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Die Handlung, die Figuren und manche Schauplätze dieses Romans sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind unbeabsichtigt.

Lektorat: Rainer Hörmann

Erste Auflage März 2017

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von naruedom (fotolia.de).

ISBN 978-3-89656-636-2

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

von Jan Stressenreuter im Querverlag erschienen

Love to Love You, Baby

Ihn halten, wenn er fällt

Und dann der Himmel

Mit seinen Augen

Aus Rache

Aus Angst

Aus Wut

Wie Jakob die Zeit verlor

Haus voller Wolken

„Figgn, Alda!“ und andere Geschichten

Aus Hass

Zehn Jahre zuvor

Freitag, 14. September – New York City

Die Schlange der Fans, die sich Morning’s Death vom Autor persönlich signieren lassen wollten, schien kein Ende zu nehmen. Seit einer Dreiviertelstunde saß Stephen Gatler in einer der großen, altehrwürdigen Buchhandlungen der Metropole am Hudson River direkt am Broadway, Ecke 12. Straße, umrahmt von Dutzenden Exemplaren der englischen Ausgabe seines Buches, mit einem gefrorenen Lächeln im Gesicht, einen Stift zwischen seine steifen Finger gepresst. Die Anstrengung des langen Tages machten sich bei dem Mittfünfziger mit dem markanten dichten Schopf weißer Haare durch Kopfschmerzen bemerkbar. Obwohl die Klimaanlage eingeschaltet war, hing der Geruch von Staub und frisch bedrucktem Papier in der Luft und vermischte sich mit den Düften verschiedener Damenparfüms. Dianne Hatford – Gatlers junge, blonde Assistentin, die ihm sein US-amerikanischer Verlag für die Dauer seiner Lesereise durch die Ostküstenstaaten zur Seite gestellt hatte – versuchte vergeblich, die Signierstunde zu beschleunigen.

„Ladies and gentlemen … could we speed things up just a little?“

Gatler bemerkte, wie Hatford die Stirn runzelte, während sie zum wiederholten Mal einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. Gegen 22:30 Uhr war er als Gast eines Late-Night-Talks bei einem Radiosender verplant, ein letzter Termin an diesem Tag. Aber jeder der Zuhörer, die nach der Lesung Morgentod kauften – so der Originaltitel des Romans –, schien begierig darauf zu sein, den Autor aus nächster Nähe zu sehen, ihm die Hand zu schütteln und ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dass ein Schriftsteller aus Deutschland die Bestsellerliste der New York Times anführte, noch dazu mit einem Krimi – ein Genre, das die Amerikaner als ihr ureigenes verstanden, auch wenn Gatler in seinen Interviews nicht müde wurde, auf Sir Arthur Conan Doyle und Agatha Christie als Begründer des modernen Kriminalromans zu verweisen –, war eine literarische Sensation und hatte den Zulauf zu seinen Lesungen noch einmal verstärkt.

Zumeist waren es Frauen mittleren Alters, die ihm ihr Exemplar in die Hand drückten, versehen mit einem Post-it, auf dem der gewünschte Text der Signierung vorformuliert war: For Heather, Happy Christmas. For Marc, a thrilling holiday read. Einige gaben sich Mühe, den Schriftsteller mit ein paar Brocken Deutsch zu beeindrucken, die sie während eines Europaurlaubs aufgeschnappt hatten, näselten „Wie geht es Ihnen, Herr Gatler?“ oder erklärten, wie sehr ihnen der Dom seiner Heimatstadt Köln gefallen hatte: „That big cathedral you have? Awesome, simply awesome!“ Manche brachten auch Heidelberg oder Neuschwanstein in das Gespräch ein und waren brüskiert, wenn Gatler missmutig erklärte, dass er noch nie in seinem Leben dort gewesen sei und auch nicht vorhabe, das Schloss jemals zu besuchen, jedenfalls nicht, solange es hauptsächlich von asiatischen Touristen bevölkert würde. Andere versuchten sich einzuschmeicheln, indem sie ihm dazu gratulierten, dem weißhaarigen, bärtigen Foto auf dem Rücken des Buchumschlags sehr ähnlich zu sehen.

Zu Anfang seiner Tour hatte sich Gatler noch auf diese Art von Smalltalk eingelassen, hatte sogar mit einer gewissen Befriedigung an seinem Image als „schwieriger Autor“ gefeilt, indem er kurz angebundene, ruppige Antworten gab, wenn ihm danach war; jetzt, auf der letzten Station seiner Reise, stellte er seine Ohren auf Durchzug, kritzelte achtlos die gewünschten Sätze auf die erste Seite des Buches und wandte sich dem nächsten Leser zu. In diesem Fall einem nickelbebrillten Endvierziger mit graumeliertem Haar und einem nervösen Augenblinzeln, der ihn unbedingt darauf aufmerksam machen wollte, dass dem Übersetzer der englischen Ausgabe auf Seite 247 ein Fehler unterlaufen war.

„See here?“ Der Mann hielt Gatler das aufgeschlagene Buch unter die Nase, als hätte der Autor den Fehler persönlich zu verantworten. „It should be men, not man!“

„Na und?“, fuhr Gatler ihn an. „Lassen Sie mich in Ruhe mit dem Quatsch! Passiert in Ihrem Leben nichts Aufregendes, dass Sie sich an so was hochziehen müssen?“

„What?“ Der Mann hatte zwar kein Wort verstanden, aber sehr wohl begriffen, dass Gatler wütend geworden war, und fühlte sich vor den Kopf gestoßen.

„Go to hell!“, verdeutlichte Gatler seinen Ärger. Bevor die Situation eskalieren konnte, war Dianne Hatford zur Stelle, die sich der Sache annahm und den Mann in eine Unterhaltung verwickelte, während sie ihn geschickt aus der wartenden Schlange herauslöste. Gatler unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung und nahm das nächste Buch in Empfang, ohne aufzublicken.

„I’m so thrilled to meet you, Mr. Gatler. I’ve told all my friends they must read your book!“ Eine Afro-Amerikanerin mit zu viel Ethno-Schmuck über einem sackartigen, mit Goldfäden durchwebten Oberteil streckte ihm ihr Buchexemplar entgegen.

„Thank you“, murmelte Gatler und schrieb ihr die erbetene Widmung ins Buch. „Danke schön!“ Die Amis mochten es, wenn er ein paar deutsche Versatzstücke in seine Äußerungen einbaute. Vielleicht verlieh ihm das in ihren Augen mehr Authentizität? Bei der nächsten USA-Reise würde er Lederhosen anziehen. Aber wahrscheinlich prallte diese Art von Ironie an Amerikanern einfach ab.

Er hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie anstrengend diese Lesereise werden würde, auf der er seinen Debütroman dem amerikanischen Publikum vorstellte. Sieben Tage, sieben verschiedene Städte, jeden Abend eine Lesung, anschließend Diskussionsrunden mit dämlichen Gesprächsleitern, die blödsinnige Fragen stellten, dazwischen Interviews beim Lunch oder Kaffee für Zeitungen und Zeitschriften, sogar zwei kurze Auftritte im Frühstücksfernsehen; der Verlag hatte seinen Tagesablauf genau durchgetaktet, nichts dem Zufall überlassen. Dann noch die Flüge, das Einchecken in die – zugegebenermaßen erstklassigen – Hotels … am Tag zuvor hatte er tatsächlich für einen Moment vergessen, in welcher Stadt er sich befand. Was für ein Unterschied zu dem Leben, das er noch bis vor Kurzem geführt hatte!

Beim Anflug über die Neuenglandstaaten vor einer Woche war die gesamte Küstenregion in die ersten zarten Farben des Indian Summer getaucht gewesen, die Wälder leuchteten in Rot, Gelb und Braun, dazwischen schmiegten sich kleine Dörfer mit weißgetünchten Kirchen in die sanfte Hügellandschaft. Es sah aus wie auf einer Hochglanzpostkarte. Manchmal – so wie gestern Nacht, als er vom Fenster seines Bostoner Hotels den Blick über den Hafen hatte schweifen lassen mit seiner spektakulären Skyline und dem Strand, vor dem die Yachten der Ostküsten-Geldaristokratie ankerten – kam ihm alles völlig irreal vor. Wie konnte ein Buch, das er ohne große Hoffnung auf Veröffentlichung vor mehr als drei Jahren geschrieben hatte, eine solche Veränderung auslösen? Und wenn schon! Er hatte sich den Ruhm verdient. Sein Leben lang war er ein Niemand gewesen; jetzt war sein Moment gekommen, er würde ihn sich nicht nehmen lassen.

Gatler fertigte erschöpft die nächsten Leser ab, zwei ältliche Frauen mit grauen Haaren und blendend weiß gebleachten Zähnen, die in ihren Joggingschuhen und Fleece-Jacken aussahen, als hätten sie vor der Lesung eine Runde Nordic-Walking im nahen Union Square Park absolviert. For Harry, a belated birthday present. For Timothy, Happy Anniversary!

Unglücklicherweise fiel Gatlers Trip in die USA mit dem Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center zusammen; überall wurde die Erinnerung daran wachgerüttelt mit Gedenkreden und Kommentaren. Im Fernsehen waren auf allen Kanälen wieder die Flugzeuge zu sehen, die vor einigen Jahren in die Wolkenkratzer geflogen waren, und die Behörden gaben sich erneut ihrer Paranoia hin. Bei der Einreise war sein Koffer komplett gefilzt worden, sogar der Titel seines Krimis hatte Verdacht erregt – und Gatler hatte nicht zur Entspannung der Zollbeamten beigetragen, als er während der fünfzehnminütigen Kontrolle verärgert gefragt hatte, ob man ernsthaft glaube, dass es sich dabei um die Gebrauchsanleitung für eine erneute Terrorattacke handele. Erst die Ankunft Dianne Hatfords in einem neonbeleuchteten, spärlich eingerichteten Raum neben den Sicherheitskontrollen, der von zwei schwer bewaffneten, ausdruckslos starrenden Polizisten bewacht wurde, hatte die Situation geklärt.

Auch die Sicherheitsvorkehrungen zu seinen Veranstaltungen waren ins Groteske verschärft worden, als ob die privaten Wachdienste hinter jedem Gast einen islamistischen Selbstmordattentäter vermuteten. Keine einzige Lesung hatte pünktlich anfangen können. In Interviews war Gatler nach seiner Meinung zu den Anschlägen befragt worden, hatte Anteilnahme, Empörung und Mitgefühl heucheln, die Gefühlslage der Deutschen erklären müssen – als ob er dafür ein kompetenter Ansprechpartner gewesen wäre. Ein paar Mal hatte er sich das gefallen lassen, doch dann, als er einem Reporter in Albany, New York, Rede und Antwort gestanden hatte, war ihm verärgert herausgerutscht, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn George Bush senior nicht den ersten Golfkrieg vom Zaun gebrochen hätte – was einen Aufschrei in der Öffentlichkeit ausgelöst und ihm eine Schlagzeile in der Times Union, der größten Tageszeitung von Albany, eingebracht hatte: German writer blames former President for 9/11. Es war eine erhebliche Verkürzung seiner Äußerungen und trug zu seinem Ruf als widerborstiger Gesprächspartner bei. Zur darauffolgenden Lesung waren tatsächlich einige Demonstranten vor der Buchhandlung erschienen, die Plakate in die Höhe hielten und den Boykott seines Buches forderten. Eine Frau hatte sogar versucht, seinen Roman zu verbrennen, war aber von einem Wachmann daran gehindert worden. Gatler hätte darüber gelacht, wenn Dianne Hatford nicht so besorgt ausgesehen und sofort hektisch zu telefonieren begonnen hätte. Der Verlag hatte ernsthaft um sein Image gefürchtet und die PR-Abteilung eine schriftliche Distanzierung vorbereitet, bis man festgestellt hatte, dass Gatlers umstrittene Äußerung eine unschätzbare zusätzliche Werbemaßnahme war und den Verkauf seines Krimis weiter angekurbelt hatte. Was den Deutschen in seinem Vorurteil bestätigte, dass den Amerikanern der schnöde Mammon letztendlich wichtiger war als ihr demonstrativer Patriotismus oder ihre prüde Moral.

Dennoch genoss Gatler die Aufmerksamkeit, das geballte Medieninteresse. In Deutschland war Morgentod zwar auch positiv aufgenommen worden, hatte sich wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste getummelt und sogar die FAZ hatte sich zähneknirschend zu einer Buchempfehlung herabgelassen. Trotzdem wurde Gatler in seiner Heimat sogleich das Schild eines Trivialautors umgehängt, als gehörte man nur dann zum Kreis der ernstzunehmenden Schriftsteller, wenn man sich in seinem Werk mit dem Dritten Reich, zumindest aber mit Flucht und Vertreibung oder dem Leben in der ehemaligen DDR beschäftigte. In den USA zählte, ähnlich wie in Großbritannien, nur Gatlers überraschender Erfolg.

Und jetzt wartete die Welt auf einen zweiten Krimi. Fast jedes Interview schloss mit der Frage nach dem nächsten Projekt. „What are you working on at the moment, Mr. Gatler? When can we expect your next thriller?“ Was Gatler nervös machte, denn die Wahrheit war, dass er nichts anzubieten hatte außer vagen Ausflüchten. Vielleicht war es der Trubel, der so unerwartet und plötzlich über ihn hereingebrochen war, die ständigen Reisen auch quer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz – jedenfalls hatte er noch keine Ahnung, wie sein nächster Roman aussehen würde, hatte weder eine Handlung noch Charaktere parat. Sein Kopf war – leer. Dass nach seiner USA-Reise zum ersten Mal seit dem Erscheinen des Buchs keine Termine mehr anstanden, erleichterte ihn und bereitete ihm gleichzeitig Angst. Endlich würde er die nötige Muße und Ruhe finden, sich auf einen Nachfolger für Morgentod zu konzentrieren. Hoffentlich.

„Sie müssen Stefan sein“, sagte eine weibliche Stimme mit rauchigem Alt in akzentfreiem Deutsch direkt vor ihm und riss ihn aus seinen Gedanken, zurück zu seiner Autogrammstunde. „Stefan Scziekorsky.“

Gatler zuckte zusammen, als er seinen richtigen Namen hörte, und nahm die Frau näher in Augenschein, die sich in der Schlange bis zu seinem Tisch vorgearbeitet hatte. Ein graues Kostüm mit abgesetzten schwarzen Taschen, elegant geschnitten – bestimmt nicht billig –, dezentes, unterkühltes Make-up, eine dunkle Kurzhaarfrisur, erheblich jünger als er, vielleicht Anfang dreißig, schmale, rostrot geschminkte Lippen und graue Augen, die ihn aufmerksam musterten. Schon während der Lesung hatte er sie bemerkt: In der vorletzten Reihe sitzend, war sie offensichtlich ohne Begleitung erschienen. Sie schien kein besonderes Interesse an seinem Vortrag gehabt zu haben, hatte immer wieder den Blick über das Publikum schweifen lassen. Jetzt fiel ihm auf, dass die Frau nicht mal ein Buch in der Hand hielt.

„Verzeihung?“, sagte er.

„Der Mann, mit dem Achim jetzt lebt.“

Gatler sah sich um, besorgt, dass jemand ihrem Wortwechsel folgte. Aber niemand achtete darauf, auch Hatford schien noch immer mit dem bebrillten Mann beschäftigt zu sein. „Und Sie sind?“

„Corinna Kemper. Luccas Mutter.“

„Luccas … oh. Ich dachte … leben Sie nicht in Dallas?“

„Ich habe beruflich für zwei Wochen hier zu tun. Ich bin durch Zufall über die Ankündigung Ihrer Lesung gestolpert.“

„Ich … ähm …“ Gatler lehnte sich vorsichtig zurück. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Corinna.“

Hinter Kemper machte sich jetzt doch eine gewisse Unruhe breit; ihre private Unterhaltung, noch dazu in der Muttersprache des Autors geführt, erregte Aufmerksamkeit. Auch Hatford warf Gatler fragende Blicke zu.

Kemper ließ ihn noch immer nicht aus den Augen, und Gatler fühlte sich in seiner sitzenden Position, von der aus er ständig zu ihr nach oben schauen musste, im Nachteil.

„Vielleicht können wir anschließend zusammen essen gehen oder uns auf einen Drink treffen?“, fragte Kemper. „Man trifft sich hier gerne auf einen Drink nach der Arbeit.“ Es klang fast ein wenig spöttisch.

Gatler sah auf seine Uhr. „Ich habe noch einen Termin bei einer Radiostation. Das tut mir leid. Aber man lässt mir hier wirklich kaum eine Minute Freizeit.“ Er hob gespielt hilflos die Schultern.

„Natürlich.“ Kemper lächelte ihn an, ein Lächeln mit blitzenden Zähnen, dem jegliche Wärme fehlte. Dann zog sie aus ihrer Handtasche eine Visitenkarte und drückte sie Gatler in die Hand. „Für alle Fälle, falls Sie es sich anders überlegen. Rufen Sie mich an.“

Etwas an ihrem Tonfall ließ ihn aufhorchen und seine Pläne ändern. „Wie wäre es nach dem Radiointerview?“, schlug er vor. „So gegen halb zwölf? Ich bin sicher, dass die Bar meines Hotels dann noch geöffnet hat.“

Kemper war einverstanden, und er nannte ihr Name und Adresse seiner Unterkunft.

„Weiterhin viel Erfolg“, sagte sie und nickte ihm zu. Dann drehte sie sich um und verließ die Buchhandlung, ohne sich umzublicken. Die Absätze ihrer schwarzen High Heels verursachten klackende Geräusche auf dem Boden. Gatler schaute ihr nachdenklich hinterher. Dann wurde ihm das nächste Buch zum Signieren auf den Tisch gelegt, und er verstaute die Visitenkarte in seiner Hosentasche.

Vier Stunden später, nach dem Radiotermin, der Rückkehr in sein Hotel und einem Drink in der Bar, wo Corinna Kemper in einem schwarzen Ledersessel auf ihn gewartet hatte – die langen Beine lasziv übereinandergeschlagen, an einem trockenen Martini mit zwei Oliven nippend –, zog Gatler aufatmend seine Schuhe aus und ließ sich aufs Bett fallen.

Seine Intuition hatte ihn nicht getrogen. Es war eine interessante Unterhaltung gewesen. Von seiner Seite her ein wenig verhalten zu Beginn, die ersten Minuten hatte er sich unbehaglich gefühlt. Aber Corinna schien keine Probleme mit ihm zu haben, keine Ressentiments zu empfinden. Mit einer verächtlichen Handbewegung hatte sie seine Verwunderung abgetan. Schnee von gestern. Nicht von Bedeutung. Er hatte ihr diese Phrasen zwar nicht geglaubt, aber sie passten zu diesem Land, in dem man nur nach vorne sah und nie zurück. Kein Wunder, dass sie Deutschland verlassen hatte, um hier Karriere zu machen.

Gatler starrte reglos auf die Aussicht, die er von seinem Zimmer im 15. Stock auf Manhattan hatte. Erleuchtete Bürotürme, blinkende Reklametafeln, dunkle Häuserschluchten. Irgendwo unten auf der Straßenebene gellte die Sirene eines Polizeiwagens und verlor sich in der Ferne.

Am Abend war der Wagen, der ihn und Hatford zum Termin bei dem Radiosender gebracht hatte, am leblosen Körper einer Frau vorbeigefahren, der auf dem Bürgersteig lag. In dem kurzen Augenblick hatte Gatler nicht erkennen können, ob es sich um eine Obdachlose, jemanden mit einem Herzinfarkt oder das Opfer eines Gewaltverbrechens gehandelt hatte. Er hatte keine Ahnung gehabt, wo sie sich gerade befanden, sein Orientierungssinn ließ ihn in fremden Städten schnell im Stich, aber es schien nicht die beste Gegend zu sein, wenn man nach den Müllhaufen urteilte, die sich am Straßenrand befanden. Er hatte gefragt: „Sollten wir nicht … ich weiß nicht … anhalten oder zumindest Hilfe herbeirufen?“, aber Hatford hatte ihn entgeistert angesehen und erwidert: „Nein. Bestimmt nicht.“

Gatler schaute auf die Uhr, dann griff er zum Telefon. „Hab ich dich geweckt?“ In Deutschland hatte schon der nächste Morgen begonnen, dort war es kurz nach halb sieben Uhr.

„Nein.“ Achim Kauz klang müde. „Lucca hatte eine unruhige Nacht. Er fiebert und …“

Aber Gatler hatte keine Lust, das Neueste über den kleinen Sohn seines 32-jährigen Lebensgefährten zu hören. Er wollte berichten, wie sein Tag in New York gewesen, wie die Lesung verlaufen war und die Interviews. Doch Achim ging ganz in der Erziehung des Jungen auf, interessierte sich nur mäßig für Gatlers Erfolg. Nicht, dass er sein Desinteresse zeigte; aber wenn Gatler von seinem Buch sprach, ihn auf eine Rezension, neue Verkaufszahlen hinwies, dann spürte er, dass er seinen Partner nicht erreichte. Es war ein frustrierendes Gefühl; wenn es nicht so abwegig gewesen wäre, hätte man annehmen können, Gatler sei eifersüchtig auf einen Zweijährigen. Dabei war er es doch, der es Achim mit den Einnahmen aus seinem Buch ermöglichte, sich um Lucca zu kümmern – auch wenn Achim das nicht so sah und behauptete, er könnte notfalls allein für den Jungen sorgen. Denoch, ein wenig mehr Dankbarkeit, ein wenig mehr Beachtung hätte Gatler sich schon gewünscht.

Um von Lucca abzulenken, erzählte er von dem leblosen Körper am Straßenrand. „Sie könnte das Opfer eines Auftragskillers gewesen sein“, ließ er seiner Fantasie freien Lauf. „Du weißt schon …“

„Als Idee für ein neues Buch?“ Achim war nicht überzeugt. „Zu abgedroschen. Wie wäre es, wenn sie eine Großmutter ist, die von ihrer Enkelin aus Hass erschlagen wurde?“

„Warum aus Hass? Enkel lieben ihre Großeltern. Normalerweise.“

„Aber nicht in diesem Fall … Die alte Frau könnte für eine Familientragödie verantwortlich sein, den tragischen Tod des Sohnes ihrer Enkelin. Ja, das passt. Könntest du in einem deiner nächsten Krimis verwenden.“

„In einem meiner nächsten? Ich habe noch nicht einmal genug Ideen für einen!“

Kauz seufzte, als wollte er die Selbstzweifel seines Freundes auf der anderen Seite des Atlantiks im Keim ersticken, als hätte er sie schon zu oft gehört, um sie ernst zu nehmen. „Das kommt schon noch.“

„Dianne hat mich gestern zu einem Abstecher in den Central Park geführt“, wechselte Gatler verstimmt das Thema. „Die Farben der Blätter … es würde dir gefallen. Du hättest mitkommen sollen.“

„Und Lucca?“, erwiderte Achim. „Er ist noch zu klein für einen solchen Flug.“

„Herrgott, wir hätten ihn eine Woche bei der Tagesmutter lassen können! Wir hätten jemanden engagiert, der sich rund um die Uhr um ihn gekümmert hätte. Das wäre doch nicht weiter tragisch gewesen!“

„Ich hätte Lucca bestimmt nicht eine Woche bei einem Fremden gelassen!“, sagte Achim mit einer gewissen Schärfe. „Außerdem …“ Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen, aber Gatler wusste, was er meinte.

„Ich hätte dich als meinen Assistenten ausgeben können“, entgegnete er.

„Du hast schon eine Assistentin, die dir zur Seite steht“, erinnerte ihn Kauz. „Und ich will niemanden belügen. Das habe ich nicht nötig.“ Sie schwiegen einen Moment, bis Gatler am anderen Ende der Leitung das Jammern eines Kindes vernahm. „Ja, Lucca, der Papa kommt sofort! – Stefan, ich muss mich um Lucca kümmern. Er hat vierzig Fieber und einen trockenen Husten. Ich werde gleich mit ihm zum Kinderarzt fahren.“

„Schon gut.“ Gatler konnte seine Enttäuschung nur mühsam verbergen. Das Kind hatte immer Vorrang. „Kannst du mich morgen vom Flughafen abholen?“

„Stefan, ich kann Lucca nicht zur Tagesmutter bringen, wenn er krank ist. Nimm dir ein Taxi. Guten Flug!“

„Aber …“ Jetzt hörte Gatler Lucca lautstark weinen und gleich darauf Achims ungeduldige Stimme.

„Ist sonst noch was?“

Und weil sein Freund so erpicht darauf schien, das Telefonat zu beenden, antwortete er: „Nein. Nein, alles gut. Wir sehen uns morgen.“

Neun Jahre zuvor

Dienstag, 18. November – Köln

„Es geht nicht! Es geht einfach nicht!“ Stephen Gatlers Stimme hatte einen verzweifelten, fast hysterischen Unterton. Er starrte mit einer Mischung aus purem Hass und Selbstverachtung auf seine Schreibmaschine, eine alte Olympia mit schwarzem Gehäuse, die auf einen behelfsmäßigen, schmalen Tisch in eine Ecke der viel zu kleinen Wohnung gequetscht worden war, eingekreist von Bücherregalen, halb gepackten Umzugskartons und ein paar Grünpflanzen. Achim fand es lächerlich, dass er darauf bestand, das Manuskript im Computerzeitalter auf einer Schreibmaschine zu tippen, aber es hatte ihm bei Morgentod Glück gebracht, und er wollte sein Schicksal nicht herausfordern.

Überall in der Wohnung lag Kinderspielzeug herum. Am Morgen war er über Bauklötze gestolpert und hätte sich fast den Fuß verdreht. Drei Zimmer und eine winzige Küche, nirgendwo Platz, um in Ruhe zu arbeiten, sich zu konzentrieren. Kein Raum für Notizen oder auch nur ein paar Stifte und Schreibblöcke, seinen Duden oder die Literatur, die er zu Recherchezwecken in Griffweite brauchte. Wie sollte man in dieser beklemmenden Enge arbeiten?

Und dann der ständige, unerträgliche Lärm! Er war zu alt für diese Art von Ablenkung. Kindererziehung war etwas für junge Leute, nichts für jemanden wie ihn, der seine Midlife-Krise schon hinter sich gebracht hatte. Genervt lauschte er dem lautstarken Protest aus dem Zimmer nebenan. Lucca machte gerade eine seiner Trotzphasen durch und weigerte sich standhaft, ins Bett zu gehen, obwohl er völlig übermüdet war. Jedes Mal, wenn Achim ihn hinlegte, begann er wie am Spieß zu brüllen, als würde ihm unter Folter die Haut vom Leib gezogen. Gestern hatte der Junge eine Stunde am Stück geschrien und war durch nichts zu beruhigen gewesen. Gatler war aus der Wohnung geflohen, hatte wütend die Tür hinter sich zugeknallt.

Trotz Regen und Kälte war er am Rheinufer entlanggelaufen, vom Belgischen Viertel hinter den Ringen quer durch die Innenstadt, vorbei an den gähnend leeren Geschäften, bis hinunter zur Bastei, dem in den zwanziger Jahren erbauten Restaurant direkt am Rheinufer, das ihn immer an eine fliegende Untertasse erinnerte. In der Dämmerung war selbst die Anlage der Seilbahn kaum noch zu erkennen gewesen, die im Sommer Ausflügler über den Rhein trug, während der Wintermonate aber stillgelegt war. Nur wenige Menschen waren unterwegs gewesen, mit Regenschirmen bewaffnet und mit gesenkten Köpfen über die Promenade am Flussufer hastend, nicht einmal die Silhouette des Doms wahrnehmend, die dunkel unter den Regenwolken lag. Gatler jedoch hatte die Tropfen ignoriert, die die Windböen in seinen Mantelkragen und seine Schuhe trieben, war weiter und weiter gelaufen, weil er die Unruhe zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte. Kein Wunder, dass er mit dem Schreiben nicht vorwärtskam!

Am meisten störte ihn das Kind, wenn es am frühen Morgen ins Schlafzimmer kam und sich im Bett zwischen Achim und ihn drängelte, um mit seinem Papa zu kuscheln. Dann kam sich Gatler überflüssig vor, ausgeschlossen. Idiotisch, eifersüchtig auf einen sabbernden kleinen Jungen zu sein. Einmal war ihm im Halbschlaf ein verärgertes „Verschwinde!“ herausgerutscht, worauf ihm Achim eine Szene gemacht hatte und er sich bei Lucca entschuldigen musste. Er, ein Autor mit Millionenauflage! Aber Achim konnte seine Abneigung nicht verstehen; er vergötterte Lucca. Um dem alltäglichen Chaos und dem Lärm zu entgehen, hatte Gatler zwischenzeitlich sogar ein Büro angemietet, um in Ruhe zu schreiben, doch die Stille war genauso unerträglich gewesen, hatte ihn ausgelacht, hatte ihn erdrückt, hatte ihm sein Versagen nur allzu deutlich vor Augen geführt.

Und jetzt starrte er seit einer geschlagenen Stunde auf denselben Fleck des in die Schreibmaschine gespannten Blatt Papiers. Die Handlung bewegte sich nicht von der Stelle, so wie schon seit Wochen, seit Monaten. Es trieb ihn in den Wahnsinn, verursachte ihm Magenschmerzen und ließ ihn an sich selbst zweifeln. Hin und wieder setzte Gatler an, schrieb eine Zeile, vielleicht sogar einen ganzen Absatz, nur um nach wenigen Minuten die Seite aus dem Wagen herauszureißen und das Papier zusammenzuknüllen, weil nichts davon gut genug war. Worthülsen, leeres Geschwafel. Unzählige Male hatte er das bisher Geschriebene dem Vergessen anheimgegeben, aber sosehr er sich auch mühte, es gelang ihm einfach nicht mehr, einen Spannungsbogen aufzubauen, seine Figuren zum Leben zu erwecken. Sie waren wie Schaufensterpuppen, Karikaturen menschlicher Existenz, ohne Tiefgang, seelenlos. Niemand würde das je lesen wollen. Inzwischen begann er sich vor dem Moment zu fürchten, in dem er sich vor die Schreibmaschine setzte, einen neuen selbstquälerischen Anlauf nahm, um seine Blockade zu überwinden. Sogar einen Pakt mit dem Teufel würde er eingehen, wenn er nur wieder schreiben könnte.

Dabei war er eigentlich ein begnadeter Sprachakrobat, jemand, der den Leser mit wenigen Worten, mit nur ein paar Andeutungen in Angst und Schrecken versetzen, eine Atmosphäre der Furcht erzeugen konnte. Er hatte es mit Morgentod doch bewiesen!

Doch nachdem sich der erste Hype um seinen Debütroman gelegt, die Anfragen zu Lesungen langsam verebbt waren und er endlich die ersehnte Zeit hatte, mit einem zweiten Krimi an den Erfolg anzuknüpfen und zu beweisen, dass er mehr war als ein One Hit Wonder, war die Schreibmaschine zu seinem Feind geworden, zu seinem Folterknecht. Sosehr Stephen Gatler sich auch abmühte, den Nachfolger seines Bestsellers zu Papier zu bringen: Alles, was er bisher zustande gebracht hatte, waren ein sechsseitiges Exposé und knapp vierzig Seiten Text. Und mit jedem Tag, der verstrich und an dem er nicht vorwärtskam, rückte der Abgabetermin näher, nahm der Druck zu. Der Verlag hatte schon über eine Werbekampagne diskutiert, Anzeigen gekauft, Interviewtermine in Radio und Fernsehen sondiert. Alles kaum noch zu halten, weil er, der Autor, unter einer Schreibblockade litt.

Gatler stand auf und ging ans Wohnzimmerfenster, sah dem Regen zu, der gegen die Scheiben prasselte. Seit einer Woche goss es, von kleineren Unterbrechungen abgesehen, ständig. Ein Tief nach dem anderen jagte über den Atlantik und hüllte die Stadt in ein schmuddeliges, unansehnliches Grau. Die Abwasserkanäle auf den Straßen wurden mit dem Wasser nicht mehr fertig, und der Fluss war für die Schifffahrt gesperrt worden; zu groß war das Risiko gefährlicher Strömungen. Wie sehr er den Frühling herbeisehnte!

Unten auf der Straße grölten die Stimmen von Jugendlichen vom Brüsseler Platz herüber, die sich trotz des ungemütlichen Winterwetters nicht die Feierlaune verderben ließen. Flaschen klirrten, leere Bierdosen schepperten über die Straße. Aus der Bar um die Ecke schallte dröhnend Hip-Hop-Musik nach draußen, wenn die Tür aufgestoßen wurde. Wenigstens das würde aufhören, sobald Achim und er umgezogen waren.

Vor sechs Monaten hatte Stephen Gatler endlich ein standesgemäßes Haus in Hahnwald gekauft, ruhig gelegen, von hohen Mauern umgeben, finanziert durch die Tantiemen des ersten Krimis, den Vorschuss auf den zweiten und ein Steuersparmodell, das die Kaimaninseln involvierte und von der Kanzlei eingefädelt worden war, die seine Finanzen verwaltete. Die Gründerzeitvilla war seitdem von Grund auf renoviert worden, Handwerker hatten neue Wasser- und Stromleitungen verlegt, eine Terrasse zum Garten hin angebaut. Eigentlich war der Umzug für den Spätsommer geplant gewesen, aber natürlich hatte es Verzögerungen gegeben: Schimmelbefall in der Eingangshalle, ein morscher Fußboden in der Küche, ein Streit mit den Nachbarn über unklare Grundstücksgrenzen. Alles Dinge, mit denen Gatler nicht gerechnet hatte und die ihn immer wieder aufs Neue ablenkten. Aber nun wollten die Anstreicher in zwei Wochen fertig sein. Weihnachten war das neue Zuhause bezugsbereit, und er, Gatler, hatte dann ein eigenes Arbeitszimmer im Erdgeschoss – weitab von Luccas Zimmer auf der anderen Seite des Hauses im ersten Stock. Nur dass er nicht mehr sicher war, ob die neue Umgebung etwas an seiner Schreibblockade ändern würde. Sie fühlte sich mehr und mehr endgültig an, auch wenn Achim nichts davon hören wollte, wenn Gatler ihm seine quälenden Zweifel beichtete und er ihm Mut zusprach.

Er zuckte zusammen, als er die Hand seines Freundes auf der Schulter spürte. Er hatte derart mit sich gehadert, dass er Achim nicht hatte kommen hören. „Ist er endlich eingeschlafen?“

Sein Freund nickte. „Gott sei Dank.“

Gatler betrachtete seinen mehr als zwanzig Jahre jüngeren Lebensgefährten. Achims tiefschwarze Haare waren mit Gel zurückgekämmt, nur eine einzige widerspenstige Strähne fiel ihm immer wieder in die Stirn. Die dunklen, rotgeäderten Augen und die fast unnatürliche Blässe seiner Haut ließen erkennen, wie übermüdet er war; die schmale, weiße Narbe am rechten Mundwinkel, die von einem Unfall in seiner Kindheit herrührte, verzog seine Oberlippe zu einem angedeuteten, ironischen Lächeln.

Groß und schlank, mit ebenmäßigen Gesichtszügen, glatt rasiert und wie meist schwarz gekleidet, strahlte Achim Kauz eine distanzierte Schönheit aus, eine gewisse Unnahbarkeit, die Gatler von Anfang an genauso angezogen hatte wie seine ungewöhnliche Geschichte, als sie sich vor drei Jahren kennengelernt hatten: Das späte Coming-out und dann der „Unfall“, der kurz vor der Trennung von Corinna zur Zeugung seines Sohnes geführt hatte. Nur dass damals niemand hatte ahnen können, dass Corinna eine Karriere als Architektin in den USA ihrer Rolle als Mutter vorziehen und Lucca Achim überlassen würde. Gatler war nicht sicher, ob er eine Beziehung mit Achim eingegangen wäre, wenn er das vorher gewusst hätte. Er hatte einen Liebhaber gewollt, einen Partner, einen Bewunderer. Nicht einen Vater, der tatsächlich in dieser Rolle aufging und ihn mehr und mehr vernachlässigte.

Kauz deutete auf die Schreibmaschine. „Mehr Glück gehabt heute?“ Ein behutsamer Unterton lag in seiner Stimme, als spräche er mit einem Patienten, dessen Genesung fraglich war.

Gatler schüttelte den Kopf. „Nur Mist“, murmelte er. „Nur Mist.“

„Wenn wir erst mal drüben in Hahnwald sind, wenn erst mal dein Arbeitszimmer eingerichtet ist …“

Kauz versuchte, zuversichtlich zu klingen, aber auch er hatte bemerkt, wie lange sich Gatler schon vergeblich abmühte. Anfangs hatte er es als vorübergehendes Phänomen abgetan. Litt nicht jeder Schriftsteller irgendwann einmal daran, insbesondere, wenn dem neuen Projekt ein so großer, nicht abzusehender Erfolg vorausgegangen war? Hieß es nicht, dass der zweite Roman immer der schwerste war? Aber inzwischen, nachdem aus Wochen Monate geworden waren, begann er zu zweifeln. Vielleicht hatte sein Partner nur diese eine Geschichte erzählen können, vielleicht war er tatsächlich ausgeschrieben. Diesen Gedanken konnte er allerdings unmöglich äußern, Stefans Nerven lagen sowieso blank. Aber es musste eine Lösung her: Der Vorschuss war für ihr neues Zuhause draufgegangen. Stefan konnte ihn nicht zurückzahlen, er musste liefern, und zwar bald. Sie saßen in der Zwickmühle.

„Und wenn du einfach neu anfängst?“, schlug er vorsichtig vor.

„Noch mal? Die Zeit läuft mir davon!“, jammerte Gatler. „Herbrand sitzt mir im Nacken. Er hat letzte Woche fast jeden Tag angerufen!“ Franz Herbrand, Gatlers Lektor, ließ tatsächlich nicht locker.

„Lass mich wenigstens die Kapitel lesen, die du schon hast, Stefan! Damit wir vorwärtskommen. Damit ich weiß, ob der Plot trägt! Damit ich Schäfer-Kussnacht beruhigen kann!“

Gatler hatte kein Wort darüber verloren, dass er bisher nur magere vierzig Seiten vorzuweisen hatte.

„Apropos“, wechselte Kauz schnell das Thema. „Anke müsste gleich da sein. Willst du dich noch umziehen?“

Die 22-jährige Studentin hatte schon häufiger auf Lucca aufgepasst; Kauz hatte den Babysitter über einen Zettel am Schwarzen Brett eines Supermarktes gefunden. Lucca und die Frau mit dem herzförmigen Gesicht und den langen braunen Haaren waren sofort ein Herz und eine Seele gewesen.

„Umziehen? Wofür?“

Kauz runzelte die Stirn. „Wir sind mit Herbrand und Sandra zum Essen verabredet. In …“, er sah auf die Armbanduhr, „in genau vierzig Minuten.“

„Hab ich total vergessen. Müssen wir dahin? Er wird mich die ganze Zeit löchern!“

„Anke ist schon auf dem Weg. Außerdem … ich mag Herbrand.“

„Er ist ein Idiot“, murrte Gatler.

Herbrand, im gleichen Alter wie er, ein kleiner Mann mit Nerdbrille, hoher Stirn und einem Faible für schlecht sitzende Cordhosen, schwelgte oft in Erinnerungen an die Frühphase der Grünen, als er 1980 in Karlsruhe geholfen hatte, den ersten Bundesparteitag zu organisieren. Gerne ließ er in Gespräche einfließen, wie eng er mit „der Petra“, „der Jutta“ oder „dem Otto“ zusammengearbeitet hatte, etwas, das Gatler auf den Tod nicht ausstehen konnte, zumal er nicht viel für die Grünen übrighatte. Ökospinner und Weltverbesserer, die die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen.

„Ach, Unsinn. Er ist amüsant. Außerdem …“

„Ja, ja, schon gut.“ Gatler konnte sich denken, wieso Achim Herbrand mochte. Sein Lektor war einer der wenigen im Verlag, die wussten, in welcher Beziehung Kauz zu Gatler stand und der nicht auf ihn herabblickte, als wäre er ein überflüssiges Anhängsel, ein Klotz am Bein des berühmten Autors. Vielleicht hing es damit zusammen, dass Herbrand selbst in einer Patchworkfamilie lebte; Sandra Matuschek, seine langjährige Partnerin, hatte zwei Töchter in die Beziehung mitgebracht und er einen Sohn. Ansonsten waren nur Hannes Lipscheid und Rebecca Walters – Gatlers deutscher Agent und seine englische Agentin – sowie sein Verleger Armin Schäfer-Kussnacht in die wahre Natur ihrer Beziehung eingeweiht. Und natürlich Elke Fiebig, die PR-Frau des Verlags. Doch der Verleger, ein homophober alter Kauz, der auch für das englische Pseudonym des Autors verantwortlich war, ignorierte Gatlers Lebensgefährten konsequent bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie zusammentrafen.

Das Restaurant, in dem sie verabredet waren, lag nur wenige Gehminuten entfernt am Pantaleonswall. Trotzdem nahmen die Männer aufgrund des Regens ein Taxi, das sie in eine Ecke der Stadt brachte, die seit Jahren von den Stadtplanern mehr oder weniger ignoriert wurde. Weit weg von den üblichen Touristenattraktionen Kölns wurde hier nur hin und wieder in einer Baulücke ein neues Projekt in Angriff genommen, doch im Großen und Ganzen fristeten die vielen drei- und viergeschossigen Mietshäuser seit den sechziger Jahren ein Schattendasein, drängten sich mit grauen Fassaden an die schlecht asphaltierten, mit Schlaglöchern übersäten Straßen. Einziger Blickfang des Pantaleonsviertels war die namensgebende Kirche mit dem dazugehörenden Kloster, beides bestand schon seit der ersten Jahrtausendwende, gestiftet von Otto dem Großen.

Das Restaurant versuchte sich dem Trübsinn seiner Umgebung mit moderner Glasarchitektur entgegenzustemmen. Die Frontseite des Erdgeschosses war verglast, der Innenraum in unterkühltem Design gehalten: weiße Wände und Säulen, helles Parkett, schlichte schwarze Stühle und eine langgezogene, geschwungene Bar an der Längsseite, was dem Raum im Sommer einen lichtdurchfluteten, offenen Charakter verlieh. Jetzt, im November, vermittelte die gläserne Außenfront eher das Gefühl von nur unzureichendem Schutz vor dem schlechten Wetter. Der Inhaber des Restaurants hatte sich der Slow-Food-Bewegung verschrieben, daher verwendete die Küche vorwiegend regionale und saisonale Produkte. Anscheinend kam das Konzept gut an, denn als Kauz und Gatler eintrafen, waren fast alle Tische besetzt von einem mehrheitlich jungen Publikum, das es sich leisten konnte, für das gute Gewissen einer Slow-Food-Speisekarte ein paar Euro mehr zu bezahlen.

„Kann ja nur auf Herbrands Mist gewachsen sein“, beschwerte sich Gatler und deponierte seinen Regenschirm in einer umfunktionierten Bodenvase neben dem Eingang. „Der springt doch auf jeden Öko-Zug auf.“

Der Lektor und seine Lebensgefährtin saßen schon an einem Tisch direkt vor der Fensterfront und gaben den beiden ein Zeichen. Herbrand begrüßte sie mit einem Handschlag, Sandra Matuschek mit zwei Küsschen auf die Wange.

Aber wie Gatler vorausgesehen hatte, war der Abend kein Erfolg. Sein Lektor bohrte schon beim Aperitif nach, wie weit das Manuskript gediehen war, auch wenn Matuschek und Kauz immer wieder versuchten, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Franz, lass es gut sein jetzt.“ Herbrands Freundin, eine blonde, großgewachsene Frau, die den Lektor um einen ganzen Kopf überragte, legte ihm warnend die Hand auf den Arm. „Wir wollen einen netten Abend verbringen. Lass das Geschäftliche im Verlag.“

Kauz nickte zustimmend.

Herbrand nahm seine Brille ab und putzte die Gläser energisch mit der Serviette. „Ja, schon gut … es ist nur …“ Er beugte sich über den Tisch und sah Gatler eindringlich an. „Wie willst du das denn hinkriegen, Stefan? Die Zeit bis zur Veröffentlichung reicht kaum noch! Selbst, wenn du mir heute ein fertiges Manuskript hinlegen würdest … der Krimi ist fest fürs Frühjahrsprogramm gebucht!“

„Man könnte ihn doch einfach in den Herbst verschieben“, schlug Kauz vor.

Herbrand sah ihn entsetzt an. „Weißt du, was der Alte dann mit mir macht?“

„Wer? Schäfer-Kussnacht?“

„Er verspeist mich zum Frühstück und spuckt mich auf dem Klo wieder aus.“

Kauz zuckte mit den Schultern. „Er schuldet Stefan was. Weiß doch jeder, dass Stefans Erfolg den Verlag vor der Pleite gerettet hat!“

„Da weißt du mehr als ich.“

„Die anderen bekannten Autoren hatten doch alle schon ihre Fühler zur Konkurrenz ausgestreckt, um nicht mit dem sinkenden Schiff unterzugehen.“

„Woher hast du denn diese Informationen?“ Herbrand sah Kauz mit großen Augen an. „Das ist doch dummes Zeug!“

„Herrgott noch mal!“ Gatler hatte die ganze Zeit geschwiegen und seinen Aperitif so schnell wie möglich hinuntergekippt. Plötzlich schlug er wütend mit der flachen Hand auf den Tisch. „Du kriegst deinen verdammten Krimi schon noch, Franz! Er ist fast fertig, in Ordnung? Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!“

Kauz warf seinem Freund einen überraschten Blick zu, sagte aber nichts.

Herbrand hob abwehrend die Hände. „Mehr wollte ich doch gar nicht wissen!“

„Na, Gott sei Dank!“ Matuschek vertiefte sich erleichtert in die Karte, die ihnen der schwarzlivrierte Kellner in diesem Moment reichte. „Können wir jetzt bitte von etwas anderem reden?“ Sie wandte sich Kauz zu. „Wie geht’s Lucca?“

Kauz lächelte angespannt. „Er ist gerade ein bisschen anstrengend, um ehrlich zu sein. Trotzphase.“

Matuschek lachte. „Du Ärmster! Das kenne ich noch von Paula. Sechs Wochen war ihr Lieblingswort ‚Nein‘.“

Dennoch war die Stimmung für den Abend verdorben. Gatler blieb während des Essens einsilbig und stocherte lustlos in seiner Pasta herum, und Kauz gab es nach ein paar fruchtlosen Versuchen auf, ihn in das Gespräch mit einzubeziehen. Alle vier waren erleichtert, als sie sich neunzig Minuten später vor der Eingangstür des Restaurants voneinander verabschiedeten.

„Lass uns das Stück laufen“, sagte Gatler abgespannt, als Kauz den Weg zum nächsten Taxistand einschlug. „Es ist noch früh.“

Der Regen hatte endlich eine Pause eingelegt. Die Luft war feucht und kalt, während sie auf den Ring abbogen, der sie über den Barbarossaplatz direkt nach Hause führte.

„Du warst heute keine besonders angenehme Gesellschaft“, merkte Kauz an. Hin und wieder brauste ein Auto an ihnen vorbei, und Gatler und er hielten den größtmöglichen Abstand zur Straße, um nicht nassgespritzt zu werden. „Du könntest dir ein bisschen mehr Mühe geben.“ Gatler reagierte nicht. „Und warum hast du Herbrand angelogen? Du bist doch gar nicht fast fertig!“

Gatler vergrub seine Hände in den Manteltaschen. „Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden“, brummte er unzufrieden.

„Aber damit hast du alles nur noch schlimmer gemacht!“

„Das weiß ich selbst!“

„Soll ich noch mal mit ihm reden? Das Ganze als Missverständnis darstellen?“

Gatler schüttelte den Kopf. „Zwecklos. Alles zwecklos.“

Achim Kauz seufzte. „Sich in Selbstmitleid suhlen, bringt dich auch nicht weiter.“

„Willst du mich nicht verstehen?“, brüllte Gatler ihn plötzlich an und blieb stehen. „Es geht nicht mehr! Ich bin leer! Ausgeschrieben! Es ist sinnlos! Tag für Tag sitze ich vor dieser verdammten Schreibmaschine und fühle es! Da ist nichts mehr drin!“ Er tippte sich an den Kopf, dann sackte er plötzlich zusammen und musste sich an einem Laternenpfahl abstützen. Alles vorbei! Der große Traum von der Schriftstellerei schon nach einem Buch ausgeträumt. Es war erniedrigend. Er würde zu einer Witzfigur werden im Literaturbetrieb, einer Randnotiz, einer Fußnote. Ein Stern, der einen Augenblick hell geleuchtet hatte und dafür umso schneller erloschen war.

Kauz beobachtete ihn nachdenklich. „Du meinst das wirklich ernst, oder?“

„Natürlich meine ich es ernst!“, fauchte Gatler ihn an. „Sonst würde ich mich nicht so miserabel fühlen!“

„Und wenn …“

„Was?“

„Ich weiß nicht …“ Kauz biss sich auf die Unterlippe. „Mir ist gerade etwas eingefallen.“

„Was denn?“ Gatler sah seinen Freund fast schon flehentlich an.

„Nein, vergiss es.“

Hinter dem Rudolfplatz bogen sie ab ins Belgische Viertel. In den Fenstern der Wohnungen leuchteten die ersten festlichen Dekorationen.

Kauz freute sich auf Weihnachten. Er würde Lucca einen kleinen Roller schenken, und er dachte darüber nach, seinen Sohn als Mitglied beim FC einzuschreiben. Noch zwei, drei Jahre, dann würde er mit ihm zusammen das erste Heimspiel der Kölner im Rheinenergie-Stadion besuchen, für das er eine Dauerkarte besaß. Für Stefan hatte er sich noch kein Geschenk überlegt. Was schenkte man jemandem, der an allem etwas auszusetzen hatte, der ewig unzufrieden war? Kauz gähnte. Das Essen hatte ihn träge gemacht. Er hoffte, dass Lucca dem Babysitter keinen Ärger bereitet hatte und schon schlief.

Doch als sie nach Hause kamen, stand die Wohnungstür weit auf, und das Licht flutete in das dunkle Treppenhaus. Mit einer bösen Vorahnung hastete Kauz die letzten Treppenstufen nach oben in den ersten Stock, Gatler kam etwas langsamer hinterher.

„Anke? Lucca?“

Aber die Wohnung war leer. Achim Kauz’ Sohn war spurlos verschwunden. Innerhalb weniger Sekunden brach das Leben von Stephen Gatlers Lebensgefährten auseinander und verwandelte sich in einen Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.

Jemand hatte in aller Eile ein paar Sachen des Jungen zusammengepackt, sich das Kind geschnappt und beides mitgenommen. Nur das Kinderbett und die Spielsachen waren zurückgeblieben.

Zwei Monate zuvor