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GUDRUN LIENER / MONIKA BUCHER (HRSG.)

HOCHWASSER: KATASTROPHENALARM IN SELLRAIN

GUDRUN LIENER / MONIKA BUCHER (HRSG.)

Hochwasser:
Katastrophenalarm in Sellrain

Bewohner und Helfer erinnern sich

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Inhaltsverzeichnis

Landeshauptmann Günther Platter
Vorwort

Gudrun Liener
Gewitter über Sellrain

Bericht von AK ABI Ernst Wegscheider

Norbert Jordan

„Die Welt geht unter“

Philipp Haider

„Du kommst fast um vor Angst“

Alexander Haider

„Ein kleiner Scherz und viel schwarzer Humor – auch das hilft“

Christine Haider

„Passt auf euch auf!“

Bericht von AK ABI Ernst Wegscheider

Familie Singer

„Wenn wir sterben müssen, soll es wenigstens schnell gehen“

Angelika Fritz

„Mehr Bescheidenheit und mehr Demut“

Herbert, Melat und Angelika Eberhöfer

„Laufts, laufts, so weit ihr laufen könnts!“

Helga und Ernst Klotz

„Nur mehr das Gebet kann dem Dorf helfen“

Katrin Klotz

„Um Himmels Willen, was ist da passiert“

Michael Klotz

„Ich wusste nicht, ob es mein Opa geschafft hat“

Bericht von AK ABI Ernst Wegscheider

Alfons Gruber

„Eine Schwelle wurde überschritten“

Isabella Gruber

„Eine Brücke bauen zwischen Helfern und Opfern“

Marlies Pertolli

„Wir haben gelernt, mit der Gefahr zu leben“

Sigrid Jordan

„Um Gottes Willen, jetzt kommt der Bach“

Else Deutschmann

„Alleingelassen“

Bericht von AK ABI Ernst Wegscheider

Christoph Kapferer

„Mit Schaudern denken wir an diese Nacht“

Heide Kapferer

„Die halbe Garage hat es einfach weggerissen“

Marion Kapferer

„Nichts als hinaus aus dem Haus!“

Bericht von AK ABI Ernst Wegscheider

Otto Steurer

„Nichts ist uns geblieben“

Helmut und Petra Leitner

„Es bleibt nur die Erinnerung“

Bericht von AK ABI Ernst Wegscheider

Georg und Erika Hornegger

„Herrgott, lass es aufhören“

Marius Schmid

„Eine unheimliche Stimmung, diese Stille“

Albert und Marcel Ziegler

„Ein schreckliches Missverständnis“

Bericht von AK ABI Ernst Wegscheider

Bernhard Zöttl

„Eine Rettung in letzter Minute“

Maria und Josef Motz

„Sie haben mich aus dem Haus getragen“

Georg Jordan

„Noch immer bekomme ich Gänsehaut“

Thomas Reiner

„Wir haben alle eine ‚Scheiß-Angst‘ gehabt!“

Georg Dornauer

„Zeit der Emotionen und Zeit des Handelns“

Bilder der Katastrophe von Sellrain 2015

Schlusswort

Die Herausgeberinnen

Vorwort

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Dieses Buch zeichnet in eindrücklicher und bewegender Art und Weise das Geschehen der Unwetternächte des Juni 2015 in der Gemeinde Sellrain nach.

Dass die Bewältigung dieser Ereignisse so schnell voranschreiten konnte, ist der großen Einsatzbereitschaft vieler ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer, allen Einsatz- und Behördenorganisationen und nicht zuletzt dem Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft sowie dem Engagement und dem Mut der von der Unwetterkatastrophe betroffenen Menschen zu verdanken. Dafür allen ein herzliches „Vergelt’s Gott“.

Insgesamt 45 Gebäude wurden in Sellrain vom Unwetter schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Tiroler Landesregierung hat ein umfangreiches Maßnahmenpaket geschnürt, um den Menschen eine schnelle Rückkehr in ihre Häuser zu ermöglichen und den Siedlungsraum vor Naturgefahren zu schützen. So haben wir insgesamt 14 Millionen Euro an Landesmitteln für die Gemeinde Sellrain bereitgestellt.

Wir lassen niemanden allein: Das war und ist immer mein Motto, wenn es darum geht, Menschen in Not zu helfen. Am Beispiel Sellrain sehen wir, wie die Menschen die Unterstützung angenommen und mit viel Mut und Elan eine neue Zukunft mitgestaltet haben. Als Landeshauptmann von Tirol bin ich stolz auf diese Tirolerinnen und Tiroler, die ihr schweres Schicksal gemeinsam tragen und miteinander meistern.

Ich danke Gudrun Liener, Monika Bucher und allen, die sich für ein Interview in diesem Buch zur Verfügung gestellt haben. Damit stellt dieses Werk nicht nur einen bedeutenden Beitrag für die Gemeindechronik dar, sondern ist auch ein wichtiger Schritt in der Aufarbeitung der schrecklichen Ereignisse aus dem vergangenen Juni 2015!

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Ihr
Günther Platter

Landeshauptmann von Tirol

Gewitter über Sellrain

VON GUDRUN LIENER

Katastrophenalarm hat es in Sellrain noch nie gegeben. Am 7. Juni 2015 aber hat er die Leute im Dorf während eines schweren Gewitters wachgerüttelt. Mit einem Mal ist klar gewesen, dass alles anders ist als sonst. Aber niemand hat gewusst, was wirklich los ist. Und keiner hat zu diesem Zeitpunkt geahnt, was da noch alles kommt. Nach und nach hat sich abgezeichnet, dass Entscheidungen getroffen werden müssen. Entscheidungen darüber, was noch wichtig ist in diesem Moment, in diesen Minuten, außer das eigene Leben zu retten und vielleicht das des Nächsten. Denn die Geräusche der Melach, der Lärm, der Geruch sind ganz anders als sonst.

Und dann, mit einem Mal wird es zur Gewissheit, und es ist wie der Weltuntergang. Es ist, als wären alle Furien losgelassen. Die Gewitterwolken über der Gemeinde Sellrain entladen sich und bleiben vier Stunden, wo sie sind. Es schüttet wie aus Kübeln, es kracht und donnert, es rauscht und brüllt, die Hänge ringsum beginnen zu rutschen. Und dann der Seiges. Wie eine furchtbare Explosion brechen Felsen und Bäume, reißen alles mit, was ihnen im Weg steht.

Die Menschen fürchten um ihr Leben, manche laufen in den nahegelegenen Wald, wo sie die Feuerwehrmänner und der Bürgermeister erst wieder zusammensuchen und in Sicherheit bringen müssen. Viele Leute müssen evakuiert werden, sie können nichts mitnehmen, aber sie leben. Tiere müssen sterben. Weil sie nicht schnell genug in Sicherheit gebracht werden können. Weil alles so gewaltig ist, dass zum Nachdenken keine Zeit bleibt.

Einige Bewohner von Sellrain haben die Katastrophe noch nicht verarbeitet. Sie träumen davon und es sind Albträume. Sie denken an die Schicksalsnacht und an die Wochen danach. Was bleibt, ist die Angst. Angst vor weiteren Muren in diesem engen Tal, das nach dem grauenvollen Unwetter ein ganz anderes Gesicht bekommen hat.

Aber was auch bleibt, ist ein ganz neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Die verheerenden Zustände nach dieser Nacht, das Aufräumen und das Wegputzen, das Kellerausschaufeln und Wegefreimachen, das alles hat die Leute zusammengeschweißt.

Dieses Buch ist für und von den Menschen im Sellraintal gemacht. Sie erinnern sich an diese furchtbare Nacht und an das, was sich erst nach Hellwerden am nächsten Tag gezeigt hat. Was sie erzählen, ist beispielhaft für viele Gemeinden, Dörfer und sogar Städte, die auch vermurt wurden und unter Wasser gestanden sind.

Es sind ja 2015 noch viel mehr Menschen zu Schaden gekommen in Sellrain. Nicht alle wollten jetzt, mehr als ein Jahr danach, noch darüber reden. Und nicht alle wollten ein Foto von sich in diesem Buch sehen. Aber einige von ihnen schildern, wie sie diese Nacht erlebt haben.

Dieses Buch ist dafür da, dass die Leute miteinander, mit ihren Kindern und Enkeln einmal darüber reden können, damit ihnen die nachkommende Generation glaubt, was sie Schreckliches erlebt haben. Und wie das ganze Tal zusammengeholfen hat, um die größte Not zu lindern.

 

 

 

Aus einem Bericht von Abschnittskommandant und Abschnittsbranddirektor, kurz AK ABI, Ernst Wegscheider im Jahresbericht 2015 des Bezirks-Feuerwehrverbandes Innsbruck-Land:

Am Sonntag, den 7. Juni 2015, bildete sich gegen 19 Uhr im Bereich Gries im Sellrain ein schweres Gewitter, das von Gries nach Osten zog, sich drehte und im Bereich Seiges stationär blieb. Es kam zu sintflutartigen Niederschlägen, verbunden mit einem starken Hagelschlag. Die Geologen sprechen von einem 300-jährigen Hochwasser.

NORBERT JORDAN, ALTBÜRGERMEISTER UND KATASTROPHENMANAGER

„Die Welt geht unter“

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Es ist alles Tatsache: Vor einem Jahr, in den ersten Tagen oder sogar Stunden nach dieser Katastrophennacht am 7. Juni 2015, hättest du mit manchen Leuten gar kein Interview oder Gespräch führen können, weil die Schockstarre noch voll da war.

Die Menschen hier haben das innerlich noch gar nicht richtig begriffen, was da über sie hinweg passiert ist. Ich hab es mir gestern gedacht, da bin ich mit dem Otto Steurer und dem Georg Jordan beisammen gewesen. So locker hätten wir vor einem Jahr gar nicht miteinander reden können. Und auch wenn man jetzt mit anderen Leuten redet: Es ist alles viel offener, viel lockerer, die Leute verkraften es langsam. Man spürt einfach, dass die Bewältigung dieser Katastrophe da ist. Ich hoffe, dass die betroffenen Menschen in allen Teilen dieser Welt dieses „Verkraften“ zusammenbringen.

Ich bin an dem Tag am Berg gewesen, am Sonnenberg, meiner zweiten Heimat, und hab mir gedacht, bevor es jetzt richtig zum Wettern anfängt, fahr ich heim. Und beim Herunterfahren hab ich noch gar nichts bemerkt, weil ich im Auto ja keine Sirene hören hab können. Wettermäßig hab ich wohl gesehen, dass ein richtiges „Sauwetter“ im Kommen ist, weil so weit kenne ich die Gegebenheiten wohl, dass ich merk, was da im „Anzug“ ist. Ich komm also heim, da begegnet mir mein Junior im Feuerwehrgewand, ich frage ihn, was los ist, und er sagt: „Ich weiß es auch nicht, aber die Sirene ist gegangen.“ Ich hab mir auch mein Feuerwehrgewand angezogen und bin ihm nachgefahren.

Halb auf der sogenannten Gasse telefonierte ich mit Alfons Gruber, unserem Landes-Feuerwehrinspektor, der vorher schon im Feuerwehrhaus gewesen ist. Und ich frag ihn, was denn eigentlich los sei, und er sagt: „Ich weiß es auch nicht, aber ich glaube, die Welt geht unter.“

Das war genau in dem Moment, wo der erste Schub von der Melach gekommen ist, er hat es mir dann geschildert. Wenn die Melach meterhoch neben dem Feuerwehrhaus vorbeizischt – das sind Eindrücke, die kannst du dir nicht vorstellen. Genauso wie ich mir nicht hab vorstellen können, wie ich hinuntergekommen bin, dass die Melach über die Mehnbrücke rast. Und zwischen den Häusern durch und hinunter. Da hab selbst ich die Schockstarre gehabt.

Und unwillkürlich kommt da Panik auf, der Alfons Gruber und ich konnten uns nur über das Handy verständigen, ich war ja noch völlig allein, ich hatte noch keinen Feuerwehrtrupp bei mir und viele Fragen türmten sich auf wie das Hochwasser. Eine der ersten Fragen, was machen wir mit den Leuten, wir müssen sie ja evakuieren. Und der Feuerwehrhauptmann von Sellrain, Georg Jordan, war irgendwo, niemand hat genau gewusst, wo. Natürlich haben sich inzwischen unzählige Helfer gesammelt und mein Befehl an Alfons Gruber war: „Du übernimmst die andere Bachseite, und ich diese hier.“ Und so haben wir das sukzessive abgearbeitet.

Die Schatz-Weiberleut sind problemlos aus dem Haus gegangen, aber andere, wie etwa die Midi Motz, wollten nicht heraus aus ihrem Haus. Dabei ist der Bach links und rechts vorbeigeronnen beim Haus bzw. Lebensmittelgeschäft von der Midi. Man wusste ja nicht, wie es sich weiterentwickelt, da sind die großen Brocken dahergekommen, es war einfach so brutal, dass einem auch noch heute die Worte fehlen.

Wenn ich zurückdenk an 1965, wie die Melach übergegangen ist, das war einfach ein Klacks gegen die Katastrophe vor einem Jahr. Und schon 1910 ist der Seigesbach zum ersten Mal gekommen. Das war so dramatisch, dass die Leute die Kirchturmspitze von Sellrain nicht mehr gesehen haben. So viel hatte der Bach mit sich gerissen, dass alles mit Schutt und Felsen und Lehm verschüttet war. Und wenn man in den alten Schriften nachblättert, erfährt man, dass die 1907 gebaute Straße ins Sellrain auch schon vom Hochwasser weggerissen worden ist. Dabei war damals der Straßenbau mühselig und langwierig.

Als wir die Leute heraußen alle in Sicherheit gehabt haben beim Runacher, sind wir als Nächstes zum Unterhaus. Da kommst du hinein, vom Inneren Bremen hinunter, da haben wir sofort gesehen, dass wir keine Chance haben, hinzukommen. Das hätte man nicht verantworten können, das bringt dein eigenes Leben in Gefahr. Und das nützt dann auch niemandem mehr.

Mit der Leitstelle haben wir Kontakt gehabt, und die Hausnummern sind mir ja ziemlich geläufig, ich hab also gefragt, ob jemand einen Kontakt herstellen kann mit der Sigrid Jordan. Ich hatte angeordnet, dass sich alle in den obersten Stock hinaufbegeben, weil ich wusste ja nicht, wie lang das dauert, bis wir dorthin kommen können. Du hast immer einen Blitz abwarten müssen, um für einen kurzen Moment etwas zu erkennen, sonst war es ja stockdunkle Nacht und du hast nichts, rein gar nichts gesehen. Sonst war ja nur der grauenvolle Lärm und der modrige Gestank, das war ja – mir fehlen einfach die Worte dazu. Da hab ich mir schon gedacht, wie man so geschaut hat zum Unterhaus, dass der Stall vom Hornegger Georg voll mit Schlamm und Dreck sein muss. Und dann wieder eine bange Frage: Was heißt das für das Vieh dort drinnen, hat’s überlebt oder nicht? Und dann die Erkenntnis, dass der Großteil der Tiere umgekommen ist. Einfach schrecklich!

Wir sind mit meinem Trupp hinein Richtung Otto Steurer, da kam schon der nächste Regenschub. Wir haben gesehen, wie von der Terrasse das Wasser in Strömen heruntergeronnen ist. Ottos Auto ist davongerutscht, sein Haus ist bis zum Dach hinauf eingemurt und die Sellrain-Welt weiterhin bis auf das Äußerste bedroht. Die Leute haben in letzter Sekunde ihre Taschenlampen gepackt und sind aufwärts gerannt, wo sie sicher gewesen sind. Aber das haben wir erst nachher alles erfahren.

Was soll man da machen, was sollst du eigentlich noch bergen! Und wie die Leute dort unser Licht bemerkt haben, haben sie vom Wald herunter mit ihren geretteten Taschenlampen Signal gegeben. Da hat man gesehen, dass zumindest irgendjemand überlebt hat. Und ein riesiger Felsbrocken ist von meinen Schultern gefallen.

Das ganz große Problem ist, du kennst ja alle Leute persönlich, bist ja kein Außenstehender, und grad wie’s beim Otto war, wir sind zeitlebens Kollegen gewesen.

Der Otto ist ja seit seiner Zuckerkrankheit ein bisschen behindert, weil sie ihm die Zehen abnehmen haben müssen, da hat er mit seinen Spezialschuhen relativ gut gehen können. Wie er aber hat aus seinem Haus hinaufflüchten können, hinauf in den Wald, das bleibt wohl ein Rätsel. Weil er hat keine Zeit mehr gehabt, sich einen Schuh anzuziehen. Er hat ja nicht einmal mehr seine Prothesen mitnehmen können. Und wie er dann hinuntergerodelt ist über die Seite, die Edeltraud und die Annemarie Witting sind relativ gut davongekommen, aber der Otto ohne seine Gehhilfen hat sich sehr schwer getan.

Pause: Auch ein Bürgermeister darf Gefühle zeigen und Tränen in den Augen haben.

Trotzdem: Das größte Wunder dieser Katastrophe ist wohl die Tatsache, dass es keine Toten gegeben hat. Mehr als ein Wunder, weil wie mein Junior, der junge Norbert, geschildert hat, war er ja ein bisschen voran. Er ist noch über die Brücke drübergekommen. Sie waren beim Sageler im Ersteinsatz. Da hat die Melach nicht geklumpert, hat der Norbert gesagt, sondern es war so, als würde ein Düsenjäger tief durchs Tal brausen. Und dazu noch die Höhe des Wassers, einfach unvorstellbar!

1965 haben wir schon einmal eine ähnliche Situation gehabt, wie es beim Hundsbichler die Misthäufen und die Tischlerei mitgerissen hat, das war alles innerhalb von fünf Minuten nicht mehr da, beim Sageler war es jetzt das Gleiche, hat der Norbert gesagt. Und jetzt sind die Wassermassen gekommen, haben sich ein bisschen um sich selbst gedreht, gewurlt, dann waren Garage, Auto und Holzstöße nicht mehr da. Alles mitgerissen vom Wasser.

Das hat natürlich auch der Alfons Gruber gesehen, wie hoch der Schlamm auf den Bäumen beim Feuerwehrhaus oben hängt, also sieben, acht Meter hoch ist die Flutwelle dahergekommen und hat ihren Dreck abgeladen. Ich hab schon einige Katastrophen erlebt, aber sowas hat es noch nie gegeben. Da war ich auch immer mittendrin als Bürgermeister und Katastrophenmanager.

Beim Sageler sind Feuerwehrmänner gestanden und haben vor lauter Gebrüll und Lärm nicht gehört, dass die Melach meterhoch daherkommt, auch das Schreien der anderen, die sie aufmerksam machen wollten, haben sie nicht gehört. Wie durch ein weiteres Wunder haben sich alle in letzter Sekunde retten können. Und schon hat die Melach wieder alles erfasst und mitgerissen, was ihr im Weg gestanden ist.

Zuerst haben sie versucht, die Mure an den Häusern vorbeizulenken, aber die Melach ist, wie schon gesagt, gekommen wie ein Düsenjäger, das hat nicht mehr geklumpert, das war ein Zischen und Brüllen, aber zum Glück sind die jungen Feuerwehrmänner alle davongelaufen.

Auch er, der Norbert, war erschüttert, das kannst du dir nicht vorstellen, auf einmal war nichts mehr da. Er hatte ja hautnah miterlebt, wie es beim Sageler und beim Christoph Kapferer die Garage gepackt hat und alles andere auch. Und es geht so schnell, dass du es gar nicht realisierst.

Das Einzugsgebiet von der Melach hängt sehr ab von der Niederschlagstätigkeit, wenn pro Quadratmeter etwa 90 Liter oder noch viel mehr Regen fällt, ist die Katastrophe perfekt. Der Norbert hat es gemessen mit unserem Gerät, in das 100 Liter Wasser hineinpassen. Und das hat nichts mehr fassen können, man weiß ja nicht, wie viel Wasser da noch ausgeronnen ist. Also sind weit mehr als 100 Liter pro Quadratmeter Regenwasser niedergeprasselt.

Wir haben Unwetter schon öfters gehabt, aber in früheren Zeiten hat es nach einer Stunde oder ein bissl mehr wieder aufgehört, aber diesmal hat es vier Stunden gedauert, bis es endlich nachgelassen hat. Nicht aufgehört, nur nachgelassen. Es war jedenfalls weit nach 12 Uhr Mitternacht, da bin ich mit dem Otto Steurer, der Edeltraud und Annemarie Witting sowie dem Franz heraus, damit wir uns etwas Trockenes anziehen können.

Aber ich selber bin zum ersten Mal um halb 3 Uhr nachts über die Melach gekommen über die Brücke, da war es schon so weit, dass man hat sagen können, jetzt nimmt sie mich nicht mehr mit, die Melach. Und um halb 4 Uhr bin ich dann heim, aber ich hab natürlich nicht schlafen können, so hab ich mit dem Plank Josef telefoniert von der Wildbach- und Lawinenverbauung, wir hatten ausgemacht, wir treffen uns um 5 Uhr am Steinhof. Da haben wir zum ersten Mal auf den Seiges hinaufgeschaut, es war ja schon Tag. Es war so weiß, als hätte es frisch geschneit, das Gelände da oben ist ein Almrosenhang, da waren mindestens ein halber Meter Hagelkörner, bis über die Waldgrenze hinauf war alles weiß, als hätte es geschneit. Da kannst du dir vorstellen, mit welcher Intensität die Niederschlagsmengen heruntergeprasselt sind. Da braucht dich nichts mehr zu wundern, bei dem großen Einzugsgebiet. Das hat sich auch der Josef Plank nicht vorstellen können. Aber es ist noch ärger gekommen.

Das hat sich auch der Landeshauptmann Platter nicht vorstellen können, was er da am nächsten Tag gesehen hat. Wir sind so um 11 Uhr oberhalb vom Sportplatz gestanden, da ist auf der Gegenseite das sogenannte Innere Bodnertal gekommen. Zuerst ein unheimliches Rauschen, dann sind die Bäume stehend dahergekommen. Knapp vor der Melach dann sind sie auf die Seite gefallen, hinein in den reißenden Bach mit ihren bis zu 30 Metern, sie sind hinausgezischt wie die Zündhölzer. Da hat der Landeshauptmann einmal geschaut!

Der Feuerwehrhauptmann mit seinem Trupp war noch immer eingeschlossen gewesen in Innerzehent beim Bauhof, da musst du halt als sogenannter Krisenmanager durchstarten.

Ich habe damals zum ersten Mal erfahren, dass zumindest bei den Einsatzkräften keine Verletzten oder gar Toten waren. Das war eine große Erleichterung. Das Nächste war dann die Frage, wie bringen wir Gerät herein ins Tal, schweres Gerät, weil alles andere hätte ja gar keinen Sinn gehabt. Auch da haben wir großes Glück im Unglück gehabt, die zuständigen Stellen, sei es Wasserbau, Straßenbau oder Wildbachverbauung, bei allen hat die Koordination von der ersten Minute an funktioniert. Weil in einer solchen Situation ist es nicht selbstverständlich, dass alle so exakt zusammenarbeiten. Ich habe mit den Fachleuten und der Beamtenschaft schon immer ein gutes Verhältnis gehabt, da hat’s nie ein Problem gegeben. Ich bin mit denen allen per Du, und dadurch, dass es schon vorher eine Mure in Grinzens gegeben hat, waren wir in bestem Einvernehmen.

Bis zum späten Nachmittag haben wir schon 17 Bagger im Tal gehabt. Und trotzdem: Die Straße und fast alle Verbindungen waren unterbrochen. Da musst du halt als Einsatzleiter die Schneid haben zu sagen, mich interessieren die Sperren nicht. Die Zufahrt über Grinzens ist gesperrt gewesen, hier im Sellrain waren die Straßen vermurt, unten durchs Tal herein war ja schon der erste Augenschein, wie ich mit dem Plank Josef gesehen habe, dass gewisse Teile der Straße überhaupt nicht mehr vorhanden waren, da können wir auch nicht herein mit dem Gerät. Dann mussten wir die Bezirkshauptmannschaft als oberste Behörde informieren, da musst du dann Klartext reden. Ich habe gesagt, alle Sperren, die zurzeit bestehen, sind für mich außer Kraft, ihr könnts mich verurteilen, aber wir müssen Hilfe leisten. Da interessiert doch mich nicht, ob die Straße mit dreieinhalb Tonnen belastet ist oder gesperrt, wir müssen das Gerät herbringen, damit wir Hilfestellung leisten können. Es war ja schon schwer genug, zu den Betroffenen hinzukommen, damit man helfen kann.

Für mich war das Ganze ein beispielloser Zusammenhalt von A bis Z. Da hat keiner gesagt, das darfst du nicht, das sollst du nicht. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass die Leute die Hilfe auch gleich annehmen.

Vom Landeshauptmann Platter bis zur Innenministerin Mikl-Leitner sowie Minister Rupprechter, alle waren da und haben sich ein Bild vor Ort gemacht. Sie haben Gelder als Hilfe zugesagt, was in einem anderen Land nicht so selbstverständlich wäre. Zum Glück hat das Land den Katastrophenfonds gut bestückt und aufgebaut. Wir haben auch Politiker, die für das alles ein Herz haben oder ein Gespür, was man in solchen Zeiten am notwendigsten braucht. Der Landeshauptmann hat als Sofortmaßnahme eine Million Euro bezahlt, die von Landwirtschaftsminister Rupprechter um eine halbe Million aufgestockt wurde. Das ist alles nicht selbstverständlich, die ganze Melach-Regulierung wurde finanziert, Wasser- und Straßenbau haben kräftig mitgezahlt. Jedenfalls haben unsere namhaften Politiker sofort zugestimmt und gesagt: „Da müssen wir helfen.“ Vom Wasserbau haben wir fünf Millionen Euro bekommen, beim Straßenbau genau dasselbe. Und es wird weitere Millionen kosten, bis es wieder so ist, wie es die Struktur erfordert.

Unsere Baugeologen hat man vorher oft belächelt, wenn sie kritisiert haben, wo überall gebaut wird, vor allem auf den Hängen. Ich getrau mich auch, diese Dinge anzugehen, anzusprechen. Vorher, als oft die Vorschriften gekommen sind, haben wir uns gefragt, wozu brauchen wir das. Aber jetzt, in so einer Situation wie der im Vorjahr, machst du dir schon deine Gedanken. Sie haben sehr oft recht gehabt. Das ist aber nicht alles, du bist Bauinstanz, auf der anderen Seite die Bauwerber, die mit den Auflagen konfrontiert werden, die fluchen dir schon das Kreuz ab. Warum, so fragt sich mancher, muss ich die Auflagen alle erfüllen, die so viel Geld kosten!

Die Angst bleibt, jeder hat gehofft, dass sich das Wetter beruhigt und wir haben Gott sei Dank das Glück gehabt, dass das Wetter sich gebessert hat. Aber drei Wochen später hat’s in Lüsens dann ein Wetter gegeben, aber dadurch, dass so viel Gerät im Tal gewesen ist, hat man die Melach gut regulieren können, sodass sie in ihrem Bett geblieben ist.

Die ganzen Aufräumarbeiten sind Hand in Hand gegangen, die ganzen Gebäude innerhalb von drei Wochen wieder sauber zu haben, vor allem die Schule und auch die privaten Häuser, das war schon eine Meisterleistung. Da sind Kräfte frei geworden, von denen wir gar keine Ahnung hatten, dass es sie gibt. Die Kinder, die Jugendlichen und viele Freiwillige und natürlich das Bundesheer waren große Katastrophenretter, die haben alle gearbeitet bis zur Erschöpfung, das muss ich auch einmal sagen.