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Karin Welters

Bruders Reise

Im Viehwaggon nach Auschwitz





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Bruders Reise

Ein Roman von Karin Welters -

 

 

Prolog

 

Dieser Roman ist aus Textfragmenten entstanden, die Anton-Andreas Guha verfasste, aber nicht als vollständigen Text hinterließ, der veröffentlicht werden konnte. Zu viele Seiten fehlten, Lücken mussten geschlossen werden und das Ende sogar erst noch geschrieben werden – einschließlich intensiver Recherche, um das Ende der Geschichte in eine schlüssige Zeitangabe einzubetten. Insofern lieferten die Fragmente eher einen Denkansatz, denn ein veröffentlichungsreifen Text.

 

Nie hätte ich geglaubt, was diese Textfragmente

 

 – Bruders Reise

 

mit mir und in mir anstellte.

 

Als ich die Fragmente vor mir liegen hatte, begriff ich, dass hier tatsächlich ein Roman erst verfasst werden musste. Darauf war ich zwar nicht vorbereitet, sah mich jedoch durchaus imstande, der Herausforderung, daraus ein veröffentlichungsreifes Buch zu schaffen, gerecht zu werden. Aber… nachdem ich inhaltlich in die Textfragmente eingetaucht war, erlebte ich mich völlig verwirrt.

Konnte es reiner Zufall sein, dass ‚Bruders Reise‘ die Geisteshaltung von Hans Jonas, einem der bedeutendsten jüdischen Philosophen und Literaten mit Mönchengladbacher Wurzeln, auf frappierende Weise widerspiegelte?

War es reiner Zufall, dass mich das Geschriebene von Toni Guha bis ins tiefste Innere berührte?

Mir schlaflose Nächte bereitete? Mir? Einer Frau, die drei Kinder geboren hat und sich an acht Enkelkindern erfreut? Mir, die ich mit 66 Jahren glaubte, das Wesentliche im Leben begriffen zu haben?

 

Weit gefehlt!

 

Als Nachkriegskind, das von den Eltern im Sinne der Verdrängung, der Verleugnung und des Totschweigens über deren Erfahrungen zwischen 1933 und 1945 erzogen wurde, habe ich Filme und Berichte der Nazizeit zwar zur Kenntnis genommen, mich jedoch nie tiefgehend damit beschäftigt. Irgendwann erlebte ich eine Art innerer Sättigung der Thematik und schaltete ab, wenn es um die Geschichtsschreibung der NS-Zeit ging, zu der ich keinen Bezug hatte; die mich nicht berührte, mich irgendwie nicht betraf.

Und welche 17-Jährige interessierte dieses Thema in den 68ern? Die Woodstock-Berichte, die Beatles und die Flower-Power-Bewegung in San Francisco waren zu jener Zeit weitaus interessanter!

Und heute?

Was interessiert die heutigen 17-Jährigen?

Haben wir nicht genug andere Sorgen? Andere Schauplätze auf Erden, die unsere ganze Aufmerksamkeit verlangen?

Der schreckliche Syrien-Krieg; die Gräueltaten des so genannten IS; die unerträglichen Umstände, unter denen Frauen in Indien um ihre Daseinsberechtigung kämpfen – und oft mit dem Leben bezahlen; die Radikalisierung in Deutschland – scheinbar ausgelöst durch Flüchtlingsströme, die in den Menschen Ängste wecken – und von Demagogen aller Couleur skrupellos für eigene Zwecke gezielt geschürt werden? Und… und… und… Nigerias Boko Haram, Pulverfass Naher Osten, Brexit, Putschversuch in der Türkei, Griechenlands Eurokrise, die Krim-Annexion, Atomraketentests in Nord-Korea, das Wahlergebnis in den USA…

Und dann bohrt sich ein Stapel von Textfragmenten in mein geistiges Knochenmark. Von einem Autor, der 2010 verstarb.

Anton-Andreas Guha behandelt das Thema Nationalsozialismus aus einer Perspektive, die mich beim Lesen schon sehr bald an Berthold Brechts Mutter Courage erinnerte.

Brechts Absicht, dem „kleinen Mann“ nahezubringen, dass es niemals ein „Arrangement mit dem Krieg“ geben kann, übertrug Guha auf die Zeit des Nationalsozialismus. Brechts Theaterstück spielt Mitte des 17. Jahrhunderts – Guhas Romanentwurf im 20.  Jahrhundert.

Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Bruders Reise ebenso den Weg auf die Bühnen der Welt findet.

Guha verlagert die Örtlichkeit zwar ins 20. Jahrhundert – aber mit derselben Botschaft, derselben Absicht und auf demselben Niveau wie Brecht.

Für mich ist Guhas Romanansatz Bruders Reise eine Art ‚Neuauflage‘ von Mutter Courage – mit anderen Schauplätzen, anderen Figuren – aber immer noch mit derselben Intention und derselben Botschaft.

Er ist aus meiner Sicht ein sehr würdiger Nachfolger Berthold Brechts, der – im Sinne von Hans Jonas – das beweist, was Jonas in seinem Hauptwerk >Das Prinzip Verantwortung< schrieb:

 

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

 

In Bruders Reise erfährt der Hauptprotagonist diese Wahrheit und Weisheit unmittelbar, schonungslos und – im wahrsten Sinne des Wortes – viehisch am eigenen Leib: Die Wirkungen seiner eigenen Handlungen.

Lassen Sie sich berühren. Lassen Sie die Schrecken einer vergangenen, aber niemals zu vergessenden Zeit in sich erstehen. Die Wahrheit und Weisheit sowohl von Hans Jonas‘ Gedankengut wie auch dessen Umsetzung in Bruders Reise sollten meiner Meinung nach zur Pflichtlektüre in jeder Schule erhoben, gemeinsam gelesen und bearbeitet werden.

 

Lassen Sie sich auf Ihre beim Lesen aufsteigenden Gefühle ein!

Es lohnt sich!

 

In diesem Sinne lege ich Ihnen Toni Guhas letztes Vermächtnis, Bruders Reise, direkt ans Herz. Lassen Sie Ihren Intellekt erst in zweiter Instanz zu Worte kommen. Glauben Sie mir – es wird ihm (dem Intellekt) schwerfallen, angemessene Worte für Ihr Empfinden, Ihr Erleben aufzutreiben.

Guhas Denkansatz in Bruders Reise wird – genau wie Berthold Brechts Mutter Courage – noch in Jahrzehnten aktuell sein, denn… leider scheint die Spezies Mensch nicht bereit zu sein, aus vergangenen Fehlern zu lernen.

 

Ganz persönliche, herzliche Grüße an Sie

Karin Welters