1. Kapitel: Gestatten, Willi!


Ich wohne im Dorf Gansenwald. Nach mehr als siebenhundertsiebzig Kilometern kam ich hierher. Laut Tachometer. Wir Fahrzeuge zählen nicht in Jahren, wie es Menschen tun. 

Ich stand zunächst auf dem Gelände eines Fahrzeug-Vertriebs im Norden Deutschlands und wartete blankgeputzt darauf, dass mich jemand braucht und kauft und in mich einsteigt und ... Ich träumte Tag für Tag davon, über die Straßen zu rollen. Ich hörte immer wieder davon, dass diese Firma, der ich damals gehörte, zwischen Elbe und Nordsee liegt. Nicht weit weg vom Meer! Das wollte ich mir unbedingt anschauen. Mitsamt dem Käufer, den ich mir so wünschte. Doch es kam anders.

Jetzt lebe ich in der Garage neben dem Haus einer Familie mit zwei Kindern. Weit weg vom Meer! Oliver ist sieben Jahre alt, Schwester Klara fünf Jahre. Ihre Mama Conni war bis zu meinem Eintreffen Fahrradchauffeurin. Sie radelte täglich nach Moldendorf. Bis zu diesem Ort sind es, von Gansenwald aus, drei Kilometer. Täglich Fahrrad fahren. Bei jedem Wetter. Ist ja sehr gesund. Macht aber überhaupt keinen Spaß im strömenden Regen, mitten im Gewitter oder gegen starken Wind, mit Taschen am Lenker und einem gefüllten Korb auf dem Gepäckträger. Was Connis Fahrrad alles auszuhalten hatte, davon werde ich noch berichten.

Bevor ich nach Gansenwald kam, fuhr Oliver mit seinem Drahtesel vor Connis Rad. Er geht in die erste Klasse der Grundschule in Moldendorf. Seine Schwester besucht tagsüber den Moldendorfer Kindergarten. Sie wird während der Hin- und Rückfahrt auf dem Kindersitz platziert, der an Connis Fahrrad befestigt ist. Klara nimmt die blaue Stullentasche und ihren Teddy Fridolin mit. Den Teddy braucht sie zum Kuscheln beim Mittagsschlaf. Hat mir Friederike erzählt. Von ihr später mehr.

Papa Anton wusste aus der eigenen Kindheit, wie es sich anfühlt, zu allen Jahreszeiten per Fahrrad unterwegs zu sein. Bei Regenwetter legte er das Rad von Oliver in den Kofferraum seines Trabbis und brachte den Jungen zur Schule. Doch wegen der häufigen Dienstreisen war Anton nicht immer zur Stelle. Ein Auto für Conni musste her! So kam es, dass Anton mich während einer Dienstfahrt entdeckte. Seine Wahl fiel auf mich, weil Conni die Fahrerlaubnis für einen Traktor hat. 

Das klingt merkwürdig, aber immer der Reihe nach. Natürlich bin ich ein Auto, was denn sonst! Ein Fiat Panda, magmarot lackiert. Und ein besonderer Fiat, ich fahre langsamer als gewöhnliche Autos: ich trage eine „25“ am Heck. Deshalb darf Conni mit ihrer Fahrerlaubnis meine Chauffeurin sein. Mir wurde ein kleiner Zauberkasten in den Motorraum eingebaut. Dieser Zauberkasten bremst mich. Ich darf nicht so schnell wie andere Autos fahren. Den kleinen Kasten behalte ich, bis Conni die Fahrerlaubnis für ein normales Auto macht. Dann wird der Kasten wieder ausgebaut und ich bringe Conni schneller zur Arbeit nach Wildberg. Sie ist in einem Blumengeschäft tätig. Conni mag mich sehr. Oft schaut sie abends durchs Küchenfenster hinüber zur Garage. Das Licht aus der Küche spiegelt sich in meinem Lack. Als ich hier angeliefert wurde – was war das für ein aufregender Novemberabend! 

3. Kapitel: Friederike


Klingelingeling, sprach mich jemand in der dunklen Garage an.


Was ist denn jetzt los?


Ich bin’s, das Fahrrad. Ich heiße Friederike, und wie ist dein Name?


Ach so, hallo! Ich heiße Fiat Panda.


Bisher transportiere ich die Mama und die Kinderchen. Was ich alles erlebt habe! Ich hab schon fast zehn Jahre auf dem Sattel. Vor Jahren lackierte Conni mein Gestell mit himmelblauer Farbe. Ich könnte einen frischen Anstrich gebrauchen. Sag mal, plappere ich zu viel?


Macht mir nichts aus.


Kannst du ein bisschen Musik anstellen? 


Tut mir leid, Friederike, hab kein Radio in meinem Bauch.


Schade. Na, jedenfalls bin ich froh, dass du endlich angekommen bist. Conni erzählte den Kindern während der vergangenen Woche andauernd, dass sie dich erwartet. Bin schon fast eifersüchtig geworden. Doch nun können sie mit dir bequem, bei Wind und jedem Wetter, überallhin fahren. Und nichts verlieren. Es ist schon vorgekommen, dass unbemerkt Klaras Teddy von mir heruntergefallen ist. Während der Fahrt. Der Teddy war in eine offene Tasche auf dem Gepäckträger gelegt worden. Auf der Heimfahrt nach Gansenwald fragte Klara nach ihrem Teddy. Conni hielt an, wollte ihn aus der Tasche ziehen, doch er lag nicht mehr drin! Klara fing an zu weinen und war kaum zu trösten. Conni schaute sich ratlos um. Da kam uns die Postfrau auf ihrem Fahrrad entgegen. Haben Sie den Teddy auf der Straße verloren? Sie stoppte und zog ihn aus der Posttasche. 


Tja, Friederike, so etwas wird mir wohl nicht passieren.


Mehr wurde an diesem Abend nicht gequatscht. Ich war müde, Friederike wurde still. Sie dachte sicher an bevorstehende Fahrten. Ich musste mich leider bis zum Samstag gedulden, dann erst hatte die Familie für mich Zeit. Papa Anton nahm mich an jenem Tag mit seiner Videokamera auf, als ich vor der Garage stand. Ein kurzes Filmstück zeigt Conni beim Fahren mit mir, Klara winkt aus dem Fenster. Conni übte auf den nahegelegenen Feldwegen, mit Anton auf dem Beifahrersitz, das Anfahren und Anhalten. Immer wieder. Und das Benzin wurde schon fast knapp. So viel hatte ich ja nicht im Tank. Anton fühlte sich jedenfalls wie ein richtiger Fahrlehrer. Conni übte das Rückwärtsfahren, sie schaltete vom ersten in den zweiten Gang und zurück. Der dritte und vierte Gang sind bei mir „stillgelegt“. 

An einem anderen Vormittag übte Conni bei leichtem Regen auf den Feldwegen das Fahren. So konnte sie meine Scheibenwischer ausprobieren, die natürlich tadellos funktionierten. Leider wurde mein Fahrgestell ziemlich mit lehmiger Erde bekleckert. Und nicht abgeputzt! Irgendwie muss die Zeit knapp gewesen sein. Conni erwähnte etwas von der „Geburtstagsfeier ihrer Mutter“, die in Birkenstadt wohnt.

Mittags holte Anton einen Kanister Benzin von der Tankstelle für mich. Ah! Das tat gut. Mein „Fass“ war inzwischen nur noch mit knapp einem Viertelliter Benzin gefüllt.

Conni wartet auf meinen Kfz-Brief, hörte ich. Das ist ein unheimlich wichtiges Dokument für mich! Verflixt, wo bleibt denn der Brief?

Einen Abend später kam ein Versicherungsvertreter, meinetwegen! Und kurz danach klingelte die Nachbarin und überbrachte den ziemlich großen Brief, der bei ihr abgegeben worden war. Ich hatte nachmittags die Postfrau gesehen, die vergeblich bei uns klingelte. Conni, Anton und die Kinder waren ja außer Haus, und ich konnte leider nicht an das Gartentor rollen und den Brief in Empfang nehmen. Der passte einfach nicht in den Briefkasten. 

Wie ich später hörte, steckte im großen Umschlag mein Kfz-Brief. So ein Glück, dass der Versicherungsvertreter an jenem Abend bei uns war!

Auf richtigen Straßen durfte ich ohne Kennzeichen nicht fahren. Diese langweiligen Feldwege nervten mich! Immer bloß üben. Vorwärts- und Rückwärtsgang und das ständige Schalten. Ich wollte endlich auf die Straße. Oft übte Conni das Fahren in die Garage und das Hinausfahren. Dazu muss sie im richtigen Moment einen Schlenker machen, damit ich nicht an den Wänden und dem uralten, dicken Apfelbaum entlangschramme. Warum wurde die Garage ausgerechnet in diese Ecke des Grundstücks gestellt? Werde ich wohl nie verstehen.

Bevor ich endlich auf die richtige Straße hinausfahren durfte, musste Conni mich bei der Zulassungsstelle in Wildberg anmelden. Du wirst es kaum glauben, doch dafür brauchten sie und die Kinder einen ganzen Tag! 

4. Kapitel: Geduldsprobe