Buchcover

Robert Heymann

Die Narrentour der Liebe

Roman

Saga

Er hiess Johannes und war Pierrot. Wenn er allabendlich im Zirkus auf der Münchner Theresienwiese zwischen den zwei Attraktionsnummern: der blonden polnischen Kunstreiterin und dem grossen Dressurakt, auf dem Drahtseil seine halsbrecherischen Spässe machte, wenn er zur Laute sang, lachte, heulte und weinte, dann gelang es ihm an manchen Abenden, weniger durch seine Künstlerstücke als durch den Zauber seiner Persönlichkeit, das Publikum bis zur Raserei aufzustacheln.

Und in der Tat war Johannes oder Jean, wie er sich nannte, der Pierrot, kein schlechterer Hanswurst wie sein berühmter Lehrer Gaspard Debureau, und hätte Theophile Gautier ihn noch gesehen, so würde er auch von ihm gesagt haben, dass er, obgleich nur ein Harlekin, doch der vollkommenste Schauspieler sei, den er je kennengelernt.

Jean war nicht nur Drahtseilkünstler; indem er sich für seine Person kleine pantomimistische Szenen ausdachte, in denen er alsbald einige Statisten als Helfershelfer verwendete, erhob er eine schon halb abgetane und verachtete Fertigkeit zu einer wahrhaftigen künstlerischen Bedeutung und wurde, ohne es selbst zu ahnen, ein Meister des artistischen Stils, der allerdings erst für die grosse Öffentlichkeit noch entdeckt werden musste.

Jean hätte längst sein Engagement an diesem primitiven Wanderzirkus, wo man ihn schlecht bezahlte und seine Existenz stets eine fragwürdige blieb, gegen glänzende Stellungen an Varietés oder einem der ersten Schauunternehmungen des Kontinents vertauschen können, wenn er die Fähigkeit besessen hätte, auch als Mensch etwas aus sich zu machen. Doch furchtsam gegen das Leben, das er täglich auf seinem Drahtseil verspottete, indem er den Tod herausforderte, war er zu sehr Harlekin um sich von einer Leidenschaft zu befreien, die ihn seit dem ersten Auftreten der kleinen Choristin Mie ergriffen. Mie hiess eigentlich Marie und entstammte der Vorstadt. Sie fiel kaum auf in dem Schwarm junger und leidlich hübscher Mädchen, die die Not zusammengewürfelt hatte und die Abend für Abend als Prinzessinnen oder Feen in schillerndem Flitter die lebendige Staffage für die märchenhafte Handlung eines Ausstattungsstückes bildeten. Alle Versuche des Pierrot sich Mie mit Erfolg zu nähern, waren bis jetzt vergeblich gewesen. Sie betrachtete ihn mit derselben misstrauischen Scheu, mit der ihre grossen und frühkranken Kinderaugen alles in der Welt beobachteten, und sicherlich gehörte sie zu denen, von welchen der Stallmeister Lumière, der eigentlich Meier hiess, behauptete, man müsste sie nehmen, wie man Margueriten oder Schmalzblumen pflückt, ohne lange zu fragen.

Pierrot brachte das nicht über sich. Er verehrte sie mehrere Wochen zum nicht geringen Vergnügen der Stallknechte, die sich dieses unreifen Kindes wegen noch nicht einmal die Mühe einer kleinen Anstrengung machen wollten.

Eines Tages aber begab es sich, dass Mie von ihrem dem Trunk ergebenen Vater aus dem Hause gejagt wurde und allein in den Strassen Münchens herumirrte, ohne ein Obdach zu finden. Die Vorstellung des Zirkus war schon gegen elf zu Ende, Mie aber trieb sich noch um ein Uhr in der belebten Nähe des Bahnhofs umher, ohne die Gefahr zu ahnen, in der sie schwebte. Sie floh instinktiv vor allen rohen und lüsternen Scherzworten, mit kindlicher Gelenkigkeit den Fangarmen des Lasters entgleitend, das in den hell beleuchteten Strassen geschäftig seine Netze auswarf.

Vielleicht wäre dieser Abend verhängnisvoll für Mies späteres Leben geworden, wenn sie nicht jedem Schutzmann schon von weitem aus dem Wege gegangen wäre. Dies geschah ohne sichere Absicht und rein aus Gewohnheit. Denn in jener dunklen Welt, aus der sie, wie die Motte zum Licht zu einem trügerischen Glanze aufgekrochen war, galt alles, was aus dem anderen Leben jenseits des Flusses kam, als feindlich und hassenswert, oder, je nachdem die Machtverhältnisse verteilt waren, als gefährlich.

Dieses nämlich war Mies Heimat: irgendwo ein finsterer, lauernder Winkel, eine unheimliche, atembeklemmende Nacht, ein brütendes Chaos von Finsternis, ein Abgrund, der nie ergründet werden wird. Es genügt nicht, zu sagen: dort wohnt die Armut; oder von dort kommt das Laster. Dort sammeln sich die gärenden Säfte, die wie feurige Kometen durch die undurchsichtbare Dunkelheit kreisen, diese Purpurfäden, die sich ewiglich von der Spindel eines ungeheuerlichen Hasses lösen und die dieser Winkel eines Tages ausspeit, dass sich das zündende Garn als brennende Wolke über den Himmel ergiesst, um als Blutregen auf die Erde niederzugehen.

Dieses zusammen: Armut und Gier, lauernde Wildheit, träger Stumpfsinn, lüsterner Vernichtungstrieb und eine stammelnde Sehnsucht nach einem Zipfel des verlorenen Paradieses, all dies zusammen ist die Vorstadt.

Dort sammeln sich die Revolutionen, ehe sie marschieren. Von dort aus gleiten wie Irrlichter, die aus dem Sumpf steigen, die in Liebeshass und Rausch gezeugten, mit Sumpfgas und brennender Brunst gesättigten Lusttiere derer, die im Lichte leben.

Das ist nicht die Vorstadt, was wir sehen: die sinnenden, nickenden kleinen Häuser mit den blinzelnden Fensterscheiben, über denen der Mond in stiller Winternacht steht oder ein blassblauer Sommerhimmel sich spannt. Diese roten Fensterscheiben sind lauernde, giftige Augen, die sich suchend in die Nacht bohren und Laster speien. Und die engen, schmutzigen Gassen sind wie die Eingeweide eines schwangeren Bauches, der plötzlich aufspritzt und Vernichtung in das abgezirkelte Gebilde der Sattheit und Vornehmheit jenseits des Flusses schleudert. —

Mie fühlte sich mit der Vorstadt wenig verwachsen. Sie sehnte sich keineswegs nach dieser Heimat, aus der sie der Vater ausgestossen. Sie schlich einfach mit ihrem primitiven Selbsterhaltungstrieb in den Gassen des Bahnhofsviertels umher, als ihr in der engen Schillerstrasse ein hagerer Mensch in einem schwarzen Mantel begegnete, der für sein Alter merkwürdig eckige und müde Bewegungen hatte.

Er tat weder verwundert noch erschrocken, als er Mie ganz gegen alles Erwarten hier in der Stadt traf. Er fragte nur:

„Wie kommst du denn hierher, Kleine?“

„Ich habe keine Wohnung,“ erwiderte sie ziemlich gleichmütig.

„Ah, das ist fatal.“

Sie lächelte gedankenlos. „Es ist schlimm. Denn ich bin hungrig und schläfrig.“

„Aber du kannst doch nicht die Nacht hier aussen bleiben!“

Sie schwieg. Er atmete schwer. Sie wusste nicht, wie es kam, dass er ihr plötzlich viel jünger erschien als sonst.

„Willst du zu mir heraufkommen?“

Sie nickte. Sie dachte sich nichts dabei; sie hätte sich vermutlich auch nichts gedacht, wenn er sie noch mehr gefragt hätte.

Er blickte in ihre Augen. In der Dunkelheit und unter dem grauen Schal schimmerten sie wie zwei helle Sterne.

„Komm,“ sagte er kurz und heiser.

Der veränderte Ton, sein Wesen stimmten sie nachdenklich. Aber sie folgte willig in das dunkle Haus und wartete fröstelnd in der Finsternis, bis er ein Streichholz entzündet hatte, um ihr den Weg zu weisen. Sie gingen durch einen stillen Hof und dann über knarrende Treppen.

Er hatte ein seltsames Lächeln aufgesetzt.

Er öffnete irgendeine Türe und bedeutete Mie, leise zu gehen. Sie traten in ein dunkles Zimmer mit allerhand Kram, wie Mie meinte: Muttergottesbilder und Kränze und Blumen und nackte Frauengestalten, die lüstern aus dunklen Teppichen und zarten Schleiern hervortraten. Sie dachte bei sich, was für zornige Augen ihr Religionslehrer machen würde, wenn er all das zu Gesicht bekäme.

Schweigend liess sie sich auf das kalte Sofa nieder und sah zu Boden. Jetzt erst kam ihr zum Bewusstsein, dass sie mit einem Manne allein in einem fremden Zimmer war. Pierrot entzündete die Lampe.

Nun nahmen die Dinge einen wärmeren Ton an. In dem halbblinden Spiegel zeichnete sich der Schatten Harlekins ab. Er konnte sich auch im gewöhnlichen Leben nicht von jenen ruckweisen und bizarren Bewegungen befreien, die das Publikum im Zirkus zum Lachen reizten, weil sie voll tragischer Gesten steckten.

„Du bist hungrig, Kleine?“ fragte er mit einer Stimme, die wie eingerostet klang.

„Ja. Ich bin hungrig.“

Er trat an den Ofen, machte Feuer und setzte den Tee auf. Dann holte er, ohne weiter etwas zu sagen, Aufschnitt und eine Flasche Wein.

Mie beobachtete ihn verstohlen. Sie empfand Dankbarkeit. Seine Geschäftigkeit ihretwegen rührte sie.

Pierrot war endlich mit seinen Vorbereitungen zu Ende und deckte den wackligen Tisch.

„Nun iss, Kleine,“ sagte er, wie man zu einem Kinde spricht. Dabei war er zärtlich um Mie bemüht. Er legte ihr den eigenen Mantel um die Schultern, denn es war kalt, das spärliche Feuer konnte das Zimmer nicht gleich durchwärmen. Durch das halbverhängte Fenster sah man den Schnee von dem gegenüberliegenden Hausdach herüberschimmern.

Mie ass und lauschte dabei heimlich in sich hinein. Da regte sich etwas Seltsames. Ihr wurde warm. Die Zärtlichkeit des Harlekins heizte ihr armes, kaltes Herz, das bis dahin nur Hässliches und Bitteres erfahren, und liess eine schwache Glut aufglimmen, die rasch um sich griff.

Ihre Wangen wurden rot, und sie begann freudig und aufgeregt zu sprechen.

Es ist der Wein, dachte Harlekin und versenkte sich völlig in den Anblick des unschuldigen Kindes, das mit glänzenden Augen erzählte. Von der um kargen Lohn schaffenden Mutter, dem Vater, der sich eine Geliebte hielt, und den die Mutter früher oder später auch hinausjagen würde, wie er sie verstossen. Von den Brüdern und ihren schlimmen Reden, ihren roten Hoffnungen und ihrer Kraft.

„Es ist so enge bei uns draussen in der Au. Die Gänse und Enten laufen dort in den Strassen umher und nehmen Bäder in dem schmalen Mühlbach. Die Häuser sind so klein, dass ein grosser Mann beinahe in den ersten Stock schauen kann. Aber es ist warm und gemütlich bei uns. Der kleine Ofen, die Kommode und die Betten füllen jeden Raum so völlig aus, dass für nichts anderes mehr ein Winkel übrigbleibt. Und wenn der Winter kommt, dann klebt Mutter die Fenster mit dickem Packpapier zu, so dass die Wärme bis zum Frühling nicht aus dem Zimmer kam. — Es ist schön zu Hause ...“

Sie war schläfrig und lächelte müde.

„Es ist die Heimat,“ murmelte der Harlekin. Er zündete sich eine Zigarette an und sah eine Weile schweigend vor sich hin. Sein glatt rasiertes Gesicht zeigte schiefe Falten. Er sah alt aus. Er dachte an eine gute Bürgerstube im Norden, einen grauköpfigen Mann mit vielen Furchen und Falten und einem von der Last der Ergebung unter das Herkommen gebeugten Rücken. Und an eine alte Mutter, die sich blind weinte um den verstossenen Sohn, der Akten schreiben und als anständiger Mensch hätte leben sollen, aber über Nacht davonlief, weil ihn das Heimweh packte. Das Heimweh nach einer grossen, weiten Heimat.

„Mich friert,“ sagte Mie und blickte ihn herausfordernd an. Etwas Drängendes war in ihr. Sie hatte das Verlangen, sich anzuschmiegen und Wärme zu fühlen.

Er näherte sich ihr schüchtern und setzte sich neben sie. Sie lachte scheu und unbeholfen und drückte sich an ihn.

Die Wärme ihres jungen, frischen Körpers berauschte ihn. Er schlang die Arme um sie und zog sie an sich. Eine dunkle Sehnsucht pochte von einem zum andern und lockte im Blut.

„Du solltest nicht so einsam sein,“ sagte Pierrot, um etwas zu sagen, und sie nickte, weil sie keine andere Antwort darauf wusste.

„Ich würde ... ich möchte gerne ... dir etwas sein ... dich schützen ... dich bewahren ... denn ich liebe dich.“

Sie horchte auf und dachte nach.

Liebe ... und horchte nach innen auf einen seltsamen Glanz, der da tönend aufbrach. Sie schlang die Arme um ihn und schmiegte sich schnurrend wie eine Katze an seine Brust. Es konnte nicht anders sein, denn sie tat es, ohne sich dessen bewusst zu werden.

„Ich habe dich lieb,“ wiederholte er.

Sie fühlte, dass es so war. Ein Glückschauer durchrieselte den jungen Leib, dem das Laster nichts von der naiven Reinheit der Unschuld hatte nehmen können.

Er stammelte viel und sprach wie ein leise hinmurmelnder Bach.

Sie lauschte und trank die Worte und wurde bleich vor Erwartung, aber sie sagte nichts, als er sie in die Arme nahm, sie bebte nur.

Da fiel sein Blick zufällig auf die Madonnen und die nackten Weiber an der Wand, und er stand so schnell auf, dass Mie beinahe zu Boden stürzte.

„Es ist spät.“

Sie sah ihn verlegen an und wusste nicht, was sie tun und sagen sollte.

„Es ist Zeit, dass du dich zur Ruhe begibst, Mie.“

Sie nickte gehorsam.

„Ich werde auf dem Teppich schlafen und dir mein Bett abtreten.“

„Warum willst du nicht bei mir schlafen?“

Er sah sie erschrocken an, wie einer, dem vor einem Altar das Allerheiligste bricht. Aber in ihren kindlichen Zügen stand nichts zu lesen als eine stille, klare, unbewusste Liebe.

Da er nicht antwortete, suchte sie nach einem Winkel, in dem sie sich, bis sie entkleidet war, verkriechen konnte. Aber dieser enge Raum bot keine verschwiegene Ecke.

„Ich werde mich umdrehen, bis du so weit bist,“ sagte Harlekin und machte sich am Tisch, mit dem Rücken gegen das Bett gewandt, zu schaffen.

Da entkleidete sie sich schnell, streifte die fadenscheinigen Röcke und die Strümpfe mit vorsichtigen Händen von den Gliedern, damit kein Rascheln an sein Ohr dringen sollte.

Denn nun schämte sie sich.

Schliesslich glitt sie ins Bett.

Mit einem Wohlgefühl ohnegleichen schlüpfte sie in die ungewohnten Daunen und zog das Linnen bis zum Kinn.

Pierrot wandte sich langsam um. Er war bleich. Das leise Raunen der Röcke, das Rascheln der Kissen hatte ihn fieberhaft erregt. Der Atem stockte ihm und eine bleierne Schwere lag in seinen Gliedern. Er trat an ihr Bett. Sie legte die weichen Arme, die herbe und eckig wie die eines Knaben waren, plötzlich um seinen Hals.

„Du ... du ...,“ stammelte sie und umschlang ihn. Der Duft ihres Körpers warb in seinen Sinnen. Es war ein weicher, süsser Odem wie von reifen Pfirsichen.

Ihre Augen schimmerten matt, aber durch den Schleier der Müdigkeit brannte ein seltsam helles Licht. Seine Pulse hämmerten. Er hob sie aus den Kissen und presste sie an seine schmale Brust.

„Ich hab dich lieb, du ...“

Da krallte eine wilde Angst sich in ihr Herz. Sie bäumte sich hoch und schrie leise auf, am ganzen Körper zitternd, bebend vor Furcht und doch willenlos verfallen.

Von einer atemlosen Hingabe erfasst, stammelte sie noch etwas, einen Hauch der Sehnsucht, der Liebe ...

„Nein, nein, nein,“ sagte Harlekin mit dem begütigenden Tone, den man gegen ein Kind anwendet. „Nein, nein ...“

Und so schliefen sie ein.

Harlekin sass still und litt und wachte über ihren Schlaf. Mie fühlte seine Nähe und atmete das Glück seines Besitzes. Und während sie leise schlief, vollzog sie im Traume ihre Vereinigung mit Pierrot, obgleich sie bis jetzt weder das Wesen der Liebe kennengelernt noch die Keuschheit ihres Leibes eingebüsst hatte.

Es war Johannes unmöglich, Mie zu berühren. Dieser Artist, der seine kranke Sehnsucht zwischen Heiligenbildern und Legenden von Correggio, Fra Bartolommeo und Schwind, zwischen weichen, schimmernden und wollüstigen Stoffen und den pikanten Chansonetten Fragonards vergrub, liebte zum erstenmal, und da, der innersten Natur seiner Gauklerseele entsprechend, eine Heilige. Es war ihm gleichgültig, wer Mie war, wie sie sich gab und ob man ihn verlachte. Er, der auf seinen Wanderungen Rousseau und Goethe, Verlaine und sogar Tibull mit sich schleppte, war zu klug, um nicht über Mies weiteres Leben besorgt zu sein, um nicht zu befürchten, dass sie, erst einmal Weib, ihm verloren war.

Aber es war ein Bedürfnis seines Lebens und seiner Kunst, zu entsagen, wo andere genossen, so, wie er leiden musste, um zu leben.

Mie war von jener Nacht an eine zärtliche, anschmiegende und ergebene Geliebte, die nur scheu und furchtsam jede natürliche Berührung mit Pierrot vermied. So, wie er ihre Liebe geweckt, blieb sie und erfüllte den aufblühenden Kinderkörper mit dem Zauber einer ungewissen Wollust, einer unsicheren Sehnsucht, die sich so gab, wie Harlekin es wünschte. Indessen bekam Johannes den Zirkus alsbald satt. Seine seltsame Kunst kam um so weniger zur Geltung, als ein neuer Clown mit den abgedroschensten Witzen und einer verblüffenden Handfertigkeit das Publikum zu begeistern verstand. Der Harlekin fühlte, dass in ihm ein schon gestorbener Zug der Tragödie wiedergeboren wurde, dass er der Vater einer neuen Kleinkunst war, die noch nicht den rechten Boden und die praktische Wirkungsstätte gefunden.

Vorläufig war er aber noch nicht imstande, sich vom Drahtseil zu trennen. Er beredete Mie, mit ihm zusammen ein Engagement nach Wien anzunehmen. Sie war bereits seine Schülerin geworden und lernte willig und eifrig auf dem Drahtseil dieselben pittoresken Kunststücke ausführen, mit denen Johannes seine possierlichen Spässe einleitete. Zuerst war ihr der Zirkus als das Paradies erschienen, das auch ihr eine glänzende, schillernde Zukunft versprach. Die blonde Kunstreiterin aus Polen hatte es ihr angetan. Obgleich die Baronin von Padrozewsky sie gar nicht beachtete, war sie immer in ihrer Nähe. Eine unerklärliche Sympathie beherrschte sie für die elegante Reiterin, seitdem sie sie einmal in der Garderobe in Tränen überrascht hatte. Als sie aber erfuhr, dass die Polin, die die Mätresse eines reichen und vornehmen Wiener Aristokraten war, ihre Gunst zu gleicher Zeit an ihren Stallknecht verschenkte, da fühlte Mie einen Schwindel und einen bitteren Geschmack im Munde. Sie wollte nicht daran glauben, weil sie es nicht begriff. Jack, der Stallknecht, der seine Geliebte während ihrer Produktion keinen Moment aus den Augen liess und jede ihrer Bewegungen mit einem heisslauernden Blick verfolgte, war ein Neger von gemeiner Rasse, mit stumpfer, breitlaufender Nase und schmutzigen Pupillen, der bei jeder Gelegenheit die Harmonie seiner Muskulatur erprobte und bei seinen Kameraden ebenso gehasst wie gefürchtet war. Johannes sprach etwas von der Allmacht des Bizeps und machte gelegentlich eine spöttische Bemerkung, die Mie nur halb begriff. Aber seitdem sie diese unfassliche Entdeckung gemacht, begann sie sich vor der Welt, die sie umgab, zu fürchten. Die rohen Spässe der Stallknechte erschreckten sie jetzt, und schliesslich sah sie als Symbol dieses Paradieses nur mehr die Peitsche, die abends im Lichterglanz paradierte und bei den Proben schmerzhaft genug auf manchen jungen, gekrümmten Artistenrücken niederfuhr. Sie wurde Zeuge der Misshandlungen und Schmerzen unter denen, die zu diesen halsbrecherischen Künsten erzogen wurden, um abends ein gedankenloses Publikum zu entzücken. Sie hasste Vater Selterini, der eine italienische Springertruppe führte, so leidenschaftlich, dass sie nur zitternd und mit heissen, nassen Augen die Proben verfolgen konnte, wenn er seine Söhne, angekaufte Sklaven der Armut, mit dem Stock peinigte, bis der letzte Odem der Todesfurcht ihren trockenen Lippen entfloh.

Johannes war ihr ein milder und gerechter Lehrer.

„Es geht auch so“, sagte er lächelnd, wenn er sie mit unermüdlicher Geduld immer wieder zu einer schwierigen Übung antrieb. „Die Artisten sind unvernünftige Leute. Hunde, die man dressieren will, darf man nicht schlagen. Die Menschen aber behandeln sich unvernünftiger als die Tiere.“

Endlich war Mie so weit, dass sie von Pierrot in sein Programm eingereiht werden konnte. Johannes löste seinen Kontrakt und reiste mit ihr nach Wien, um im Zirkus Avanti ein Gastspiel zu geben.

Einige Tage ging alles vortrefflich. Mie eignete sich im Fluge die Technik ihres Lehrers an, weil sie ihn liebte.

Sie schliefen zusammen in einem Hotel, Zimmer an Zimmer. Aber noch behielt ihre Freundschaft die gleiche Form wie am ersten Tage. Mie war es zufrieden, dachte wohl auch kaum weiter darüber nach, bis sie eines Abends, in einer Pause, in der sie im Foyer stand, ein Briefchen zugesteckt erhielt:

„Mein Fräulein! Ein Herr, der durch Ihre Kunst entzückt, durch Ihre Schönheit aber noch weit mehr begeistert ist, bittet Sie, ihm Gelegenheit zu geben, Sie kennen zu lernen. Er würde nichts scheuen, sich Ihnen gefällig zu erweisen, und wäre es nur, um als Dank ein einzigesmal die Lippen auf Ihre Füsse pressen zu dürfen, auf diese Beine, die vollendete Kunstwerke sind und selbst Boucher zu einer zweiten Sylvia begeistern würden. Erteilen Sie Ihre Antwort, teuerste Grazie, alsbald

Ihrem ergebenen Baron Lichtensteig.“

In der Nachschrift beschrieb er genau, wo er während der Vorstellung seinen Sitz hatte. Mie war während ihrer Nummer zerstreut und verwirrt, so dass sie den Tadel ihres Freundes herausforderte. Mit dem scharfen Instinkt der Eifersucht folgte er sofort der Richtung ihres suchenden Auges und entdeckte in einer der vordersten Logen einen Kavalier, dessen Lächeln unter dem blonden Schnurrbart an Mie klebte, und dessen Augen sich an ihren Bewegungen festsaugten. Pierrot wurde unter der weissen Schminke bleich wie der Tod. Er streute geschickt in seine Produktion neue Nuancen ein, die Mie zwangen, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Drahtseil zu verlegen, wollte sie ein Unglück verhindern.

Pierrot war nie so burlesk, so verrückt ausgelassen wie an diesem Abend. Das Publikum, das sich der neuen Attraktion gegenüber bisher ziemlich kühl verhalten hatte, klatschte brausenden Beifall, den Johannes mit einem hohnvollen Lächeln beantwortete. Während das Drahtseil abgebrochen wurde und Mie sich noch neben ihrem Freunde in der Manege verneigte, purzelten schon die beiden Clowns mit einem Esel herein, um die kleine Pause auszufüllen, und knapp, dass sie das Publikum durch einige rohe, unmotivierte Scherze mit Ohrfeigen und Situationswitzen zum Lachen gereizt, erdröhnte der Boden unter dem Hufschlag von sechsundzwanzig Pferden, die aus dem Stall stürmten und einen galoppierenden Kreis um den Direktor schlossen.

Zwischen den schimmernden Trakehnern hindurch wand sich Pierrot mit funkelnden Augen. Gleich hinter der Portiere stellte er Mie zur Rede. Sie sah seine dunklen, sonst weichen Augen hart wie Stahl auf der weissen Schminke schimmern und erschrak.

„Du warst ungeschickt“, herrschte er sie an.

„Das Licht war schlecht“, entschuldigte sich Mie, der es gar nicht in den Sinn kam, Harlekin etwas von dem empfangenen Briefe zu sagen.

„Das Licht war es nicht! Du hast dich mit einem Laffen verständigt! Du betrügst mich.“

Sie schlug die Augen zögernd zu ihm auf und bemühte sich, den Zusammenhang zu begreifen. Sie verstand, dass er zornig wurde, wenn sie eine Pièce allzulange nicht begriff. Aber sie fasste nicht, mit welchem Recht Johannes eiferte. Sie betrachtete zum erstenmal seine Züge in dem Halbdunkel näher und wunderte sich, dass diese eingefallenen Wangen und die vorstehenden, umrandeten Backenknochen ihr nicht schon früher missfallen hatten. In seiner schäumenden Wut erschien er ihr hässlich. Er sprudelte einen Schwall von Anschuldigungen hervor, denen Mie hartnäckiges Leugnen entgegensetzte.

Sie ging zur Garderobe, mit allen Gedanken bei dem blonden Baron, der ihr ohne Unterlass zugelächelt hatte. In einer dunklen Ecke kam eine Garderobefrau an ihr vorüber und steckte ihr mit hastigen Flüsterworten etwas zu. Mie öffnete, als sie sich allein wähnte, die kleine Schatulle mit zitternden Händen. Sie fand einen prächtigen Ring auf blauer Seide und fühlte ihre Füsse wanken vor Glück. Denn der Strahl des Edelsteines leuchtete in die Abgründe ihres Herzens und weckte berauschende Wünsche. Sie konnte sie nicht fassen und ihre Gestalten nicht festhalten. Aber es war ihr, als ruhe ein Talisman in ihren Händen, der ihr die verschlossenen Pforten zu einer Welt, der all ihr Sinnen und Trachten zustrebte, auf zaubervolles Geheiss nun öffnen würde.

Harlekin hatte inzwischen durch Bestechung und Überredung alles erfahren. Er kniff die Lippen zusammen und schwieg, als er Mie abholte. Er spielte im Restaurant und der Bar, wohin sie noch spät abends gingen, den Galantuomo und liess sich nichts anmerken, bis sich die Türe seines Hotelzimmers hinter Mie und ihm geschlossen.

Sie wollte sogleich mit einem gewohnheitsmässigen Lächeln ihr Schlafzimmer aufsuchen. Aber er hielt sie zurück, wandte sich mit einer Schnelligkeit, die seine Kunst war, sowohl der einen wie der anderen Türe zu und versperrte beide.

„Was soll das?“ stammelte Mie.

Er trat auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Sie fühlte seine feuchten, zittrigen Hände auf ihrem Nacken und empfand einen Kitzel, durch den ein unüberwindlicher Abscheu strömte.

„Du hast heute den ersten Versuch gemacht, mich zu hintergehen, Mie.“

„Ich weiss von nichts, Johannes.“

„Das ist gut, und ich will es dir glauben. Nur gib mir diesen verfluchten Stein, für den du morgen einen weit schöneren und kostbareren von mir erhalten sollst.“

„Welchen Stein, Pierrot?“

„Den Stein der Versuchung. Den Stein des Teufels.“

„Welchen Stein?“ wiederholte sie scheinbar gedankenlos, während sich alle ihre Wünsche daran klammerten, entschlossen, ihn unter keinen Umständen preis zu geben.

Er sah sie mit schmerzhaften Mienen an. Denn nun konnte er bei aller Verstellung, deren seine Seele fähig war, nicht mehr an die kleine Madonna glauben, die er bisher so nahe gewusst und mit dem Aufgebot einer in Askese geschulten Kraft vor sich selber beschützt hatte.

„Den Stein und den Brief des blonden Kavaliers,“ schrie er ausser Fassung.

Die Dämonen seines misshandelten Körpers regten sich und schrien nach Fleisch. Während er sie anklagte, pressten sich seine Wünsche liebkosend an ihren Körper. Während er bat, flehte, liebkoste, floss seine Gier über ihren Leib weg. Schliesslich spannten sich seine Arme wie straffgezogene Schnüre um das schlanke, bewegliche Weib, das ihm zu entgleiten suchte.

„Du musst mein werden,“ stammelte er und rang mit ihr, während sie, die ehedem mit Freuden ihm ihre junge Liebe gegeben hätte, dies plötzlich als eine widerwärtige Schmach empfand, ihn hasste und verabscheute.

„Nein, nein“, schrie sie und suchte sich keuchend loszulösen, aber er überwältigte sie und schleuderte sie zu Boden. Die Geschicklichkeit, die er sie gelehrt, bewahrte sie vor der Niederlage. Sie schnellte empor und stiess ihn mit einer Kraft, die ihr durch die lange Übung am Seil gekommen war, zurück. Aber als sie zur Türe floh, holte er sie wieder ein. Sie sah sekundenlang im Schimmer des Mondlichtes, das in breitem Strom durch das geöffnete Fenster strömte, seine blutgeäderten Augen und den weissen Mund, auf dem die Gier brannte. Sie warf sich von neuem gegen ihn, verzweifelt, als müsste sie um ihr Leben ringen, aber stumm, ohne Hilfe zu rufen oder einen Laut von sich zu geben, von allen ihren Kräften Gebrauch machend. Denn je länger dieses Ringen um ihren Leib währte, desto elender schien ihr Pierrot, über den ihre Sinnlichkeit längst hinausgewachsen war. Sie trat ihn mit den Füssen, fügte ihm mit den Zähnen schmerzliche Wunden zu und stachelte durch diese Misshandlungen seine Leidenschaft doch nur noch mehr auf.

So taumelten sie beide gegen das Fenster. Mie hatte einige Sekunden lang das Bewusstsein des Frühlings, der durch die Öffnung in das Zimmer strömte, und der Kastanien, die in früher Blüte standen. Die grünen Wipfel neigten sich in einer leichten Zugluft. Dann sah sie Pierrots wutverzerrte Fratze über sich. Ihr Widerstand erlahmte, er aber fand plötzlich satanische Kräfte.

Sie fühlte sich in die Höhe gehoben und schwebte über einer dunklen Tiefe, die ihre trügerischen Samtpfoten nach ihr ausstreckte.

Da begriff sie, dass der Tod über und unter ihr war, duckte sich zusammen wie eine Katze und nahm den Sprung berechnend und spähend wie am Drahtseil, von dem sie so oft schon aus schwindelnder Höhe in den gähnenden Abgrund gesprungen war.

Pierrots magere, zuckende Hände krallten sich in die Leere der Nacht. Er sah einen weissen Ball in der Finsternis verschwinden und schrie auf.

Nun begriff er, dass er Mie in die Tiefe geschleudert hatte. Ohne an seine Sicherheit zu denken oder Folgen zu überlegen, floh er, von der visionären Erscheinung eines blutbefleckten Körpers mit weit aufgerissenen Fischaugen verfolgt, aus dem Zimmer, über die Treppen, fort, fort ... fort ...