensch, als den ich ihn sonst kannte. Durch die Inflation habe er den größten Teil seines Vermögens verloren, erzählte er mir. Inflation komme aus dem Lateinischen und bedeute soviel wie Aufblasen oder Aufblähen, fuhr er fort. Gemeint sei damit ein schnell zunehmendes Ungleichgewicht zwischen den im Umlauf befindlichen Zahlungsmitteln einerseits und den produzierten Waren andererseits, was diese drastisch verteuere. So, wie es insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war, weswegen man das Ganze ja auch »galoppierende« Inflation genannt habe.

Mein Großvater und sein Zorn auf die galoppierende Inflation fielen mir wieder ein, als meine Frau und ich immer häufiger darauf stießen, wie sich in unseren Fachgebieten, der Pädagogik und Medizin, ebenfalls eine Art galoppierender Inflation zeigt. Nämlich eine Inflation von Leit- und Richtlinien, von Handbüchern, Leitbildern und Qualitätsmanagement, von Evaluationsmaßnahmen, begleitet wiederum von Dokumentations- und Zertifizierungsverpflichtungen. Eine Inflation von Vorschriften, deren zunehmende Ausbreitung die persönliche Glaubwürdigkeit sowie unser eigenes Denken, Urteilen und Handeln an Wert verlieren lässt. »Was Sinn macht«, so eine zeitmodische Formulierung, wird vorgegeben. Schriftlich. Punktum!

Insbesondere in der Pädagogik nach PISA und der Medizin mit ihren chronischen Schwierigkeiten, zu klären, was wie bezahlt werden soll, galoppiert eine muntere Reglementierungsinflation. Aber gerade für schwierige und unübersichtliche Entscheidungssituationen mit einer hohen Kommunikationsdichte reichen Vorschriften alleine nicht aus. Entscheidungen, insbesondere ein gelingendes Krisenmanagement, setzen die Fähigkeit voraus, das nicht bewusste, das heißt implizite Wissen via Intuition in die Entscheidungen mit einfließen zu lassen. Bezeichnenderweise sprachen die Manager des Vattenfall-Konzerns von Kommunikationsschwierigkeiten, die dem misslungenen Krisenmanagement bei dem Störfall des Atomkraftwerks Brunsbüttel im Juni 2007 zugrunde lagen.

Wenn sich verbindliche Reglementierungen schriftlich-explizit immer mehr da breit machen, wo situativ-intuitives Wissen sinnvollerweise seinen Platz hätte, entsteht ein großes Vakuum im Hinblick auf alle möglichen Varianten, die zunächst explizit gar nicht erfasst werden können. Dieses Vakuum soll dann – falls es zum Beispiel rechtzeitig bei einem Probealarm entdeckt wird – mit weiteren Vorschriften gefüllt werden. Das Gleichgewicht zwischen Intuition und schriftlich-expliziten Vorgaben kippt um, die Regelwerke blähen sich immer mehr auf.

Vielen geht es aber gar nicht gut dabei. Kindergärtnerinnen, Ärztinnen/Ärzte, Lehrerinnen/Lehrer und viele andere möchten ihr intuitives Beziehungswissen einsetzen und nicht wie Marionetten fungieren.

Und ein Weiteres noch: Die Reglementierungsinflation mit ihren schriftlich-expliziten Normen verschwendet Ressourcen. Die Verwaltungs- und Dokumentationsarbeit frisst vielerorts, nicht nur in der Pädagogik und Medizin, den eigentlichen Handlungsanteil auf. Und darüber hinaus werden kreative Ideen und Problemlösungen blockiert.

 

Die Ergebnisse der beobachtenden Säuglingsforschung verdeutlichen, dass intuitives Wissen und damit verknüpfte kommunikative Kompetenz bereits schon mit dem ersten Augenblick unseres Lebens erworben werden. Als Erwachsene verfügen wir über ungeheure Kenntnisse, die uns in kürzester Zeit zur Verfügung stehen. Die Auswahl und das Wirksamwerden dieses Wissens erfolgen allerdings nicht bewusst, sondern eben intuitiv. Das Gleiche gilt für unser Einfühlungsvermögen. Auch hier haben die Säuglingsforschung und die Neurobiologie vieles bestätigt, was wir »eigentlich« schon lange wissen, aber bislang nicht ausreichend gewürdigt haben.

Das heißt nicht, dass empathisches und intuitiv gespeistes Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln stets richtig sein müssen. Sie können aber immer treffsicherer werden, wenn unsere Intuition dialogisch – im Dialog mit uns selbst oder anderen – reflektierbar ist. Sei es im Freundeskreis, im kollegialen Gespräch oder in der Supervision. Wenn Intuition im expliziten Dialog reflektierbar ist, kann sie sich als Weisheit zeigen. Ungefähr so wie bei dem alten König Salomon.

Was technische Qualitätsstandards, Deutsche Industrie-Normen und die Kontrolle technischer Großanlagen betrifft, wünsche ich mir schon die höchsten Standards. Aber menschliches Leben ist eben nicht nur normierte Industrieproduktion oder Funktion technischer Großanlagen. Menschliches Leben ist mehr. Das haben sogar die Vertreter der künstlichen Intelligenz erkannt. Was dieses mehr ausmacht, davon handelt dieses Buch.

Kapitel I Wissen im Augenblick

weise / Weisheit / Wissen

aus der indogermanischen Wurzel uoida-: ich habe gesehen, ich weiß (lat. video, vidi, visus: sehen, einsehen, begreifen)

In uns steckt unglaublich viel an Wissen! Wir können darüber augenblicklich und ohne längeres angestrengtes Nachsinnen für unser intuitives Erkennen, Urteilen und Handeln verfügen. Zu den Anwendungs- und Erscheinungsweisen dieses Wissens gehören ebenso die spontanen Improvisationen und der rettende Einfall wie auch Lösungen bei schwierigen Entscheidungen und anderweitigen Problemen. Letzteren kann durchaus ein längeres Nachsinnen vorausgegangen sein, was dann oftmals scheinbar ergebnislos abgebrochen wurde. Dennoch geht es »irgendwie« im Untergrund weiter. Die bewusstseinsfähige Lösung kündigt sich dann zumeist nicht lange an, sondern taucht nach einem nächtlichem Überschlafen plötzlich auf: unter der Dusche, beim Frühstück, beim Radeln auf dem Wege zur Arbeit. Oder die Lösung zeigt sich vor dem Einschlafen. Manchmal ist sie aber auch tagsüber mit anderweitigen, eher beiläufigen Gedanken und Wahrnehmungen ohne weitere Geburtswehen augenblicklich präsent: der Text des schwierigen Briefes, die Raumaufteilung des neuen Hauses, die Partnerwahl ...

In diesen Augenblicken profitieren wir von einem Wissen, das wir in unserem Leben angesammelt haben und das sogar um das sozial vererbte Wissen unserer Eltern und Großeltern bereichert werden kann. Es handelt sich dabei größtenteils um ein Erfahrungswissen. Wir eignen uns dies fast beiläufig an, wenn wir in irgendeiner Form »zu Werke gehen« (lat. procedere). Von daher auch die Bezeichnung prozedurales Wissen.

Das Merkwürdige an diesem prozeduralen Wissen ist, dass es weitgehend nicht-bewusst und ebenso auch nicht an Worte gebunden ist. Teilweise können wir mittels innerer Bilder oder sprachlicher Metaphern auch mehr als nur eine Ahnung davon entwickeln. Schwierig wird es aber oft dann, wenn wir dieses Wissen mit Worten präzise vermitteln, das heißt auf den Begriff bringen wollen. Hierfür ein einfaches Beispiel: Unsere Finger »wissen« ziemlich genau, wie sie die Schleife der Schuhbänder morgens binden müssen. Aber versuchen Sie mal, liebe Leserin, lieber Leser, mit Worten zu beschreiben, wie und mit welchen Fingern Sie eben dies tun ...

Da der Erwerb dieses Wissens mit unserem Tun beziehungsweise Erleben verflochten (lat. implicatio: Verflechtung) ist, das heißt weitgehend ohne belehrende Worte auskommt, gilt hierfür auch die Bezeichnung implizites Wissen. Mit einem etwas herausgeputzten begrifflichen Aufwand sprechen wir dann auch vom implizit-prozeduralen Wissen. Es ist ein Wissen um das Wie-etwas-geschieht. Dies im Unterschied zum Wissen, was es und dass es dieses oder jenes gibt. Bei Letzterem handelt es sich um das bewusste und wortgebundene explizite Wissen (s. Kap. V).

Wenn im Folgenden implizites und explizites Wissen jeweils weitgehend getrennt voneinander dargestellt werden, so geschieht dies aus Gründen der Übersichtlichkeit. Tatsächlich sind jedoch beide Wissensweisen gleichzeitig bedeutsam für uns.

Elemente aus dem implizit-prozeduralen Wissensschatz unseres ganzen Lebens – und das ist unglaublich viel – können grundsätzlich in jedem Augenblick für uns bedeutsam werden. Alles, was wir zum Beispiel an Eindrücken »gesammelt«, das heißt auf einer nicht bewussten Wahrnehmungsebene gesehen, geschmeckt, gerochen, gefühlt und auch an Wortklängen und Satzmelodien gehört haben, kann sich wahlweise je nach Zusammenhang bis ins hohe Alter augenblicklich aktualisieren. So erkennen wir schon aus der Ferne bereits an den Umrissen, dem Gang und dem Lachen, das zu uns herüberweht, wie jetzt mitten zwischen vielen anderen Menschen unser Jugendfreund die Straße entlangkommt. Augenblicklich sind wir im Bilde! Aber nur schwerlich könnten wir mit Worten vermitteln, aufgrund welcher Einzelheiten wir denn den Freund von anderen Passanten auf der Straße eindeutig unterscheiden können.1

Vermöge unseres impliziten Wissens können wir aber nicht nur auf die Ferne hin unseren Freund von anderen unterscheiden, sondern wir spüren auch, wenn wir mit ihm sprechen, was in ihm vorgeht, indem wir seine wechselnden Reaktionen auf das, was wir sagen, wahrnehmen.

»Unser Nervensystem ist so konstruiert, dass es vom Nervensystem anderer Menschen ›verstanden‹ werden kann; aus diesem Grund können wir andere nicht nur mit unseren eigenen Augen wahrnehmen, sondern auch so, als ob wir in ihrer Haut steckten. Potenziell steht uns eine Art emotionaler Pfad offen, der direkt in den anderen hineinführt; wir nehmen an seinem Erleben teil und lassen es in uns widerhallen, und umgekehrt das Gleiche.«2 So weit ein erster neurobiologischer Erklärungsversuch unseres situativen Erlebens, wie er ja heute sehr in Mode gekommen ist.

Dieses implizite Wissen ermöglicht uns also, andere zu verstehen. Allerdings meist nur in dem Umfange, in dem wir selber erfahren haben, verstanden zu werden. Wir können uns auf diese Weise auf unser Gegenüber einstellen, von ihm auch vieles erfahren, was sich eben nicht so ohne weiteres explizit, das heißt mit Worten, erklären lässt. Ohne dieses Wissen könnten wir uns beispielsweise kaum in einer belebten Fußgängerzone bewegen, ohne mit anderen ständig zusammenzustoßen. Dann brauchten wir tatsächlich auf das Pflaster gemalte Leitlinien, die uns zugewiesen würden und von denen wir keinen Finger breit abweichen dürften.

In vielen Lebenssituationen und Berufsfeldern, in denen wir mit Menschen zu tun haben, sind wir mit diesem impliziten Wissen bestens ausgerüstet. Trotzdem gibt es gegenwärtig immer mehr Leit- oder Richtlinien, Standards, Tests und Manuale, die uns vorschreiben wollen, was wir zu tun haben. Hierzu fügt sich auch der Bestsellererfolg eines Buches mit dem Titel »Lob der Disziplin«.3 Dessen Verfasser fordert, die »Macht als Autorität anzuerkennen«. Nach Abzug der Schnörkel heißt das im Klartext, Befehl und Gehorsam als durchgängiges Kommunikationsmuster zu praktizieren! Im Elternhaus, Kindergarten und in der Schule ... Die Folge dessen wäre dann späterhin tatsächlich – z. B. im Berufsleben – eine weitgehende Abhängigkeit von expliziten Leitlinien.

Dabei kann vieles explizit mit Worten gar nicht erfasst werden, was implizit ohne Schwierigkeiten umgesetzt werden kann! Die spontanen Entscheidungen und Improvisationen, die intuitiv, das heißt aus dem impliziten Wissen heraus, entstehen, sind ungemein »wirtschaftlich«. Sie sind schnell und treffsicher, bedürfen nur eines Augenblicks. Sie bedürfen aber auch der Bereitschaft und Fähigkeit zum expliziten Dialog, um sie bei Bedarf kritisch zu reflektieren. Dieser Dialog kann mit anderen, aber auch in uns selbst stattfinden. Die Dialogbefähigung wird von Eltern und Lehrern – dialogisch – vermittelt. Aber wohl kaum im Befehlsmonolog.

Implizites Wissen ist an unsere eigene Erfahrungsgeschichte gebunden, ist sehr eng mit dem Wie unserer Beziehungs- und Selbsterfahrung verknüpft, insbesondere auch mit unseren Gefühlen und unserer Leibhaftigkeit, das heißt mit allen unseren Sinneserfahrungen. Hierin sind auch motorische Fertigkeiten und Gewohnheiten mit eingeschlossen. Das implizite Wissen hat damit Einfluss auf einen Großteil dessen, was unsere Persönlichkeit ausmacht.

Das Wissen und die Kompetenz, die wir aus unserer Welterfahrung, insbesondere aus der intersubjektiven Erfahrung heraus, angesammelt haben, zeigen wir durch unsere Lebendigkeit in jedem Augenblick. Insofern vermitteln wir sie stets auch an ein wahrnehmendes Gegenüber. Wir »vererben« sie insbesondere unseren Kindern, aber auch unseren Patienten, Schülern ... – ob wir es wollen oder nicht. Gleich auch, ob es gute oder schlechte Erfahrungen sind.

Ob wir zum Beispiel bald ohnmächtig werden oder uns besonnen um ein Pflaster kümmern, wenn wir uns in den Finger geschnitten haben und Blut sehen, hängt wesentlich davon ab, wie wir vordem selber als Kinder solche Situationen mit einem erwachsenen Gegenüber durchlebt und wahrgenommen haben. War es ein tröstendes, gelassenes Gegenüber oder war es hektisch und panisch, ekelte sich vielleicht sogar ...?

Dieses Beispiel verdeutlicht auch, wie sinnvoll eine innere Bereitschaft zu einem Dialog über das sein kann, was sich augenblicklich vor unserem impliziten Erfahrungshintergrund immer wieder zeigt. Sind wir über etwas erschrocken, zum Beispiel über eine blutende Wunde, dann hilft der Dialog mit einem vertrauten und wohlwollenden Gegenüber, der nicht nur – explizit – sagt: »He, stell dich doch nicht so an ...«, sondern von dem wir uns auch implizit wertgeschätzt und angenommen wissen und der spürt, was in uns vorgehen mag.

Vieles aus unserem impliziten Wissensschatz heraus ist ungemein nützlich und »zeitökonomisch«. Unseren Vor-Annahmen, Vor-Urteilen und Handlungsmustern liegen stets auch unsere schnell aktualisierten impliziten Erfahrungen zugrunde. Die guten wie die schlechten. Damit nun aus Vor-Urteilen nicht das wird, was wir üblicherweise darunter verstehen, nämlich ein Verklemmen geistiger Prozesse, oft auch eine Erstarrung oder ein Einrosten, bedarf es auch hier der Bereitschaft zu einem inneren und äußeren Dialog über diese Vor-Annahmen und Vor-Urteile.4 Dann kann der Augenblick auch Weisheit im Sinne einer reflektierbaren und reflektierten Intuition freisetzen.

Das Wissen um die »Chancen und Risiken« von Intuition und Spontaneität kann sehr erfrischend sein. Es ermöglicht spontane, aber dennoch bedarfsweise reflektierte Lebensentfaltung ohne Korsettstangen – Letztere in Form von Qualitätsmanagement, Leitlinien, ausufernden Dokumentationsanforderungen oder sonstigen Normierungen. Das Subjekt wird dann nicht zur besseren Verwaltbarkeit auf ein Normalmaß gebracht, sondern kann sich im dialogischen Kontext seinem eigenen Wesen nach entfalten.

Schon seit einiger Zeit wissen wir, dass implizite Informationsverarbeitungsprozesse, das heißt implizites Lernen und Wissen, insbesondere in schwierigen und unüberschaubaren Situationen, in denen zusätzlich schnelle Entscheidungen gefordert sind, dem expliziten Modus eindeutig überlegen sind. Ein erfahrener Gruppentherapeut weiß intuitiv, wie er sich in einer kritischen Situation zu verhalten hat, ebenso, wie eine erfahrene Grundschullehrerin sehr bald weiß, wie sie einen Schüler oder eine Schülerin in ihren Stärken und Schwächen einzuschätzen hat. All dies auch nur annäherungsweise zutreffend und nachvollziehbar schriftlich zu vermitteln beziehungsweise zu dokumentieren wäre trotz eines Maximalaufwandes an »Text« zum Scheitern verurteilt.

Es zeigt sich eine Kluft zwischen intuitiv Erfassbarem und dem mit begrifflicher Genauigkeit Beschreibbaren. Letzteres lässt sich dokumentieren. Ersteres nicht ohne weiteres – jedenfalls nicht immer als sinnvolle Übung. Auch wenn man eine Gruppensitzung filmen würde, dokumentierte sich in dem Wie der Handlungsabfolgen immer nur die Spitze des Eisberges. Und die verbale Interpretation dessen, was unter der Wasseroberfläche ist, erfasste ohne implizites Beziehungswissen auch nur einen Teil davon.

Vielen der zeitgenössischen Normier- und Kontrollbestrebungen haftet – wie immer auch sie begründet sein mögen – sofort ein Geburtsfehler an, wenn sie implizite Prozesse explizit erfassen wollen. Es gelingt eben nicht das, was vor 250 Jahren Immanuel Kant als das Erfolgsrezept der Naturwissenschaftler beschrieb: nämlich reproduzierbare (wiederholbare) und damit – von anderen – überprüfbare Erkenntnisse zu gewinnen, indem die Natur vom Wissenschaftler genötigt wird, nur auf die Fragen zu antworten, die der Wissenschaftler ihr im Experiment stellt.

Genau dieses Schema gilt übrigens auch für die industrielle Reproduktion. Wie im naturwissenschaftlichen Experiment wird unter definierten und damit kontrollierbaren Bedingungen etwas hergestellt. Und die Produkte, die auf diese Weise in einem bestimmten Fertigungsgang entstehen, sind nach Form und Inhalt identisch, egal an welchem Ort, von welchen Menschen unter denselben Bedingungen reproduziert wird.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob das, was in den letzten Jahren unter der Flagge Qualitätsmanagement, Controlling oder Einführung von definierten Standards segelt, nicht auf eine Industrialisierung zwischenmenschlicher Beziehungen in Institutionen wie Arztpraxen, Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten und Universitäten abzielt. »Vieles, was so unter dem Titel der Effizienzsteigerung zur Reform des Bildungswesens unternommen wird, gehorcht schlicht dem Prinzip der Industrialisierung.«5

Wenn wir mit unserem Wissen – implizitem wie explizitem – das Bestmögliche anfangen, dann sollten wir auch eine Vorstellung davon haben, wie es »funktioniert« und brauchen nicht drei- oder viermal jährlich die künstliche Aufregung durch die OECD mit ihren gebetsmühlenartigen Warnungen vor angeblich zu wenig deutschen Abiturienten und Studenten. Wir bedürfen keiner »hysterischen Quartals-Testeritis«, wie es der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Kraus formuliert hat, der von der Kultusministerkonferenz eher eine Diskussion darüber erwartet, was Schüler heute denn konkret lernen sollen. Bildung dürfe sich nicht auf durch PISA messbare Standards beschränken. »Lasst euch auf eine Debatte um Kerncurricula etwa in der Literatur, in der Geschichte, in der Kunst, in der Musik ein«, riet Kraus den Kultusministern.6

Implizites Wissen lässt sich nicht industrialisieren. Vielmehr kann es sogar dem im Industrialisierungsprozess gefangenen Subjekt wieder Bedeutung verleihen.

Augenblicke

Von Jorge Luis Borges (Argentinien, 1899–1986)

 

Wenn ich noch einmal mein Leben leben könnte,
würde ich im nächsten Leben versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht versuchen, so perfekt zu sein;
ich würde alles entspannter angehen.
Ich wäre verrückter, als ich es gewesen bin;
tatsächlich würde ich sehr wenige Dinge ernst nehmen.
Ich würde mich weniger um Hygiene kümmern.
Ich würde mehr Risiken eingehen, (...)
würde mehr Abenddämmerungen betrachten, würde mehr Berge
erklimmen,
würde in mehr Flüssen schwimmen.
Ich würde an mehr Orte gehen, an die ich nie gegangen bin,
würde mehr Eis und weniger Bohnen essen. (...)

 

Ich war einer von den Menschen, der jede Minute seines Lebens
besonnen und äußerst produktiv gelebt hat.
Selbstverständlich kannte ich fröhliche Augenblicke.
Aber, wenn ich zurückkehren könnte, würde ich versuchen, nur
schöne Augenblicke zu erleben.
Denn, falls ihr es nicht wisst: Nur daraus besteht das Leben:
aus Augenblicken.
Verliere nicht das Jetzt!
Ich war einer von denen, die nie irgendwohin gingen ohne
Thermometer, Wärmflasche, einen Regenschirm und einen
Fallschirm.

 

Falls ich nochmals leben könnte, würde ich
mit leichterem Gepäck verreisen.
Wenn ich nochmals leben könnte, würde ich bei Frühlingsbeginn
anfangen,
barfuß zu laufen,
und ich würde das bis zum Ende des Herbstes beibehalten.
Ich würde öfter Karussell fahren, würde mehr
Morgendämmerungen
betrachten
und würde mit mehr Kindern spielen,
wenn ich noch einmal mein Leben vor mir hätte.

 

Aber, was soll’s, ich bin schon 85 Jahre und weiß, dass ich bald
sterben werde.

Kapitel II Intuition – nicht »aus dem Bauch«, sondern aus dem ganzen Menschen