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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich

THEORETISCHE PHILOSOPHIE

Die Wirklichkeit des spekulativen Denkens

Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ

Ich begrüße Sie zur ersten der sechs Vorlesungen mit dem Thema „Metaphysik“. Der Begriff Metaphysik ist vielen vermutlich unbekannt. Es ist kein Schulfach wie die Physik oder andere Fächer, die wir gemeinhin schon in jungen Jahren kennen lernen. Und man verbindet damit oft etwas Esoterisches, vielleicht sogar etwas Unwissenschaftliches. Aber das ist sicherlich nicht der Fall. Die Metaphysik ist der Versuch, auf die allgemeinsten und grundlegendsten Fragen über die Strukturen der Wirklichkeit mit wissenschaftlicher Strenge Antworten zu finden. Die Metaphysik liefert uns sogar Weltbilder, große zusammenhängende Bilder dessen, was überhaupt wirklich ist.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Den Gegensatz zwischen einem „physikalistischen“ wie wir heute sagen, früher hätte man gesagt „materialistischen“ Weltbild, im Vergleich zu einem „idealistischen“ Weltbild. Beide beruhen auf metaphysischen Annahmen. Wir haben sie nicht direkt aus der Erfahrung gewonnen wie die Naturwissenschaften, sondern es ist eine spekulative Gesamtsicht der Wirklichkeit. Der „Materialist“ oder „Physikalist“ sagt, dass die Wirklichkeit letztendlich nur aus materiellen Partikeln oder Teilchen besteht. Und diese unterste Ebene der Materie legt alles andere, was es gibt, fest. Alles andere fährt sozusagen nur Huckepack auf der Verteilung der Teilchen. Dazu gehören auch die Lebewesen, die Personen, die sind nichts anderes als komplexe Anordnungen von solchen Teilchen. Es gibt in der Welt keinen Geist, es gibt keine objektiven Werte, es gibt keinen Sinn und kein Ziel. Die gesamte Wirklichkeit ist eigentlich nur die Bewegung von Teilchen in Raum und Zeit.

Ein idealistisches Weltbild wird dahingegen behaupten, dass die physikalischen Fakten nicht alle Fakten festlegen. Es wird behauptet, dass es nichtphysische und nichtmaterielle Entitäten, also Seiende, gibt und dass wir nicht alles, was es gibt, vor allen Dingen die geistigen Phänomene, auf rein Materielles zurückführen, also reduzieren können. Und es wird weiterhin in diesem Weltbild manchmal behauptet, dass es objektive Werte gibt, dass es Ziele gibt, dass es eine geistige Realität gibt, die wir mit unserer Vernunft erfassen können und die wir nicht direkt sinnlich wahrnehmen können.

Eine bekannte Variante einer solchen Weltsicht ist natürlich die religiöse Weltsicht, wo behauptet wird, dass jenseits des beobachtbaren Kosmos noch eine transzendente Realität existiert, die die Religionen „Gott“ nennen.

Jeder wird zugeben, dass diese Weise, die Welt zu interpretieren, zu den fundamentalsten geistigen Herausforderungen eines jeden intellektuell bewusst geführten Lebens gehört. Jeder Mensch wird sich im Laufe seines Lebens über diese Frage selbst vergewissern und sich fragen: Wie sehe ich das eigentlich? Habe ich eine materialistische Weltsicht oder keine materialistische Weltsicht? Halte ich es für vernünftig, an eine transzendente Realität zu glauben, halte ich das für unvernünftig?

Diese Fragen nach den allgemeinsten Strukturen der Wirklichkeit sind metaphysische Fragen. Und die These der Metaphysik ist es, dass diese Fragen keine reinen Geschmacksfragen sind, sondern dass man mit der großen Geschichte der Philosophie und auf ihr aufbauend Methoden hat und Methoden entwickelt hat, diese Fragen vernünftig und rational anzugehen.

Wir müssen diese Weise des Vorgehens der Metaphysik absetzen von den rein empirischen Fragen, wie wir sie in den Naturwissenschaften zunächst vorfinden.

Die Physik arbeitet mit dem Experiment, der Beobachtung: Die Natur wird befragt, indem ich sie im Experiment um eine Antwort bitte. Einen Test sozusagen durchführe. Die Metaphysik arbeitet nicht mit dieser Methode der Empirie. Ihr nächster Verwandter ist eine Wissenschaft, die Sie alle kennen, weil man in der Schule nicht darum herum kommt, nämlich die Mathematik.

Die Mathematik arbeitet nicht mit der Sinnenerfahrung, also, wie die Philosophen sagen, sie ist nicht a posteriori, sondern sie ist reine Begriffsanalyse oder wie die Philosophen sagen a priori. Ist die Metaphysik eine Geisteswissenschaft?

Das ist eine gute Frage. Oft sagt man, die Philosophie ist eine Geisteswissenschaft. Aber die Unterscheidung von Natur und Geisteswissenschaften macht bei der Philosophie in gewisser Weise wenig Sinn. Warum ist das so?