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GESCHICHTE DER KULTURINDUSTRIE

DIETER PROKOP

GESCHICHTE DER KULTURINDUSTRIE

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Dieter Prokop ist Professor em. für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt.

Bearbeitete Neuausgabe des Titels »Der Kampf um die Medien. Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung «, Hamburg 2001

© 2017 Dieter Prokop

Coverillustration, Layout und Satz: Oliver Schmitt, Mainz

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN 978-3-7345-9871-5 (Paperback)

ISBN 978-3-7345-9872-2 (Hardcover)

ISBN 978-3-7345-9873-9 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt in Kürze

Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis befindet sich am Ende des Buchs

Einleitung

Vorspiel: 500–300 v. u. Z.

Athenische Demokratie: Subjektbildung der Bürger

TEIL I: 40 v. u. Z.–1400

ZWISCHEN REPRÄSENTANZ VON MACHT, DIONYSISCHEM FEST UND IDENTITÄTSBILDUNG: ÖFFENTLICHE BILDER, ÖFFENTLICHE SPIELE

40 v. u. Z. – 400 u. Z.

Römisches Kaiserreich: Repräsentanz zentralistischer Macht

400–1000

Feudalismus: Repräsentanz der Idee des Göttlichen

1000–1400

Früher Handels-Kapitalismus, Spät-Feudalismus: Ausbildung von Individualität

TEIL II: 1400–1880

ZWISCHEN PROPAGANDA, SENSATIONEN UND STANDARDISIERTEN GEFÜHLEN: ÖFFENTLICHE BILDER, FRÜHE ZEITUNGEN, POPULÄRE BÜCHER, ZIRKUS, PENNY-PRESSE, MUSIC HALL

1400–1650

Handels-Kapitalismus, früher Produktions-Kapitalismus, Absolutismus: Hinwendung zur realen Welt

1650–1770

Bürgerliche Zivilgesellschaft, Merkantilismus, Absolutismus: Human Interests und öffentliche Kritik

1770–1820

Produktions-Kapitalismus, bürgerliche Revolution: Interessenvertretung der politischen Parteien

1820–1880

Laissez-faire-Kapitalismus, Massengesellschaft, Bürger-Macht, Kämpfe um Pressefreiheit: Unterhaltung und Meinungsbildung der neuen Massen«

TEIL III: 1880 bis Anfang 21. Jahrhundert

ZWISCHEN IRRATIONALISTISCHER MARKTSEGEMENTIERUNG UND DENKENDEM PUBLIKUM: SENSATIONSPRESSE, FILM, RADIO, FERNSEHEN, INTERNET

1880–1914

Oligopol-Kapitalismus, Massenproduktion, Aufstieg der Werbung: Klarheit und Einfachheit des Medien-Erlebens

1914–1945

Fordismus, Massenkaufkraft, stabilisierter Oligopol-Kapitalismus: Stabilisierung der Konsumenten-Märkte, sicheres Spiel mit dem Unvertrauten

1945–1970

Soziale Marktwirtschaft, Motorisierung, Freizeitgesellschaft: Privatisierung des Lebens

1970–1990

Postfordismus, Dienstleistungsgesellschaft: Segmentierung der Konsumenten-Märkte, Grenzerweiterungen im Spiel mit dem Unvertrauten

1990 bis Anfang 21. Jahrhundert

Digitale Ökonomie, supranationaler Kapitalismus, Deregulierung, Gegenreform: Flexibilisierung, Lebenskampf und das neue Zeitalter der Medien-Taylorisierungrung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Dies ist ein Geschichtsbuch über die Medien-Inszenierung von Macht und menschlichen Interessen, Leiden und Lachen, Sensationen und Spaß. Es ist ein Buch über populäres Theater, Gladiatorenkämpfe, Tierhetzen, öffentliche Propagandabilder, kommerzielle Kirchenbilder, Newe Zeytungen, Flugblätter, populäre Bücher, Zirkus, Penny-Presse, Music Hall, investigative Massenpresse, Film, Radio, Fernsehen, Internet. Es ist das Buch eines Soziologen, der die Grenzen der Fachwissenschaften überschreitet.

Genügt es nicht, über weltweite Netze Fakten abzurufen? Ist nicht Geschichte etwas fürs Museum, für Touristen und für Hollywoodfilme? Leben wir nicht in einer Zeit, in der historischer Ballast nicht gebraucht wird, im Posthistoire, in dem es keine Geschichte gibt, sondern Standard-Systeme und Standard-Systemlösungen?

Die Antwort: Zurück zu gehen in der Geschichte hat den Sinn, zu überlegen, was anders hätte verlaufen können. Mehr Wahrheitssuche? Mehr Realismus? Mehr Demokratie? Bessere Information? Mehr Vielfalt? Mehr Kreativität? Mehr Qualität? Bessere Unterhaltung? Mehr Spaß? Mehr Verrücktes? Alles von diesem »Anderen« wäre wünschenswert. Wer das Andere will, muss die historischen Interessenkonstellationen erforschen, die dafür verantwortlich sind, dass es nicht mehr davon gab und gibt.

Aber gibt es nicht genug aktuelle Kämpfe? Haben wir nicht genug daran, den globalen Krieg der Konzerne um die Neuen Medien zu verstehen? Bietet nicht das Internet neue Aufregungen? Blicken wir doch vorwärts!

Die Antwort: Nicht ohne Grund wird die Macht der heutigen supranationalen Konzerne, auch der Medienkonzerne, mit der Macht absolutistischer Fürsten verglichen. Deshalb ist es nützlich, zu sehen, was Feudalismus – und Absolutismus – mit den damaligen Massen und Massenmedien anstellten. Es gab damals nicht nur Folter und Scheiterhaufen, sondern auch subtile Mittel der Manipulation der Gefühle und des Verstands, die den heutigen gleichen. Und woher sollen die Vorstellungen darüber kommen, was heute besser sein könnte und wie das begründbar ist, wenn nicht aus der Analyse der historischen Entwicklung von Identität, Öffentlichkeit, Räsonnement und Amüsement?

Ich beginne mit der Antike ab ca. 500 vor unserer Zeitrechnung und beziehe das Mittelalter ein. Das ist ungewöhnlich. Man erwartet eher, dass eine Geschichte der Massenmedien mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert beginnt oder mit dem Aufkommen regelmäßig erscheinender Zeitungen im frühen 17. Jahrhundert. Man konzentriert sich auf die Schrift und vergisst die öffentlichen Bilder und Spiele.

In der Antike, in Athen im 5. Jahrhundert v. u. Z., entstand das Theater. Bei den Römern gab es öffentliche Bilder, eine staatliche Repräsentanzkultur; außerdem gab es Gladiatorenkämpfe und Wagenrennen. Bei Platon, den Judäern und frühen Christen findet man die Anfänge der Bilderfeindlichkeit, an der bis heute die visuellen Medien zu leiden haben. Und im Mittelalter gab es mit gefühlvollen Kirchenbildern und dem Ablasshandel die erste kommerzielle Kulturindustrie. Und es gab populäre Balladen und Erzählungen. Warum also erst mit dem Buchdruck beginnen?

Aber gehört nicht das Theater in die Theaterwissenschaft, die Kirchenbilder in die Kunstgeschichte und die Balladen und Erzählungen in die Klassische Philologie? Was mischt sich ein Soziologe ein?

Die Antwort: Wissenschaftliche Arbeitsteilung muss sein, doch ist es notwendig, über deren Ränder zu blicken. Für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft jedenfalls kann es kein Schaden sein, wenn man von der Welt mehr erfährt als Zeitungsgeschichte. Die Kulturindustrieforschung präsentiert ein strukturanalytisches Vorgehen, das die historischen Medien-Strukturen, deren Existenz und Dauerhaftigkeit, aus wirtschaftlichen politischen, gesellschaftlichen Interessenlagen erklären möchte, also aus den Vorteilen, die der Gesellschaft oder Teilen der Gesellschaft aus den betreffenden Medien-Strukturen entstanden. Dabei geht es auch um deren Ergebnisse, um die Produktstrukturen, d. h. die Inhalte und die Gestaltungsweisen.

Manche nennen das, was ich Interessen oder Vorteile nenne, »Funktionen«. Wenn sie feststellen, dass die Medien die Gefühle der Menschen bewegt haben, nennen sie das »Gefühlsfunktion«. Wenn mittels Medien Propaganda gemacht wurde, sprechen sie von einer »Propagandafunktion«. Wenn mittels Medien öffentliche Debatten geführt wurden, gilt das als »Diskursfunktion«. Oft ist von »gesellschaftlichen Steuerungs- und Orientierungsfunktionen« oder von »gesellschafts- und herrschaftsstabilisierenden Funktionen« der Medien die Rede.

Wenn man jedoch alles und jedes als »Funktionen« benennt, hat man außer der Befriedigung, alles benannt zu haben, keine weitere Erkenntnis. Was haben wir davon, wenn uns angesichts des Reformationslieds »Nun treiben wir den Papst hinaus« ein Medienwissenschaftler erklärt, dass dieses Lied die »Funktion des Kampfs« hat? (Faulstich 1998, S. 171). Meist wird hinzugefügt, das analysierte Objekt habe »normierende und damit gruppenstabilisierende Funktion«, und man merkt die Zufriedenheit des Wissenschaftlers damit, dass wieder einmal Menschen im Kollektiv untergingen. Und an Schlichtheit nicht zu überbieten ist die These des Systemtheoretikers Niklas Luhmann, die Medien hätten die Funktion, überflüssige Zeit zu vernichten (1996, S. 96).

Eine kritische Geschichte der Massenmedien ergibt sich erst, wenn man historische Interessenkonstellationen analysiert. Nehmen wir die idealisierenden Bilder, Reliefs und Herrscher-Statuen im Römischen Reich zur Kaiserzeit: Wenn wir die historischen Interessen beachten, können wir sagen: »Die Medien dienten im Römischen Reich zur Kaiserzeit dem kaiserlichen Interesse, mittels einer apollinischen Propagandakultur die Feinde des Herrschers, konkurrierende Despoten ebenso wie Demokraten, durch Diffamierung des Dionysischen zu bekämpfen.« Damit sind sowohl die Vorteile der damaligen Medien bezeichnet als auch die Art und Weise, in der die Vorteile realisiert werden. Erst das genauere Analysieren von Interessen schärft den Blick.

Die Geschichte der Medien war stets ein Kampf, den die Herrschenden, die Medien-Anbieter, die Künstler, die Journalisten und das Publikum – und nicht zuletzt die Wissenschaftler – gegeneinander und untereinander ausfochten. Sie alle hatten unterschiedliche Interessen. Historische Medien-Strukturen stabilisierten sich sich eine Zeitlang als Ergebnis derartiger – mittels Gewalt, Markt-Macht oder politischer Kompromisse beendeter – Interessenkämpfe. Am stabilisierten Zustand sind wir ebenso interessiert wie an den Kämpfen.

Die Interessenkämpfe, in die die Medien eingespannt waren und sind, will ich darstellen. Ein Interessenkampf ist zum Beispiel der zwischen Bürgern, die die freie öffentliche Diskussion, also Pressefreiheit fordern, und den absolutistischen Herrschern, die das verhindern wollen. In der frühen Neuzeit war es der Interessenkampf zwischen einer ordinären, grobschlächtigen, antiautoritären Festkultur der Bauern und Handwerker und einer damals von Staat und Kirche mit Gewalt durchgesetzten »Volkskultur« des einfachen, frommen Gemüts. Interessenkämpfe ergeben sich in der Praxis von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft.

Der Ansatz der kritischen Medienforschung, den ich vertrete, untersucht – und sie bezieht den Unterhaltungsbereich und die Bilder mit ein –, wo und wie sich in der Mediengeschichte identitätsstärkende, solidarische, rational diskursive Kommunikations- und Entscheidungsformen entwickelten, durch welche Macht- und Wirtschafts-Strukturen und durch welche Theorien sie verhindert wurden und in welchen strukturellen Konstellationen sie sich trotz aller Machtund Wirtschafts-Interessen – und oft auch über sie vermittelt – durchsetzten.

Es ist sinnvoll, Problemkonflikte von Interessenkämpfen zu unterscheiden. Problemkonflikte ergeben sich in der Wissenschaft, in der Theorie wie der empirischen Forschung. Ein Problemkonflikt ist zum Beispiel die seit Platon und Aristoteles geführte Debatte darüber, ob Unterhaltung dem Publikum schadet und deshalb zu zensieren ist oder ob sie eine befreiende Wirkung hat und deshalb frei sein muss. Wir werden feststellen, dass auch Probleme, die Philosophen und Medienforscher aufwerfen, von politischen und wirtschaftlichen Interessen geprägt waren – und bis heute sind.

Medien-Interessenkämpfe und Medien-Problemkonflikte herauszuarbeiten, ist die Absicht des Buchs.

Mit Medien meine ich Massenmedien. »Massen« definiere ich neutral als Bevölkerungsmehrheit oder als großes Publikum. Das ist eine formale Definition, aber das reicht. Auf eine inhaltliche Definition verzichte ich, denn auf die Vorurteile über »die Massen« kann ich verzichten.

Aber kann man denn heute noch von Massen als Bevölkerungsmehrheiten reden? Gibt es noch die großen Mehrheiten? Sind die Menschen heute nicht individualisiert? Gehen nicht zielgruppenorientierte Medien individuell auf jeden Einzelnen ein? Bereitet nicht das Internet den einseitig sendenden Massenmedien ein Ende? Wozu sich noch mit diesen alten »Massenmedien« beschäftigen?

Die Antwort: Man muss das, weil auch zielgruppenorientierte Medien – konventionell oder Internet – »Massenmedien« sind. Werbung, Marketing, Illustrierte, Formatradios, Fernsehkanäle versuchen, Zielgruppen anzusprechen, aber wir sollten uns nicht vorstellen, heute seien alle Medien und alle Menschen »individualisiert«. Das ist eine Marketing-Ideologie. Auch die zielgruppenorientierten Anbieter suchen heute möglichst weltweit vorhandene Zielgruppen, also »Massen«. Auch im Internet gibt es Portale, die vom breiten Publikum abgerufen werden, also von Massen. Also gibt es auch heute Massenmedien. Und darüber, wie man große Publika fasziniert – oder auch einschüchtert und diszipliniert –, erfährt man viel in der Mediengeschichte.

Was sind also Massenmedien?

1. Medien im Sinne von Massenmedien gibt es nur dort, wo es große Publika gibt, die real oder potenziell als Öffentlichkeit agieren. Die großen Publika sind nicht die Medien, aber sie sind deren Voraussetzung.

Keine Massenmedien waren die Kulte in der Frühzeit der Menschheit – Opferrituale, Regentänze, beschwörende Gesänge oder deren materielle Ergebnisse, z. B. die prähistorischen Höhlenmalereien, die ägyptischen Grabkammerbilder. Wenige Beteiligte praktizierten Rituale, es gab keine Öffentlichkeit.

»Öffentlichkeit« ist ein Begriff, der sich im 18. Jahrhundert einbürgerte. Er bezeichnet ein Publikum, das in Parlamenten, Cafés und Zeitungen Kritik äußern kann, wozu die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse gehört. Aber auch in der Antike und im Mittelalter gab es »Öffentlichkeit«. In Athen im 5. Jahrhundert v. u. Z. hatte das Theater ein kritisches Publikum. Das Publikum beurteilte die Qualitäten des Angebots. Das Theater war ein öffentliches Massenmedium. Im Mittelalter geschah die Repräsentanz von Macht im öffentlichen Raum. Das Publikum war in den Kirchen, auf Plätzen, später auf Marktplätzen präsent. Selbst wenn das Publikum unterdrückt wurde und öffentliche Mitteilungen zensiert wurden, hatten die öffentlichen Anbieter stets mit Ketzern, Kritikern, Aufständischen zu rechnen.

Der Medienhistoriker Werner Faulstich hält auch die Familie für eine Öffentlichkeit, er nennt das »kleinräumige Binnenöffentlichkeit« (1998, S. 116). Dann wären auch die Urlaubsbilder auf dem Tablet oder Smartphone, mit denen Leute ihre Mitmenschen langweilen, ein Massenmedium? Das kann nicht sein, denn in Öffentlichkeiten geht es immer um die prinzipielle Einbeziehung aller; in Öffentlichkeiten richten sich die Debatten stets auf das Koordinieren der Interessen aller in der Gesamtgesellschaft.

2. Massenmedien gibt es nur, wenn spezielle öffentliche Anbieter vorhanden sind, die mit ihrem Angebot spezielle Interessen verfolgen: Repräsentanz von Macht, Propaganda, Profit, Aufklärung. Die Anbieter selbst sind keine Massenmedien, sondern deren infrastrukturelle Voraussetzung.

Das Theater in Athen war ein öffentliches, staatliches Festspiel-Angebot. Wenn die Kirche im Mittelalter Bilder ausstellte und damit Ablassgelder kassierte; wenn sie diese Bilder massenweise produzierte und als Amulette und Andenken verkaufte, war sie ein öffentlicher Anbieter, mit dem Interesse der Machtdemonstration und des Profits.

An den Anbietern betrachten wir die Marktformen, die Produktionsweisen, die Formen der Auftragsvergabe, die Infrastrukturen für Kreativität und die Arten der Arbeitsteilung. Gab es viele Kleinanbieter oder wenige Großanbieter oder einen Monopolisten? Waren die Produktionsweisen handwerklich oder manufakturmäßig oder industriell?

Kein Massenmedium sind Sprache und Schrift. Sie sind Teil der Kultur oder »kulturelle Institutionen«. Man mag sie »Medium« nennen, aber dann ist auch die Luft, die wir atmen ein Medium. Manche Kommunikationswissenschaftler sagen genau das, ohne zu scherzen. So beginnt der Informatiker Michael Giesecke ein medienhistorisches Buch, das die Erfindung des Buchdrucks zum Gegenstand hat, mit einem Begriff von »Medium«, der auch die Luft einschließt, denn jedes Sprechen setze die Gasmoleküle der Luft in Schwingungen und jene transportieren eine »informative Spur« (1998, S. 73). Für Giesecke ist selbst ein Hut, der durch den Sand rollt, ein Medium: »Der Hut zeigt sich […] als Medium, welches zwischen dem Wind und den Dünen vermittelt. Gebrochen durch die materialen Eigenschaften des Hutes, eben seine Informationen, hinterlässt der Wind seine Spuren im Sand. Der Hut verformt sich, weil er als Medium zwischen dem Sand und der Windenergie vermittelt. Zugleich wirkt er aber auch auf die Luftmoleküle zurück.« (S. 39).

Überlassen wir es Informatikern, alte Hüte in den Sand zu setzen.

3. Massenmedien gibt es nur, wenn öffentlich präsentierte Produkte spezielle Inszenierungen anbieten. Diese Inszenierungen, wenn sie populär sind – d. h. bei Bevölkerungsmehrheiten beliebt sind, wahrgenommen, gekauft, debattiert werden – sind die eigentlichen Massenmedien. Statt »Inszenierungen« könnte man auch »Erzählungen« oder »Geschichten« sagen, doch würde man hierbei den Aspekt der Gestaltung ignorieren. »Inszenierungen« umfasst beides.

In den Medien-Inszenierungen verdichtet sich das, was Anbieter bezwecken oder was das große Publikum sucht, in speziellen Szenen. Die Pracht absolutistischer Machtdarstellung auf öffentlichen kaiserlichen Festen oder die anrührenden Maria-Jesuskind-Darstellungen auf den spätmittelalterlichen Ikonen oder die sensationell aufgemachten Pressenachrichten seit der frühen Neuzeit sind derartige »Inszenierungen«.

Natürlich können wir nicht alle Massenmedien berücksichtigen. Das Theater werden wir nur kurz streifen. Für Kirchenbilder interessieren wir uns nach dem 17. Jahrhundert nicht mehr. Manche Medien wie Zirkus, Music Hall, Comics kommen nur am Rande vor, Illustrierte und populäre Musik fast gar nicht. Man muss Schwerpunkte setzen. Wir versuchen, immer dort zu sein, wo sich in den jeweiligen Mainstream-Medien die wichtigen Veränderungen abspielen.

Menschen sind kein Massenmedium, weil Menschen die Inszenierenden sind, nicht das Inszenierte. Bei populären Schauspiel-Inszenierungen sind nicht die Schauspieler das Massenmedium, sondern die Inszenierungen. Faulstich nennt die fahrenden Sänger, die bei mittelalterlichen Festen auftraten, »Menschmedien« (1996). Dann wäre auch ein Prediger ein Menschmedium, und wenn er zum Medium Buch greift, wäre das bereits ein Medienverbund? Genau das behauptet Faulstich (1998, S. 147). Das erscheint mir falsch. Es ist auch nicht sinnvoll, angesichts der archaischen Verehrung von Göttinnen vom »Menschmedium Frau« (Faulstich 1997) zu sprechen. Erst wenn es von einem Klerus bewusst inszenierte Bilder gibt, entworfen mit dem Interesse an Repräsentanz oder an Profit, kann man jene Bilder Massenmedien nennen. Alles andere wäre mystifizierend. Heute spricht man wieder von Kult, Kultfiguren, Kultbüchern, und man kokettiert mit Schamanen und Zauberern. Aber das sind Inszenierungen, die von öffentlichen Anbietern für große, öffentliche Publika hergestellt werden. Heute sind »Kultbücher« oder »Kultfiguren« Teil der Massenmedien.

Manche könnten schließlich fragen: Geht es nicht am Wesen der Massen vorbei, wenn man sie bloß als Bevölkerungsmehrheit definiert und glaubt, sie könnten »Interessen« verfolgen? Folgt die Masse nicht dem Sog des Kollektivbewusstseins? Die Massen, die den Sportlern im Olympiastadion zujubeln und die Verlierer verdammen, hängen sie nicht ewigen Sieger-Mythen an? Sind die Reichen und Schönen in den massenbeliebten Fernsehserien, die intrigieren und leiden, nicht bloß eine Neuausgabe der intrigierenden und leidenden antiken Götter? Und das Bild von Maria mit dem Jesuskind, das sich schon so lange hält, ist das nicht ein Beweis für eine tiefverwurzelte Urfantasie von der harmonischen Mutter-Kind-Beziehung? Und wenn in den Science Fiction-Filmen Außerirdische aus dem All kommen, um die ins Chaos gefallene Menschheit zu vernichten, sind das nicht uralte apokalyptische Mythen?

Peter Sloterdijk schreibt: »Denn in der Masse versammeln sich die erregten Einzelnen nicht zu dem, was die Diskussionsmythologie ein Publikum nennt – vielmehr verdichten sie sich zu einem Fleck, sie bilden Menschen-Kleckse, sie strömen zu dem Ort, wo es am schwärzesten ist von ihnen selbst. Der Ansatz beim Menschenauflauf zeigt, dass es schon in der Urszene der kollektiven Ichbildung ein Zuviel an Menschenstoff gibt und dass die noble Idee, die Masse als Subjekt zu entwickeln, von diesem Überschuss a priori sabotiert wird.« (S. 13)

Kann man dann die Massen, wie wir das tun wollen, als Öffentlichkeit betrachten, in der Bevölkerungsmehrheiten Interessen verfolgen und Inszenierungen begutachten? Ja, man kann. Man muss! Das Publikum des griechischen Theaters und der Kirchenbilder im Mittelalter bestand nicht aus unkritischen Gläubigen. Das Bild von Maria mit dem Jesuskind ist kein Beweis für ewige Urphantasien der Massen, sondern für die Macht der Kirche, einschließlich der Scheiterhaufen; die mittelalterlichen Bilder wurden produziert, um denkende Menschen, »Ungläubige«, einzuschüchtern oder zu überreden. Macht hat politische und ökonomische Ursachen. Behauptungen über ein »kollektives Unbewusstes«, eine »Massenseele« oder »tief verwurzelte Urbedürfnisse« sollten wir nicht ernst nehmen. Selbst wenn noch im Jahr 2000 ein Buch mit dem Titel Das kollektive Unbewusste in der postmodernen Gesellschaft erscheint und in dessen Klappentext behauptet wird, das kollektive Unbewusste halte uns »fest in seinem Bann«, kann dessen Autor, Walter L. Bühl, im Text nur Fakten darüber präsentieren, dass Bevölkerungsmehrheiten auch heute über Märchengestalten, Drachen, Helden, Führerfiguren und Stars fantasieren. Das bestreitet niemand. Man sollte von »Fantasietätigkeit« sprechen oder von »Fantasietätigkeit von Bevölkerungsmehrheiten«. Bühl dagegen präsentiert die alten mystifizierenden Begriffe: »kollektives Unbewusstes«, »kollektives Gedächtnis«, »Kollektivphantasien«, »Archetypen« etc. Das ist Unsinn. Fantasien sitzen nicht »tief im Unbewussten«, im Rückenmark oder irgendwelchen Gehirnhälften. Sie ergeben sich in historischen Situationen aufgrund von Interessenkonstellationen. Vieles wird über Generationen weitererzählt. Das ist alles. Die »irrationalen Massen« mit ihrem »kollektiven Unbewussten« sind ein Mythos. Daran glauben vor allem Elite-Menschen, die sich von »der Masse« abgrenzen möchten; verfassungsfeindliche Juristen; Möchtegern-Manipulateure in der Werbung; Anhänger der Astrologie. Wir müssen das nicht mitmachen. Bevölkerungsmehrheiten sind keine »schwarzen Flecken«, sie sind nicht irrational. Die Massen bestehen aus denkenden Menschen. Das festzustellen, ist keine »Schmeichelsoziologie«, wie Sloterdijk behauptet (2000, S. 15). Wir schmeicheln nicht.

Vorspiel: 500–300 v. u. Z.

ATHENISCHE DEMOKRATIE: SUBJEKTBILDUNG DER BÜRGER

Die Zeit der griechischen und römischen Kultur gehört zur »Antike«, zum »Altertum«. Diese Epoche begann um 3000 v. u. Z. – d. h. vor unserer Zeitrechnung – mit dem Aufstieg der minoischen Kultur auf Kreta. Sie endete mit dem Ende des Römischen Reichs im 5. Jahrhundert. Wir konzentrieren uns auf die Blütezeit der griechischen Kultur im 5. und 4. Jahrhundert (500–300 v. u. Z.). Sie ist wichtig, weil hier erstmals ein populäres Massenmedium entstand, das Theater, und auch die ersten Medientheorien.

Dichtung und Theater

Geldwirtschaft, Binnenhandel, Festspiele und Demokratie

Seit dem 7. Jahrhundert hatte es in Griechenland fahrende Vortragskünstler gegeben, »Rhapsoden« genannt, die auf Festen und bei Wettkämpfen oder Siegesfeiern auftraten, oft vor einem Publikum, das in die Tausende ging (Faulstich 1997, S. 194). Sie trugen in einer Art Sprechgesang, mit schauspielerischer Emphase, Liebeslieder, Totenklagen, Trinklieder, Kampflieder vor und auch Werke der Klassiker, die Dichtung Homers, Odyssee und Ilias (8. Jahrh.). Ihr Vortrag wurde meist mit der Khitatra, einer Art Gitarre begleitet, von ihnen selbst oder von Musikern. Es gab unter dem fahrenden Volk auch Gaukler, Clowns und Possenreißer, die Spottlieder auf Zeitgenossen sangen und klamaukhafte Szenen spielten.

Ende des 7. Jahrhunderts änderte sich alles. Das Münzgeld wurde eingeführt, im 6. Jahrhundert wurde Griechenland eine Fernhandelsmacht. Als Folge entstand ein intensiver Binnenhandel, mit Kleinhandel und Kleingewerbe. Alles zusammen führte zu Reichtum der Bürger. Die Sklavenarbeit bot billige Arbeitskräfte, es gab doppelt so viel Sklaven wie freie Bürger. Unter den freien Eigentümern waren die Bauern, Handwerker und Kaufleute diejenigen, die Produktion und Handel vorantrieben. Die Bürger wurden einflussreicher und gerieten in Konflikt zu den aristokratischen Großgrundbesitzern, die traditionell Griechenland beherrschten. In den Kämpfen siegten im 6. Jahrhundert Diktatoren, Tyrannen wie zum Beispiel Peisistratos (rg. 560, 546–528/527). Um beim Volk Sympathiewerbung für sich und damit Stimmung gegen die Aristokratie zu machen, richteten die Tyrannen Festspiele, »Dionysien« ein. Das waren religiöse Feste zu Ehren des Gottes Dionysos, der bei der Bevölkerung beliebt war. Das größte Fest, ca. 560 v. u. Z. von Peisistratos eingerichtet, waren die Großen Dionysien in Athen, die jährlich in der zweiten Märzhälfte stattfanden. Daneben gab es weitere Feste, um die Zeit der Sommer-Sonnenwende die Pan-Athenäen, zur Winter-Sonnenwende die Lenäen.

Dionysos war ein vor allem bei der Landbevölkerung beliebter Gott der Vegetation und speziell des Weins, der Fruchtbarkeit und des irdischen, »tierischen« Vergnügens, er war ein Erdengott, der Gut und Böse, Leben und Tod gleichermaßen verkörperte. Er wurde meist als orgiastisch Feiernder dargestellt. Während der Dionysos-Feste wurden Opferprozessionen veranstaltet: Die Prozession ging meist von einem Fluss oder dem Meer aus, dem Ursprung des Lebens. Körbe mit Opfergaben wurden vorangetragen; dann folgte ein großer Phallos, der von mehreren Männern getragen wurde; dann ein Chor, der die phallische Hymne sang. Die Umzugsteilnehmer machten einen Höllenlärm, sie stießen gellende, orgiastische Schreie aus und verwendeten grell klingende Instrumente. Der Zug hielt an verschiedenen Altären, wo Tänze aufgeführt und Tieropfer dargebracht wurden. Die Zeremonie stammte aus alten Fruchtbarkeitsriten, die das Wiederaufleben der Natur nach dem Winter beschworen. Das war der religiöse Teil der Feste. Es gab außerdem öffentliche Speisungen, Wett-Trinken, sportliche und musische Wettkämpfe, Fackelläufe.

Die größte Attraktion der Feste waren die neuen Theaterwettbewerbe, die Aufführung von Tragödien, Satyrspielen und Komödien. Bei den Großen Dionysien in Athen wurden an den ersten drei Tagen jeweils drei Tragödien eines Dichters aufgeführt. Besonders ergreifend war in den Tragödien der Kommos, das Klagelied, das Chor und Schauspieler gemeinsam sangen und das seine Ursprünge in rituellen Totenklagen hat. Es war tränentreibend. Zum Schluss gab es zur Entspannung ein Satyrspiel, am vierten Tag drei Komödien verschiedener Autoren.