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Ab 1840 lädt der Mären Ralph Waldo Emerson von ihm bewunderte Schriftsteller nach Concord, Massachusetts, ein. Was hier entsteht, wird nicht nur die Bewohner der Kleinstadt in Aufruhr bringen, sondern auch die amerikanische Kultur grundlegend verändern. Die außergewöhnliche Künstlergruppe bricht mit allen Anstandsregeln: Nathaniel Hawthorne und Ralph Waldo Emerson verlieben sich gleichzeitig in die exzentrische Margaret Fuller, Louisa May Alcott schwärmt für ihren viel älteren Lehrer Henry David Thoreau – der wenig später sein epochales Werk Walden schreiben wird –, sie diskutieren, unternehmen Streifzüge durch die Wälder Neuenglands, lesen sich gegenseitig Manuskripte vor, ernähren sich vegetarisch, leben asketisch und ersinnen feministische Ideen.

American Bloomsbury ist die Geschichte dieser frühen Aussteiger und Verfechter eines alternativen Lebensstils. Und es ist das fesselnde Zeugnis ihrer amourösen und intellektuellen Begegnungen.

SUSAN CHEEVER wurde 1943 geboren. Sie hat zahlreiche Romane und Sachbücher verfasst und in Zeitungen und Zeitschriften wie dem New Yorker, der New York Times und Newsweek veröffentlicht. Derzeit lehrt Cheever an der New School und lebt in New York.

EBBA D. DROLSHAGEN übersetzt Sachbücher und Literatur aus dem Englischen, Norwegischen und Dänischen und hat u. a. Edvard Hoem und Lisa St Aubin de Terán ins Deutsche übertragen.

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Ein Leben zwischen Liebe, Inspiration
und Natursehnsucht

Henry David Thoreau, Louisa May Alcott,
Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller
und Nathaniel Hawthorne

Aus dem Englischen von
Ebba D. Drolshagen

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2017
© 2006 by Susan Cheever

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfoto: Design Pics, plainpicture, Hamburg

eISBN 978-3-458-75226-4

www.suhrkamp.de

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Inhalt

Eine Anmerkung für den Leser

Vorwort

I

1 Concord, Massachusetts

2 Die Ankunft der Alcotts

3 Louisa,das gezähmte Mädchen

4 Eine verliebte Louisa …Henry David Thoreau

5 Sic Vita

6 Zwei Lieben

7 Ellen Sewall

8 Geld

9 Emerson bezahlt

10 Zwei Todesfälle

11 Der Fluch von Salem

12 Hawthorne taucht auf

13 Die Hinrichtung

14 Eine weitere Dreiecksbeziehung

II

15 Bronson AlcottVom Hausierer zum Pedanten

16 Fruitlands

17 Sexualität

18 Thoreau geht nachNew York City

19 Die Feuerwand

20 Der Waldensee

21 Margaret FullerDie berückende Muse

22 Rom

23 Das Margaret-Gespenst

24 Hawthorne verlässt Salem endgültig

25 Stockbridge

26 Melville

27 Die Eisenbahn

28 Gemeinschaft

29 Ohne Margaret

III

30 Louisa May Alcottkommt zurück

31 Louisa in Boston

32 Und wieder Concord

33 Walden, Walden

34 Thoreau heute

35 Abschied von Walden

36 Geburt und Tod derMargaret Fuller

37 Das Schiffsunglück

38 Die Hawthornes kehrennach Concord zurück

39 Präsident Frank

40 Bajonette und Gewehrkugeln

41 Der lokale Märtyrer

IV

42 Thoreaus Tod

43 Louisa in Washington

44 Heimkehr und Krankheit

45 Hawthorne lebtin Unfrieden

46 Tod

47 Betty und ihre Schwestern

48 Emerson und das Feuer

Chronologie

Danksagungen

Anmerkung zu den Literaturangaben

Literatur

Für meine Kinder,
die dieses große Abenteuer mit mir bestanden.

Ich glaube, das Leben auf dem Dorf erspart uns einiges. Hier in Concord strömt die Milch des Lebens, Wind und Dyspepsie lenken uns nicht so närrisch ab. Der Wahnsinn nimmt einen sanfteren Verlauf. Die Menschen gehen angeln und kennen den Geschmack ihres Fleisches. Im Wäldchen beschneiden sie ihren Hartriegel, sie wissen Nützliches über Sonne und Ostwind, darüber, wie man ein Haus untermauert und ein Dach deckt, über die Beschaffenheit des Bodens, über seine Senken.

– Ralph Waldo Emerson, Tagebücher

Für ein wahrhaftes Buch zu jedwedem Thema gibt es immer genügend Raum und Anlaß, so, wie es am hellsten Tag Raum für mehr Licht gibt, und mehr Strahlen die ersten nicht stören werden.

– Henry David Thoreau (Tagebuch 13.März 1841)

Eine Anmerkung für den Leser

Dieses Buch begleitet fünf Hauptpersonen und Dutzende ihrer Freunde und Angehörige über einen Zeitraum von etwa fünfundzwanzig Jahren, genauer gesagt: von 1840 bis 1868. Hinzu kommen einige wenige Ereignisse aus den 1870er und 1880er Jahren.

Ich habe mich bemüht, die Geschichte zum einen chronologisch zu erzählen, zum anderen jeden meiner Protagonisten die relevanten Ereignisse durchleben zu lassen. Aufgrund dieser Struktur überschneiden sich manche Szenen, manche Ereignisse werden mehr als einmal erzählt. So wird ein wichtiger Wendepunkt beispielsweise erst aus Hawthornes, dann aus Emersons oder Louisa May Alcotts Perspektive geschildert und schließlich als Ganzes dargestellt. Ein Block von zwei oder drei Kapiteln dreht sich jeweils um eine Person, jede der fünf Personen steht im Lauf des Buches vier Mal im Mittelpunkt.

Auf diese Weise habe ich versucht, den Personen, ihrem Leben und ihren engen Beziehungen untereinander gerecht zu werden.

Vorwort

Im Januar 2000 erhielt meine Agentin eine Anfrage, ob sie jemanden kenne, der oder die ein Vorwort für eine Neuauflage von Betty und ihre Schwestern schreiben könne. Als ich sie zufällig wenige Minuten danach wegen etwas ganz anderem anrief, fragte sie mich, ob ich vielleicht daran Interesse hätte. Ja, sagte ich. Betty und ihre Schwestern war eins jener Bücher, die ich vor Ewigkeiten gelesen und seinerzeit sehr gemocht hatte. Wurde es in einem Gespräch erwähnt, reagierte ich mit einem komplizenhaften Seufzer, tatsächlich aber waren meine Erinnerungen daran äußerst vage; ich hatte den Film gesehen. Und obwohl ich als Kind in Concord eine langweilige Pflichtbesichtigung im Alcott House absolviert hatte, wusste ich über Louisa May Alcott so gut wie nichts.

Das Buch erstaunte mich, denn es war keineswegs jene Aneinanderreihung von Plattitüden, an die ich mich zu erinnern meinte. Es war eine äußerst präzise Familiengeschichte, elegant und mit bemerkenswertem Talent geschrieben. Der Plot trug auch anderthalb Jahrhunderte nach seinem Entstehen noch, er blieb spannend, obwohl ich wusste, was geschehen würde. Alcott zeichnete ihre Personen so, dass sie lebendig wurden, die Szenen waren voll sinnlicher Details und von einer solchen Dichte, dass sie mir realer erschienen als das Zimmer, in dem ich gerade saß. Sie schrieb glasklar und mit sanfter Ironie, ihr Stil fesselte mich.

Ich begann, Bücher über sie zu lesen, verschlang die Biographien von Martha Saxton und Madeleine Stern und stellte fest: Die Frau war noch interessanter als ihr Werk. Mit Freude entdeckte ich, dass das Vorbild für Laurie, den Nachbarsjungen in Betty und ihre Schwestern, vermutlich Henry David Thoreau war, in den Louisa sich verliebt hatte – oder war es doch Ralph Waldo Emerson, der tatsächlich direkt neben den Alcotts wohnte? Der geliebte, abwesende Vater der March-Mädchen war Bronson Alcott, einer der Begründer der Reformpädagogik. Das Buch, das ich in meinen jungen Jahren als Mädchenroman gelesen und gemocht hatte, war in Wahrheit das facettenreiche Porträt mehrerer amerikanischer Schriftsteller, die zur selben Zeit am selben Ort gelebt hatten.

Bald drehte sich mein Leben praktisch nur noch um die Männer und Frauen, die später als Transzendentalisten bekannt werden sollten. Dabei entdeckte ich immer mehr Literaten, deren bedeutendes Werk eine Folge ihrer Nähe zu anderen bedeutenden Literaten war. Ich dachte an F. O. Matthiessens kühne Behauptung, ausnahmslos alle Meisterwerke der amerikanischen Literatur seien zwischen 1850 und 1855 entstanden. Es sollte etwas dauern, bis ich begriff, dass sie auch in gerade einmal drei Häusern geschrieben worden waren.

Ich gab mein Vorwort zu Betty und ihre Schwestern ab und schrieb einfach weiter.

I

1

Concord, Massachusetts

Wo die sumpfigen Wiesen unterhalb des Cambridge Turnpike steil zur Lexington Avenue aufsteigen, liegt eine Kreuzung, die aussieht wie jede andere Kreuzung in Neuengland; sie ist umringt von Ahornbäumen, im Sommer wird sie von üppigem Gras, im Winter von zusammengeschobenen Schneehaufen gesäumt. Etwas oberhalb der Kreuzung stehen zwei Holzhäuser und auf der Straßenseite gegenüber, von einer weiten Rasenfläche umgeben, ein weißes Haus mit säulenbestandenem Eingang. Es ist eine jener Villen des neunzehnten Jahrhunderts, die ein Kaufmann erbaut und bewohnt haben könnte. Doch diese Kreuzung ist nicht wie jede andere.

In den drei Häusern wohnten zu unterschiedlichen Zeiten Ralph Waldo Emerson mit Familie, Henry David Thoreau, Bronson Alcott und seine Tochter Louisa May, Nathaniel Hawthorne sowie Margaret Fuller. Ihre Nachbarn waren Henry James und sein Vater, Emily Dickinson, Oliver Wendell Holmes, Henry Wadsworth Longfellow und Horace Mann; ihre Freunde und Kollegen Walt Whitman, Herman Melville, Henry Ward Beecher und Edgar Allan Poe. Fast alle amerikanischen Meisterwerke des neunzehnten Jahrhunderts – Walden, Der scharlachrote Buchstabe, Moby-Dick und Betty und ihre Schwestern, um nur einige zu nennen – entsprangen diesem Freundeskreis und der Landschaft um das Städtchen Concord, viele Gedanken über die Rolle von Männern und Frauen, über Natur, Erziehung, Ehe und Literatur, die unsere Welt bis heute prägen, nahmen hier ihren Anfang.

Wir mögen diese Männer und Frauen als starre Daguerreotypien sehen, tatsächlich aber verliebten sie sich ineinander und entliebten sich wieder, quälten einander in leidenschaftlichen Dreiecksbeziehungen, lasen untereinander ihre Texte und redigierten sie, diskutierten nächtelang und spazierten Arm in Arm unter Concords hohen Ulmen. Sie kämpften sich mit Pferd und Wagen durch den Frühjahrsmorast, schwammen im Sommer im Concord River, pflückten im Herbst zusammen Äpfel. Sie alle trauerten, als die Emersons ihren fünfjährigen Sohn verloren, sie freuten sich, als Anna Alcott John Pratt heiratete.

Gemeinsam kämpften sie für Abstinenz und gegen Sklaverei, ihre Vorlesungen hielten sie in Concords Lyzeum, so benannt nach Aristoteles’ Lehranstalt am Rande Athens. Damit drückten sie ihre Bewunderung für das antike Griechenland aus, außerdem lernten und lasen sie Griechisch, schmückten ihre Salons und Arbeitszimmer mit Plato- und Sokratesbüsten, bevorzugten die Architektur des Greek Revival.

Sie kauften und verkauften alles Mögliche untereinander; gelegentlich wurde hart verhandelt, andere Male zwischen Geschenk und Kauf nicht klar unterschieden. Thoreau überredete Hawthorne, ihm das Boot Musketaquid abzukaufen, das er selbst gebaut hatte. Die Hawthornes kauften von Bronson Alcott eine ehemalige Schweinefarm, die dieser selbst von Grund auf renoviert und umgebaut hatte, Alcott zog mit seiner Familie in eine halbe Ruine auf dem Nachbargrundstück. Dafür lieh Emerson ihm Geld, Emerson lieh immer allen Geld. Wenn Hawthornes Frau ihre Schwester besuchte und er mit dem fünfjährigen Sohn Julian allein war, kam Herman Melville vorbei, um ihm zu helfen.

Louisa May Alcott verliebte sich erst in Thoreau, der ihr Flötenständchen brachte, dann in Emerson. Dieser Yankee-Platon, wie Alcott ihn nannte, lieh ihr Romane über junge, verführerische Mädchen und ihre älteren Lehrer, aus dem Deutschen übersetzt von seiner engen Freundin Margaret Fuller. Emerson seinerseits schrieb sich Liebesbriefe mit Margaret Fuller, die als Gast in seinem Haus logierte. Fuller kam bei einem Schiffsunglück vor Fire Island, New York, ums Leben, was Louisa May Alcott in einem Roman thematisiert. Moods, so dessen Titel, handelt von einer jungen Frau namens Sylvia, die in zwei Männer zugleich verliebt ist: in einen Intellektuellen, der an Emerson erinnert, und einen zweiten, der wie Thoreau in der Natur zu Hause ist. Als Moods erschien, verfasste Henry James eine negative Rezension. Später diente ihm die ebenso liebenswerte wie eigensinnige Jo March in Louisa May Alcotts Betty und ihre Schwestern als Vorbild für die Figur der forschen und unabhängigen Amerikanerin Isabel Archer in seinem Roman Bildnis einer Dame.

Als Emerson nach Europa reiste, gab er seinen Haushalt samt Ehefrau und Kindern in Thoreaus Obhut, als er zurückkam, war das Haus zu klein für alle. Darum lieh Thoreau am Waldensee ein Stück Land, das Emerson gehörte, und baute sich eine kleine Hütte. Sie alle liebten Concord; Hawthorne nannte es »Eden«. Emerson schrieb, er habe dort seine besten Tage verbracht, Louisa May Alcott sagte, ihre Zeit in Concord sei »die glücklichste meines Lebens« gewesen. Henry James nannte Concord »die größte Kleinstadt Amerikas«.

Warum kam es um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in einem abgeschiedenen Städtchen westlich von Boston zu einer solchen Eruption schöpferischen Genies? Lag es an der politischen Situation, die so erhitzt war, dass die Wahlbeteiligung achtzig Prozent betrug? Lag es daran, dass kaum einer aus dieser Gruppe Alkohol trank, dass sie sich karg und vegetarisch ernährten und notorisch Geldsorgen hatten? War es ihr starker Familiensinn? War es schlicht der Zeitgeist?

Concord liegt etwas oberhalb der Stelle, wo Sudbury und Assabet zusammenfließen und den Concord River bilden, der Ort ist seit 1635 besiedelt. Er bestand damals im Wesentlichen aus Farmen und Weideland und zählte etwa 2000 Einwohner, viele von ihnen stolze Nachfahren jener Männer, die, in Emersons Worten, »den Schuss abfeuerten, den die ganze Welt hörte«, womit er jenen Schuss meinte, der am 19. April 1775 zum Unabhängigkeitskrieg gegen England führte.

Seit dem antiken Rom gibt es Theorien, wie es dazu kommt, dass mehrere geniale Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zusammenfinden. Der Philosoph Velleius, der über Platon, Aristoteles, Aischylos, Aristophanes, Euripides und Sophokles schrieb, meinte, Genie wecke Neid und das ziehe aus zweierlei Gründen junge Männer an: Sie kommen, um zu lernen, und sie kommen in der Hoffnung, wie ihre Lehrer zu werden und diese schließlich zu übertreffen. Forschungen der letzten Jahre haben ergeben, dass äußere Umstände, politische Gegebenheiten, das geographische Umfeld und soziale Kräfte mitunter auf eine Weise zusammenwirken, die eine ungewöhnliche Talentdichte zur Folge hat. »Eine Häufung genialer Menschen ist vermutlich nicht zufällig, denn ein genial Begabter zieht weitere genial Begabte an«, meinte William Foege und dachte dabei an eine andere Gruppe außergewöhnlicher Männer: Amerikas Gründungsväter Washington, Madison, Jefferson und Franklin.

Wenn diese vier die Väter der amerikanischen Politik waren, waren die Männer und Frauen von Concord fraglos die Väter und Mütter der amerikanischen Literatur, sie bildeten Amerikas ersten literarischen Zirkel. Auf sie gehen unsere Gedanken zu Umwelt- und Tierschutz zurück, sie betonten als Erste die immense Bedeutung des Individuums. Sie glaubten an Gefühle. »Die Unitarier dachten, der Mensch sei seinem Wesen nach vortrefflich«, schrieb Paul Brooks in The People of Concord. »Die Transzendentalisten hielten ihn für göttlich.« Sie waren die ersten Berufsschriftsteller des Landes, sie ersannen mit dem nicht-belletristischen Memoir eine neue Literaturgattung und schufen eine neue Art von Roman, der sich um Frauen und deren häusliches Leben drehte.

Sie lebten und arbeiteten unter Bedingungen, die für uns heute nahezu unvorstellbar sind. Seit der Kolonialzeit war der Alltag im Großen und Ganzen unverändert geblieben, erst im frühen neunzehnten Jahrhundert tauchten binnen kurzer Zeit viele jener Annehmlichkeiten und Hilfsmittel auf, die uns heute selbstverständlich erscheinen. Eine Welt ohne Elektrizität und wirksame medizinische Behandlung, eine Welt, in der es normal war, dass Kinder starben und die meisten Menschen nicht alt wurden, eine Welt ohne Empfängnisverhütung, Narkose, Impfungen, Zentralheizung, Klimaanlage und Telefon – in einer solchen Welt hatte Zeit eine andere Qualität. Die Menschen waren der Natur notgedrungen näher, als wir es jemals sein werden; sie verließen sich auf Freunde und Nachbarn, weil sie keine andere Wahl hatten.

Sie waren vielen körperlichen Unannehmlichkeiten ausgesetzt, was zu einem Idealismus beigetragen haben mag, der mitunter so fanatisch wurde, dass er den gesunden Menschenverstand beeinträchtigte. Sie waren Intellektuelle mit hohen moralischen Ansprüchen, Männer und Frauen, die – zumindest meist – nach Prinzipien lebten, in deren Mittelpunkt etwas anderes stand als Wärme im Winter und regelmäßige Mahlzeiten. Doch ihr Kampf um das, woran sie glaubten, war so kompromisslos, dass sie am Ende ihre eigenen Ideale verrieten. Als der Bürgerkrieg näher rückte, war der intellektuelle Zirkel desorientiert und zerstritten. Ihre hohe Moral wandelte sich in Selbstgerechtigkeit, sie ließen sich durch die angemaßte Autorität eines John Brown und anderer Männer wie er blenden. Sie wurden zum Opfer ihrer eigenen Arglosigkeit.

Diese Geschichte beginnt 1840 mit der Ankunft der Alcotts in Concord. Die Kapitel folgen dem Leben von Louisa May Alcott, Emerson und Thoreau, Hawthorne und Margaret Fuller. So wird beispielsweise die Rede davon sein, wie sich Louisa May Alcott, krank und wütend, 1868 hinsetzte und ein Buch für junge Mädchen schrieb, das zu einem der erfolgreichsten Romane aller Zeiten werden sollte. Mein Buch endet im Jahre 1882 mit Ralph Waldo Emersons Tod. Aber es erzählt nicht nur von den Ideen der Transzendentalisten und davon, wieso diese Ideen die Identität einer ganzen Nation prägen konnten; es geht um Dreiecksbeziehungen und die Schwierigkeiten, Kinder großzuziehen, um Trauer, Inspiration, falsche Ratschläge und leidenschaftliche Freundschaften, um das Auf und Ab des alltäglichen Lebens und nicht zuletzt um die Jahreszeiten in einer kleinen Stadt Neuenglands.

2

Die Ankunft der Alcotts

Wäre der Mensch beliebig formbar, Louisa May Alcott wäre die ideale Tochter gewesen. Ihr Vater Bronson Alcott glaubte, dass es möglich sei, Kinder mit der richtigen Erziehung in einen Zustand friedlicher Harmonie zu versetzen – solange diese Erziehung durch einen Mann mit hohen moralischen Prinzipien geschah, wie er selbst einer war. Um diesen Idealzustand zu erreichen, beschloss er, mit seiner Familie nach Concord, Massachusetts, zu ziehen, wo er intellektuelle Gefährten im Allgemeinen und Ralph Waldo Emersons Bewunderung im Besonderen zu finden hoffte – außerdem hatte Emerson angeboten, die Miete der Alcotts zu übernehmen.

Von Boston kommend, rumpelte die Pferdekutsche an einem späten Nachmittag des Frühlings 1840 in Concord ein. Die erschöpften Pferde zogen den Wagen vorbei am Waldensee und dem Sumpfgebiet und schließlich über den Monument Square in die Stadt. Nach einer Reise von über drei Stunden kam die Kutsche mit der Familie im Wageninneren und dem Gepäck auf dem Dach vor der langen Veranda des Middlesex Hotel zum Halten, unter einer gewaltigen Ulme band der Kutscher die Zügel an einen Pfosten. Die Familie, die ausstieg, sich streckte und einen ersten Blick auf ihre neue Umgebung warf, war selbst für eine Stadt im Neuengland der 1840er aufsehenerregend.

Der Vater war ein hochgewachsener Mann mit blondem Haarschopf und ausgeprägter Adlernase. Er trug einen breitkrempigen, hellbraunen Hut und schwarze, abgetragene Kleidung und schwang dazu einen glänzenden Spazierstock. Sein Verhalten verriet, dass er es gewohnt war, gehört zu werden, er beugte sich etwas nach vorn, um die Fragen seiner drei schnatternden Töchter besser verstehen zu können, so, als sei er ein bedeutender Lehrer, sie seine eifrigen Schülerinnen. Das war Bronson Alcott, Gründer der Temple School in Boston, der unlängst für einige lokale Skandale gesorgt hatte und schließlich bankrott gegangen war.

Alcotts Bostoner Konversationen, öffentliche Foren, wo er Vorträge über Themen wie »Die Kultur des Menschen«, »Der Mensch« oder auch »Der Charakter« hielt und Fragen dazu beantwortete, hatten Emerson so fasziniert, dass er Alcott versicherte, er werde in Concord nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch ein interessiertes Publikum für seine Beiträge finden. Emerson liebte und förderte Alcott, sein linkisches, jungenhaftes Wesen munterte ihn immer auf. »Ich müsste über meine Zeit und mein Land wahrlich schlecht denken, wenn sie seine herausragende Seele nicht bemerkten«, schrieb er. Als Alcott wegen seiner Schriften von der Presse angegriffen worden war, hatte Emerson ihn in wütenden Briefen verteidigt, das Scheitern der Temple School schrieb er allein der Dummheit der modernen Kultur zu. Für ihn war Boston eine Stadt im intellektuellen Fieberwahn. In dem beschaulichen Concord hingegen, im gemächlichen Rhythmus eines dörflichen Lebens, konnten Männer Bedeutendes ersinnen, ohne von anderer Leute Ansichten und Regeln gestört zu werden.

Wenig später lockte Emerson Nathaniel Hawthorne von der nahe gelegenen sozialutopischen Siedlung Brook Farms in Roxbury fort und sorgte dafür, dass Hawthorne und seine Frau Sophia Peabody in einem weiteren Emerson-Haus unterkamen, dem ehemaligen Pfarrhaus Old Manse am anderen Ende der Stadt, unweit der Old North Bridge und dem Concord River. Old Manse war von Emersons Großvater William erbaut worden, fast sechzig Jahre lang hatte Reverend Ezra Ripley dort gewohnt und das Haus, als er 1841 starb, seinem Sohn Samuel vererbt, einem Geistlichen in Waltham. Emerson war oft dort gewesen, in einer Studierstube im ersten Stock hatte er seine berühmte Abhandlung Natur geschrieben. Zur Begrüßung der Jungverheirateten schickte er seinen Freund Henry David Thoreau mit dem Auftrag zum Old Manse, einen Blumen- und Gemüsegarten anzulegen, der bei der Ankunft der Hawthornes blühen sollte.

Sophia Peabody hatte bei den Emersons logiert, bevor sie Hawthorne heiratete; ihre Schwester Elizabeth besaß eine Buchhandlung in der Bostoner West Street, die zu einem Mittelpunkt des literarischen Lebens geworden war. Sophia, eine begabte Künstlerin, hatte von Emersons geliebtem, 1836 verstorbenem Bruder Charles ein Basrelief angefertigt, woraufhin Emerson sie einlud, seine Familie in Concord zu besuchen. Als Sophia ihm schrieb, sie freue sich auf lange Gespräche mit ihm, hatte er sie in seiner Antwort auf Abstand gehalten und stattdessen auf Bronson Alcott verwiesen. »Mr. Alcott, der größte Unterhalter von allen, lebt keine Meile von uns entfernt, wir werden ihn, wie wir es häufig tun, zu Hilfe holen«, schrieb er.1

Lizzie Peabodys Buchhandlung war auch der Schauplatz von Margaret Fullers ersten Konversationen – Vorträgen und Diskussionsrunden für Frauen, die Fuller mit der erklärten Absicht veranstaltete, in einer Welt, wo Frauen kein College besuchen, nicht wählen, oft genug nicht einmal über eigenen Besitz verfügen durften, etwas gegen deren mangelnde Bildung zu tun. Fullers erste Vortragsreihe, über griechische Mythologie, bei der es auch um Prometheus, Bacchus sowie um Venus als ein »Musterbeispiel instinktiver Weiblichkeit« ging, war ein immenser Erfolg, sie plante eine zweite Reihe, zum Thema Schöne Künste. Fuller war zudem damit beschäftigt, die erste Ausgabe von The Dial herauszugeben, das Magazin mit fliederfarbenem Umschlag, das in den zwei Jahren seines Bestehens das Sprachrohr für Emerson und seine Freunde werden sollte.

Emerson, Alcott, Fuller sowie ihr Nachbar Henry David Thoreau, der mit seiner Familie in der Stadt lebte, gehörten einer Bewegung an, die gerade unter dem Namen Transzendentalismus bekannt wurde. Offiziell nahm alles seinen Anfang mit Treffen, die Frederic Henry Hedge organisierte, der Sohn eines Harvard-Professors, dessen Essay über Cleridge Emerson begeistert hatte.

Hedge, von Beruf Pfarrer, war nach Bangor, Maine, gezogen, aber Concord fehlte ihm. Um mit seiner alten Gemeinde in Verbindung zu bleiben, begann er 1836 in Cambridge eine Reihe von Zusammenkünften zu organisieren. Hedge’s Club, wie er ursprünglich hieß, gehörten unter anderen James Freeman Clarke, Emerson und Bronson Alcott an, später kamen Thoreau, Theodore Parker, Margaret Fuller und Elizabeth Peabody hinzu. Die Transzendentalisten, die im Hedge’s Club zusammenkamen, waren die ersten Hippies – jung, smart und wildentschlossen, das spießige Establishment samt seinen verstaubten Werten zu stürzen.

Dazu gehörte der alte Calvinismus der Puritaner ebenso wie der angewandte Humanismus des neuenglischen Unitarismus. Der Transzendentalismus vergöttlichte die Natur und kreiste um deren Rätsel und Wunder, die gelegentlich sogar wichtiger wurden als die Sorge darum, genug zu essen zu haben und seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er ersetzte Lockes Metaphernverbot mit Kants moralischem Imperativ. »Gottlos ist ein Zeitalter frei von Wundern«, schrieb Alcott mit der für ihn typischen Verachtung für eindeutige Formulierungen. Gelegentlich nannte er den Transzendentalismus »die Neuerung«. Alcott war begeistert von der Idee von Concord, das er immer Concordia nannte.

Concords Transzendentalisten-Zirkel war Teil einer Welle des Liberalismus und des leidenschaftlichen Eintretens für eine Freiheit, die sich überall in den neuen Vereinigten Staaten ausbreitete. Jahrzehntelang hatten sich Puritaner unverdrossen geplagt, waren freudlose Bauern vor Tagesanbruch aufgestanden, um die Felder zu bestellen, hatten neue Regierungen ein Regelwerk nötiger Gesetze und Erlasse geschaffen – nun war der Kampf ums schiere Überleben gewonnen.

Die Wildnis war einmal ein bedrohlicher Ort gewesen, der gebändigt werden musste; jetzt war die »Natur« eine freundliche Umgebung, die man genießen konnte. Die Welt veränderte sich, es war Zeit, ordentlich auf den Putz zu hauen. Zwischen den 1830er und 1840er Jahren einerseits und den 1960ern andererseits gibt es viele Parallelen, persönlicher Wagemut stand hoch im Kurs, alte Regeln schienen plötzlich samt und sonders völlig unbrauchbar. »Neue Haltungen sprossen wie Blumen im Mairegen«, schreibt Van Wyck Brooks in seinem Buch The Flowering of New England. »Man hörte die Flöte auf dem Feld. Bauern und Dorfschneider blieben stehen und sahen den Vögeln beim Nestbau zu. Sie machten Waldspaziergänge. Sie notierten, an welchem Tag die Wildblumen aufblühten. Sie registrierten die kleinen Tragödien der Natur, denen bislang niemand Beachtung geschenkt hatte … Sie pflückten die ersten Leberblümchen und die ersten Maiglöckchen, die ihre Väter noch unbeachtet mit den Stiefeln zerquetscht hatten.«

Selbst der ernste, gutaussehende Nathaniel Hawthorne war gegen diesen Überschwang nicht gefeit: »Ich will meinen Ort, meinen eigenen Ort, meine wahre Heimstatt in dieser Welt«, schrieb er. »Ich will meine eigene Sphäre, mein Ding.«2

Der Poesie, die bislang als prätentiös und frivol gegolten hatte, kam plötzlich eine zentrale literarische Bedeutung zu. Häuser, lange Zeit als Schutz gegen die Elemente der Natur so schlicht wie möglich erbaut, erstrahlten mit Portiken und Säulen im Stil des Greek Revival. Vielerorts kamen Menschen zusammen, um ehrfürchtig mitzuerleben, wie die nachtblühende Cereus – eine erst kürzlich aus Mexiko importierte Kakteenart – ihre magischen, langen Blütenblätter entrollte.

Die Befreiung vom Diktat des Puritanismus und von Neuenglands harten Lebensbedingungen setzte neue Energien frei, was einen Blick ins Ausland und eine Begegnung mit Ideen und Schriften ermöglichte, die in Amerika bislang unbekannt waren. Emerson und seine Kollegen suchten in Deutschland und Griechenland nach neuen, inspirierenden Gedanken. Der einflussreiche, in London lebende Schriftsteller Thomas Carlyle, ein Schotte, hätte sie mit seinem Denken nicht stärker beeinflussen können, wenn er im nahen Lexington gewohnt hätte.

Die neue Generation der Concord-Intellektuellen war von Carlyle und seinen rätselhaften Fragen wie verzaubert – »Haben Polsterer dieses Universum gemacht? Wurdest du vom Schneider erschaffen?«; sie waren berauscht von Freiheit, Müßiggang und den Möglichkeiten eines Lebens, das ausschließlich um Gedanken und Genüsse kreiste. Das Abrücken von der unitarischen Theologie ging bei den Transzendentalisten mit dem Versuch einher, in das schon damals hierarchisch organisierte amerikanische Demokratiesystem einen neuen, revolutionären Populismus einzuführen. Vor allem Emerson wollte die bestehende intellektuelle Elite, zu der auch das universitäre Harvard gehörte, stürzen und die Tore der amerikanischen Bildung allen öffnen, die über die nötige geistige und emotionale Neugierde verfügten. »Der Mensch hat sich so sehr mit althergebrachten Irrtümern belastet«, schrieb Emerson, »mit Gebräuchen und Zeremonien, Gesetzen, Besitz, Kirche, mit Sitten und mit Büchern, dass ihn seine eigenen Gepflogenheiten fast ersticken.«

Beeinflusst von Kants Kritik der reinen Vernunft, glaubten Emerson, Thoreau, Alcott und ihre Anhänger an die Macht der Intuition. Sie glaubten, dass jedem Manne, sogar der einen oder anderen Frau, ein göttlicher Funke innewohne – jedem Manne bedeutete Armen wie Reichen, den Eremiten wie den Gleisarbeitern und den Landbesitzern. Diesen göttlichen Funken nannten sie »Vernunft«. Manchmal war er ein inneres Licht, manchmal die Stimme Gottes. Andere sahen das direkter – Thoreaus Freund Jones Very hielt sich selbst für den neuen Messias. »Das Ganze ist in jedem Teilchen«, schrieb Emerson. 1842 erläuterte er in einem Vortrag Kants Annahme, dass es »eine äußerst bedeutende Klasse von Ideen – imperative Formen – gibt, die nicht durch Erfahrung erworben sind, sondern durch die Erfahrung erworben wurden: Sie sind die Intuition des Geistes selbst, sie hatten den Status von transzendentalen Formen … alles, was zur Gattung des intuitiven Denkens gehört, wird heute allgemein als transzendental bezeichnet.«3

Diese neue Freiheit blieb von der alten Garde nicht unbemerkt. John Quincy Adams und Andrews Norton in Harvard pflichteten ihrem Kollegen Edward Everett bei, der Emersons neue, unverbrauchte Theorien als »eingebildeten, bemühten Unsinn« bezeichnete.

3

Louisa,
das gezähmte Mädchen

Mrs. Bronson Alcott, die an jenem Nachmittag im Frühjahr nach Ehemann und Kindern aus der Kutsche stieg, war eine aristokratische Frau. Im Juni würde sie mit Alcotts vierter Tochter niederkommen. Doch ihre elegante Haltung und der beschwingte Schritt hatten durch ein Leben mit einem bedeutenden Mann gelitten. Sie trug eine altmodische Haube mit weicher, weiter Krempe, und ein langes Musselin-Kleid. Abigail May, die Abba genannt wurde, war als ernste Tochter eines romantischen, unberechenbaren Vaters aufgewachsen. Oberst Joseph May hatte seinen militärischen Rang in der Revolution erlangt. Abbas Jugend in Boston war ohne attraktive Verehrer verlaufen, schließlich hatte sie sich in Bronson Alcott, einen reisenden Lehrer, verliebt, aber es sollte Monate dauern, bevor er ihre Zuneigung erwiderte. Zunächst schien es, als sei Alcott kein Mann für die Ehe. Bevor er Lehrer wurde, war er Hausierer gewesen, etwas an ihm ließ immer an die Unbeschwertheit des Unterwegsseins denken, daran, dass er bei Unbekannten auf dem Fußboden oder im Heu eines Schuppens am Wegrand schlafen konnte, an eine entspannte, selbstverständliche Bereitschaft, ohne häusliche Bequemlichkeiten auszukommen.

1830 heirateten Abba und Bronson, nach einer langen Zeit des Werbens, hinausgezögert oft unter Bronsons Vorwand, junge Menschen fortbilden oder das Leid der Armen lindern zu müssen. Sie lebten in einer Welt, in der niemand anzweifelte, dass eine Frau sich den häuslichen Pflichten und den Wünschen ihres Ehemannes zu unterwerfen hatte. Der Gedanke, dass eine Frau mehr sein könnte als ein Besitztum oder gar eigenständig denken konnte, grenzte an Häresie. Einige aufrührerische politische Stimmen fragten bereits, ob es moralisch sei, dass ein Mann Sklaven besaß, aber noch fragte niemand, ob es moralisch sei, dass ein Mann seine Ehefrau besaß. Bronson würde seine Familie noch einige Jahre beherrschen, aber schon jetzt kompensierte Abba Alcott seine Defizite, die sie mit seiner hohen Moral entschuldigte, durch eigenes, praktisches Handeln sowie mit Geld, das sie von ihrer Familie lieh.

An jenem Nachmittag 1840 verließ sie die Kutsche erschöpft und in Begleitung ihrer drei Töchter – Anna, die älteste, deren mustergültiges Betragen der Vater in einigen seiner positivsten Abhandlungen über Erziehung schilderte; Lizzie, die jüngste Schwester, deren Liebreiz auch ihr die Aufmerksamkeit des Vaters sicherte, sowie die achtjährige Louisa May, Louy genannt, nicht so hübsch wie die beiden anderen und von Anfang an Rebell der Familie. Ihre Energie und Fantasie schienen von Zeit zu Zeit unzähmbar. Bronson Alcott war tatsächlich fest davon überzeugt, dass blonden und blauäugigen Menschen wie ihm selbst Reinheit des Herzens und Güte der Seele angeboren seien, während dunkle Haare und dunkle Augen sichere Anzeichen für eine dunkle Seele seien.

Louisa war die Dunkle der drei Schwestern, ihr Charakter war angeblich von einem »tief verwurzelten Starrsinn« geprägt, das zumindest behauptete ihr Vater in einem seiner vielen transzendentalistischen Texte über Kindererziehung, dem weitschweifigen und akribischen Traktat Observation on the Spiritual Nurture of My Children. »Weiterhin ist sie das undisziplinierte Objekt ihrer Instinkte.« Da war Louisa ein Jahr alt. Grund für diese Behauptung war, dass sie die zweijährige Anna so geschlagen hatte, dass sich, wie Alcott entsetzt schrieb, »auf deren Wange der Handabdruck der Schwester« abzeichnete. Als Louisa älter wurde, war sie so stürmisch, dass sie glaubte, in ihrem früheren Leben ein Pferd gewesen zu sein, eine Überzeugung, die ihrem Vater gar nicht gefiel. Als sie zehn Jahre alt war, schien ihre Rolle als das böse Kind der Familie bereits festgeschrieben. »Ich habe mich bemüht, zufrieden zu sein, und meine auch, es zu sein«, schrieb sie in demütigem Ton an ihre Mutter, wobei sie gleichwohl darüber klagte, mit ihren Schwestern das Zimmer teilen zu müssen. »Ich denke viel an mein kleines Zimmer, das ich vermutlich nie bekommen werde.« Sie unterschrieb mit »Deine sich bemühende Tochter Louy«.

In gewisser Weise wurde das Tagebuch, das Louisa mit großer Sorgfalt führte, ihr eigenes Zimmer – auch wenn beide Elternteile es lasen und kommentierten. Natürlich scheitert Louisa in diesen Tagebüchern immer, natürlich sind ihre Eltern immer nachsichtig und vorbildlich. »Habe Hausaufgaben gemacht, am Nachm. hat Mutter uns Kenilworth vorgelesen, während wir stickten«, lautet ein typischer Eintrag. »Es ist großartig! Ich wurde böse und nannte Anna gemein. Vater sagte, ich solle das im WöBu nachschlagen, es bedeutet ›nieder‹, ›verachtenswert‹. Ich habe mich geschämt, dass ich meine liebe Schwester so genannt habe, ich habe über meine schlimme Sprache und meine Launen geweint.« In einer Aufstellung der Fehler, die sie ablegen möchte, nennt Louisa Faulheit, Starrsinn, Frechheit, Stolz und ihre Liebe zu Katzen.

Aber es war Frühling in Concord, Fliederduft lag in der Luft, der wilde Wein fiel in Kaskaden über die breiten weißen Veranden der Main Street, Ladengeschäfte säumten den Milldam, wo es früher einmal eine Brücke über die Stelle gegeben hatte, an der der Mill Brook in den Sudbury River floss. Die Apfelbäume blühten, der Fluss schlängelte sich sanft zwischen flachen Böschungen mit Gras, Springkraut und purpurnem Blutweiderich, die Weiden neigten sich zum Wasser hinab und schufen am Ufer wunderbare Verstecke. In den Wäldern wuchsen Flechten und winzige rote Pilze, bildeten Muster auf dem dicken Teppich aus Piniennadeln. Beerenbüsche säumten die Wege, die unbefestigten Straßen waren von hohen, schattenspendenden Ulmen gesäumt. Weiße Lattenzäune rahmten die Main Street, wo sie sich in die beiden Hauptstraßen der Stadt gabelt: Die eine führt in Richtung Old North Bridge, wo an einem Aprilmorgen des Jahres 1775 die amerikanische Miliz den Vormarsch der britischen Rotröcke gestoppt hatte, die andere nach Boston. Concord, Massachusetts, lag schon damals im Zentrum der amerikanischen Geschichte. Seine Stadtväter hatten im achtzehnten Jahrhundert die erste demokratische Verfassung formuliert, Paul Reveres berühmter Ritt führte ihn im April 1775 nach Concord, wo er die Miliz vor den herannahenden britischen Truppen warnte.

Am nächsten Tag packten die Alcotts ihre Koffer aus und richteten sich im Dovecote Cottage ein. Das langgestreckte, weiße Haus, von der Straße getrennt durch einen Lattenzaun samt Eingangstor, gehörte der mit Emerson befreundeten Familie Hosmer. Die Alcotts begannen den Tag, weil der Vater das für gesund hielt, mit ungesäuertem Brot, Wasser und Porridge. Bronson Alcotts Armut und seine Vorstellungen von richtiger Ernährung bescherten der Familie einen frugalen Speiseplan, zu dem Reis, Weizenschrotmehl, gekochter Kürbis und Kartoffeln gehörten – das alles wurde in einem sorgsam gepflegten Stückchen Land hinter dem Haus angebaut. Alcott glaubte, dass körperliche Arbeit und der damit einhergehende Kontakt zur Natur den Charakter stärken.

In Concord nahm er sofort eine Stelle als Holzfäller an, eine Arbeit, für die er eklatant ungeeignet war, denn er war kein sonderlich starker Mann. Er hatte zwar eine geniale Begabung für die Planung fantasievoller Gärten und Gebäude, nicht aber die körperliche Konstitution, die für deren Ausführung nötig war. Er fällte nicht viele Bäume, fuhr aber eine reiche Ernte an Zustimmung ein, sobald er in die Rolle des Philosophen und Farmers, Bürgers und Waldarbeiters schlüpfte. Der sechzigjährige William Ellery Channing, ein unitarischer Pfarrer, dessen Söhne sich beide dem Concord-Zirkel anschlossen, schrieb an Elizabeth Peabody, Alcott sei »mit seiner Verbindung von körperlicher Arbeit und Geisteskraft die interessanteste Person unserer Gemeinde« geworden.4

Abends gab es bei den Alcotts manchmal zum Nachtisch Apfelmus mit braunem Zucker. Wenn die Mädchen unartig gewesen waren, schickte ihr Vater sie ohne Abendessen zu Bett; wenn ihr Vergehen besonders schwer war, strafte er sie, indem er selbst nichts aß.

Anfangs brachte Alcott seinen Mädchen ein Grundwissen bei, das mit großen Dosen transzendentaler Theorie versetzt war. »Eitel ist die Hoffnung, ein Kind in guten Angewohnheiten bestärken zu können«, schrieb Alcott, »solange es Einflüssen ausgesetzt ist, die sich der Kontrolle der Eltern entziehen.«

Bald war Sommer. Louisa erwachte zu den Geräuschen eines neuenglischen Städtchens, die durch das offene Fenster hereindrangen: das Bellen eines Hundes, das dumpfe Aufschlagen eines Schmiedehammers, das Klappern von Pferdehufen, wenn eine Kutsche vorbeifuhr, Männerstimmen. Amerika bekämpfte in Florida die Indianer, Präsident Van Buren hatte Soldaten nach Maine geschickt, die die Grenze gegen die Aroostook-Indianer und die Kanadier verteidigen sollten.

Am Morgen des 4. Juli marschierten nach sechsundzwanzig Salutschüssen die Blechbläser, Trommler und Flötisten der Townsend Light Infantry durch Concords Stadtzentrum. Louisa und ihre Schwestern sahen sich die Parade zum Unabhängigkeitstag an, sie jubelten, als Ochsen eine lange Blockhütte über den Monument Square und den Milldam zogen, vorbei an Shattucks Laden, wo heute das Hotel Colonial Inn steht, vorbei am Haus des Bankiers Samuel Hoar und dem Kolonialwarenladen, wo J. W. Walcott Kaffee, Tee und Zucker von den Westindischen Inseln verkaufte, vorbei am Kurzwarenladen, der Bank und der Concord Gun Manufactory, wo man von Utensilien für die Vogeljagd bis zur sechsschüssigen Pistole alles bekam. Neben den Fahnen flatterten Tippecanoe and Tyler Too-Banner für den Präsidentschaftskandidaten der Whig Party, William Henry Harrison. Harrison trug den Spitznamen Old Tippecanoe, weil er als Soldat einmal eine Schlacht gegen die Indianer gewonnen hatte; als seinen Vizepräsidenten hatte er John Tyler gewählt. Die beiden gewannen im November 1840 die Wahl, doch Harrison starb nach kaum zwei Monaten im Amt an einer Lungenentzündung und Tyler wurde Präsident.