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Christine Eder

Leben ist mein Schmetterling





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

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Christine Eder

 

 

 

 

 

 

LEBEN IST

MEIN

Schmetterling

 

 

 

Buch

Der junge Andrej wird mit einem Freispruch aus dem Gefängnis entlassen, dennoch fühlt er sich nicht frei. Alpträume und Erinnerungen an seine schwere Vergangenheit plagen den Zwanzigjährigen. Er will neu anfangen, sich ändern und endlich ein normales Leben führen. Doch er beginnt wieder, in sein altes Muster zu verfallen, bis sein Leben endlich einen Wendepunkt zu erreichen scheint. Er lernt die flippige Lera kennen, die in ihm Gefühle auslöst, von denen er glaubte, sie seien bereits erloschen. Sie sieht die wesentlichen Dinge im Leben und weckt in Andrej die Hoffnung, seiner Vergangenheit entfliehen zu können.

 

 

 

 

 

 

Ich möchte allen,

die in diesem Projekt mitgewirkt

haben, von ganzem Herzen danken.

Ihr habt meinen Roman zu dem gemacht,

was er heute ist.

 

Die Handlung sowie alle Personen dieses Buches sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist rein zufällig.

Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

© Christine Eder 2017

Überarbeitete Version (Stand: Mai 2019)

Alle Rechte vorbehalten.

 

Coverdesign: Kristina Licht © Licht Design

Bilder Innenbuch: Melina Goldberg © Melis Art

Korrektorat/Lektorat: Thorsten Breuer/Andreas März

Abschlusskorrektorat: Kristina Licht

 

2. Auflage

© Christine Eder 2019

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

Kapitel 1

Noch nie zuvor hatte ich mir vorstellen können, wie das Leben eines Menschen von heute auf morgen, mit einem Schlag solch eine Wendung nehmen konnte. Und nun konnte ich es mir besser vorstellen, als mir lieb war. Man will glauben, dass das Leben einem ein wenig Hoffnung schenken würde. Ich aber hatte alle Hoffnung, dass mein Leben jemals wieder glücklich verlaufen könnte, aufgegeben. Ich glaubte an keine Wunder mehr – geschweige denn an das Glück.

Nachdem der Richter mich freigesprochen hatte, war ich zwar der Meinung, ich könnte mit meinen Erlebnissen weiterleben, doch es war schwer vorstellbar, dass ich es je schaffen würde. Mein Leben der letzten Jahre glich einer Vernichtung, und jetzt, so schien es mir, würde ich noch tiefer abstürzen, und es wäre niemand mehr da, der mich daran hindern könnte. Diesmal würde ich mein Leben einfach aufgeben, wenn sich die Gelegenheit böte. Was hielt mich noch?

Als Onkel Leonid und ich aus dem Landgericht Lüneburg heraustraten und auf dem Treppenabsatz stehen blieben, berührte er freundschaftlich – eigentlich eher tröstend – meine Schulter. Er war nicht nur mein Onkel, sondern auch mein Anwalt. Ich atmete erleichtert auf, weil ich endlich draußen war. Aber meinen inneren Druck löste es leider nicht.

Es war Altweibersommer und nach tagelangem Regen sehr heiter. Mir kam es vor, als hätte das Wetter meinem jetzigen Gemüt entsprechen wollen, so wie während der Tage meines Gefängnisaufenthalts, die düster und grau gewesen waren. Jetzt war ich frei wie die Sonne am Himmel. Ich genoss die frische Luft, die ich vermisst hatte, das Gewusel der Menschen, meine Stadt, die mit ihren schiefen Altbauten auf dem Salzstock lag.

Der Marktplatz war bereits sehr belebt. Eine kleine Touristengruppe war unterwegs, die plötzlich neben dem kleinen Springbrunnen stehen blieb. Die Menschen betrachteten unser Rathaus und schossen unzählige Fotos, während der Stadtführer mit seinen typischen Handbewegungen vor ihnen stand und den begeisterten Gesichtern von unserer Stadt der ›Roten Rosen‹ erzählte.

Ich schaute kurz zum Rathaus. Seine beige Fassadenfarbe leuchtete in der grellen Sonne und die goldschimmernde Uhr zeigte – viertel nach elf. Wir gingen zu den Parkplätzen, wo mein Onkel sein Auto abgestellt hatte.

Onkel Leonid sprach die ganze Zeit mit mir, doch ich hörte ihm weder zu, noch redete ich mit ihm. Die eine Hand in die Hosentasche gesteckt, in der anderen Hand eine Zigarette, ging ich still neben ihm her und musterte die alten Pflastersteine vor mir.

Mit den Gedanken war ich in meiner Vergangenheit gefangen. Das Gefühl, dass alles anders werden würde und ich doch problemlos weiterleben könnte, blieb irgendwo im Gerichtssaal auf dem Sockel hängen und ich vergaß, es mitzunehmen. Mir kam alles wieder hoch. Die Wehmut über die vergangenen und sorglosen Zeiten, die Sehnsucht nach meiner Mutter, diese grausamen Bilder jenes Abends und somit auch der Zorn über meine Verluste.

Schnell versuchte ich, die guten Erinnerungen hervorzuholen. Xenias hübsches Gesicht tauchte vor meinen Augen auf, und sie sah mich verliebt an. Ich atmete die Luft tief ein. Die Erinnerung tat nicht gut. Da war auch ein düsteres Gefühl, irgendwo ganz tief in meinem Inneren. Es war der altbekannte Herzschmerz, der sich wieder in mir breitmachte.

Als wir an Onkel Leonids braunen VW Touareg ankamen, zog ich sein Anzugjackett aus, das er mir für den heutigen Tag geliehen hatte, und warf es in den Kofferraum.

»Pass doch bitte auf«, sagte er, woraufhin ich meine Augen rollte. »Er war nicht billig!«

Aus der Sporttasche, die er mitgebracht hatte, holte ich meine lederne Buffalo-Jacke hervor und zog sie an. Diese hatte mir meine Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt. Ich sah kurz an mir herunter und war froh darüber, dass ich mich von meinem Onkel nicht hatte überreden lassen, seine Anzughose anzuziehen, sondern meine dunkle Levis-Jeans anbehalten hatte. Ich knöpfte mein weißes Hemd oben auf. Onkel Leonids Blick fiel auf den silbernen Kreuzanhänger meiner Mutter, der auf meiner Brust aus dem Hemd herausblitzte.

»Du trägst ihn jetzt«, stellte er leicht verwundert fest, während er mich musterte.

Ich räusperte mich, weil mir von so langem Stillsein der Hals ausgetrocknet war. »Ja«, antwortete ich und wollte noch etwas hinzufügen, aber mir kam kein Laut mehr über die Lippen. Er kannte den ganzen Vorfall doch haargenau und wusste auch, aus welchem Grund der Anhänger jetzt um meinen Hals hing.

Onkel Leonid war der Bruder meiner Mutter und wusste nur zu gut, wie groß meine Liebe zu ihr gewesen war. Er hatte von Anfang an auf meiner Seite gestanden, als mein Leben diese krasse Wendung genommen hatte. Auch wenn er für mich viel zu schlau war und in seinen Anzügen und mit der Brille spießig aussah, so mochte ich ihn trotzdem. Jetzt war er wohl der einzige Mensch in meinem Leben, dem ich vertrauen konnte und an den ich mich halten musste.

Als wir im Auto saßen, sah er mich von der Seite an und sagte: »Ich dachte, du kannst vorerst bei mir wohnen.«

Ich schaute durch die Frontscheibe und wartete darauf, dass er endlich losfuhr.

»Ich habe eure Wohnung gekündigt. Deine ganzen Sachen habe ich schon abgeholt.« Er machte eine Pause, um mir Bedenkzeit zu geben. Ich wollte nichts dazu sagen. Und er fügte noch hinzu: »Dann sehen wir weiter.«

»Wie du meinst«, brummte ich nur und wandte meinen Blick dem offenen Autofenster zu.

Am Bürgersteig spazierte ein Pärchen mit ihrem etwa zwölfjährigen Sohn vorbei. Früher hatte ich mir eine solche Situation oft selbst vorgestellt, wie ich mit meiner eigenen kleinen Familie eng aneinander geschlungen durch die Stadt spazierte und wir miteinander lachten. Aber das hatte ich nie erlebt.

»Schnall dich bitte an!«, befahl Onkel Leonid. Manchmal kann er echt ätzend sein. Erst nachdem ich mich angeschnallt hatte, schaltete er die Zündung ein und lenkte den Wagen anschließend aus der Parklücke.

Wir fuhren durch halb Lüneburg zu seiner Eigentumswohnung. Es war ungefähr ein Jahr her, als ich das letzte Mal bei ihm zu Hause zu Besuch war. Damals hatte Onkel Leonid die Wohnung gerade erst gekauft.

»Und, was hast du jetzt vor?«, brach Leonid erneut die Stille.

»Kein Plan«, antwortete ich, legte meinen Kopf gegen die Lehne und sah, wie der schleichende Mittagsverkehr durch die Straßen kroch. Diese Frage konnte ich weder ihm noch mir selbst beantworten. Es stimmte, ich hatte wirklich keinen Plan.

»Bitte, fall nicht in dein altes Muster zurück«, bat er.

»Willst du mir jetzt eine Predigt halten?« Ich war selbst überrascht, wie ruhig es aus meinem Mund kam. Das lag wohl an meiner seelischen Erschöpfung.

Er atmete tief durch. »Nein … natürlich nicht.« Seine Stimme war besonnen. »Es ist nur, nach so einem Erlebnis … das quält einen doch enorm.«

»Mich nicht«, entgegnete ich. Doch, die Ereignisse quälten mich, weil ich dadurch meine Mutter verloren hatte. Aber ich bereute nichts von dem, was ich getan hatte.

Wieder hörte ich ihn tief durchatmen. Er hielt an einer roten Ampel an. »Vielleicht brauchst du einen … Psychologen.«

»Geht’s noch?«, brachte ich scharf hervor. Jetzt sah ich ihn direkt an.

Er riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, er würde zu einem Konter ansetzen, was aber nicht geschah.

»Na also.« Ich wandte meinen Blick wieder ab. Er fuhr bei Grün los. »Ich komm schon klar«, brummte ich wenig später, obwohl ich das selbst stark bezweifelte. Genauso wie ich bezweifelte, nicht wieder in mein altes Muster zu verfallen. Meine Mutter hätte das auch nicht gewollt. Aber sie war nicht mehr da, und wie um Himmelswillen sollte ich nun ohne sie zurechtkommen?

»Okay«, lenkte er ein. »Wenn du Geld brauchst oder so …« Er verstummte kurz und überlegte. »Ach ja, und Arbeit kann ich dir auch besorgen, wenn du dafür bereit bist.«

Ich nickte nur. Beim Thema Arbeit stellten sich mir immer die Nackenhaare auf. Wer würde in Deutschland einen ungelernten Deutsch-Russen einstellen wollen, noch dazu jemanden, der unter Anklage gestanden hatte? Auch wenn ich freigesprochen wurde, würde ich den Dreck wohl mein ganzes Leben lang mit mir herumtragen.

Vor drei Jahren kam ich mit meinen Eltern nach Deutschland. Hier – in der Heimat meiner Großeltern – sollte es für uns alle anders und besser werden. Das hatte uns mein versoffener Vater versprochen. Ein Versprechen, das er nie eingehalten hatte.

Meine Zukunft war jedoch zum Scheitern verurteilt. Ich war fast volljährig, als wir auswanderten. Ein Jugendlicher, der für die Schule eigentlich schon zu alt war, aber ohne einen Abschluss auf dem Arbeitsmarkt unbrauchbar schien. Also wurde ich mit meinen achtzehn Jahren in die Hauptschule gesteckt, wo ich ein Jahr lang zwischen Sechzehnjährigen hockte und wegen der neuen Sprache geradeso den Hauptabschluss schaffte. Dem grässlichen Abschluss und meinen mangelnden Deutschkenntnissen war es zu verdanken, dass ich bis heute ungelernt blieb. Ich fragte mich immer noch, wozu der Schulbesuch überhaupt nötig gewesen war. Für die Statistik, um mich vorerst aus der Arbeitslosengrafik zu nehmen?

In der Schulzeit lernte ich nicht nur viele jüngere Freunde wie Kirill kennen, sondern auch die Versuchung mit dem Feuer zu spielen. Dank ihr und Kirill musste ich mich zu Hause nicht mit meinem betrunkenen Vater auseinandersetzen. Kirill wurde nicht nur mein bester Freund, sondern war auch wie ein kleiner Bruder für mich. Er war zwei Jahre jünger, ebenfalls ein Deutsch-Russe, kam aber noch in seinem Kindesalter nach Deutschland und sprach damals kaum Russisch.

Nach meinem Abschluss rutschte ich mit meiner Clique ab: Wir feierten wilde Partys, die nicht ohne One-Night-Stands blieben, die Alkoholexzesse häuften sich, und wir zettelten viele Prügeleien an, um uns groß und wichtig zu fühlen, während wir nebenbei Drogen für eine Bande vertickten, um an Geld zukommen. Wir zogen sogar größere Dinge durch: Diebstähle und das Aufbrechen von Autos.

Und auf einmal … kippte mein Leben um. Ich lernte Xenia kennen. Mit ihren langen, goldblonden Haaren und blauen Augen, war sie für mich das hübscheste Mädchen überhaupt. Sie war ein schlaues und braves Schulmädchen aus einer wohlhabenden und strengen deutsch-russischen Familie. Ich verliebte mich in sie und sah die Welt plötzlich nur noch durch eine rosarote Brille. Xenia brachte meine andere Seite zum Vorschein ... meine gute Seite. Wenn ich liebte, dann mit Leib und Seele.

Ein halbes Jahr waren wir zusammen gewesen. In dieser Zeit hatte ich mich bemüht, mich zusammenzureißen, keinen Blödsinn anzustellen oder ihr nicht meine schlechte Seite mit all den Ausschweifungen zu zeigen. Es ging aber nicht immer. Und so erinnerte ich mich an eine Situation.

 

Mit einer aufgeschlagenen Unterlippe laufe ich hinter ihr her. »Xenia, warte doch!«

Sie geht weiter vorwärts. Ich fasse sie am Handgelenk, wobei sie sich hastig zu mir umdreht.

»Sieh dich doch an!«, schreit sie.

»Was hätte ich denn tun sollen? Etwa zusehen, wie die Arschlöcher Kirill fertig machen?«, empöre ich mich.

»Kann es nicht ohne Schlägerei gehen?« Sie entreißt sich aus meinem Griff, bleibt aber vor mir stehen.

»Nein! Hast du doch gesehen!« Ich will nicht mit ihr streiten und sie anschreien, also atme ich tief durch, um runterzukommen. Sie sieht mich wütend an. »Mann Xenia, ich musste mich schließlich auch verteidigen!«, erkläre ich ihr, obwohl sie das Ganze eigentlich auch selbst gesehen hat. Die drei Typen haben Kirill angegriffen. Wäre ich mit ihr nicht zufällig dort vorbeigegangen, hätten sie Kirill krankenhausreif geschlagen.

»Nein Andrej, ich kann das nicht mehr!«

Ich erstarre. »Was willst du damit sagen?«

»Es ist aus!« Sie dreht sich um und geht.

Ich fühle mich, als würde jeden Moment ein gewaltiges Donnerwetter über mir hereinbrechen. Ich stehe wie vom Blitz getroffen da. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Alles ist wie gelähmt.

 

So einfach hatten ihre Worte geklungen, als ob sie nur darauf gewartet hatte. Es war für mich wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Die Sehnsucht nach ihr trieb mich gedanklich sehr oft in die Vergangenheit zurück. Dahin, wo es unbegrenzte Möglichkeiten gab, uns zu lieben und an nichts mehr denken zu müssen. Ich wurde rasend vor Wut und stürzte wieder ab. Ich trank sehr viel, prügelte mich und feierte die Nächte durch. Tagelang. Wochenlang. Um mich zu vergessen, um Xenia zu vergessen, meinen Herzschmerz, meine Sehnsucht nach ihr, meine Liebe zu ihr. Aber die schöne Zeit mit ihr war nicht einfach so aus meinem Gedächtnis zu löschen.

Sie hingegen fand sofort einen hübschen Ersatz – genau den Jungen, der bei ihr bereits mehrere Annäherungsversuche gestartet hatte. Es sah so aus, als hätte sie mich gar nicht geliebt. Als hätte sie mir ihre Liebe nur vorgetäuscht und nach einer Gelegenheit gesucht, um von mir sofort die Flucht ergreifen zu können. Es war für mich unverständlich, wie man sich so schnell in einen anderen verlieben konnte.

Jetzt saß ich hier in Onkel Leonids Auto, während mir bei dem Gedanken an Xenia die Galle hochkam. Meine Fäuste ballten sich auf meinem Schoß. Ihre Liebe, ebenso wie die folgende Trennung hatten sich tief in mein Herz gebrannt.

Viele Male wollte ich mich ändern und ein aufrichtiger Mensch werden, der keinen Alkohol trank oder irgendeine Scheiße baute. Doch mich riss immer wieder etwas in die Tiefe. War das eine Ausrede dafür, wie ich war und was ich tat? Womöglich. Aber ich verfiel sehr schnell in die verbotenen Versuchungen und stürzte in den Untergrund meines Lebens. Ich stand auf, war aber jedes Mal noch wütender.

Onkel Leonid parkte das Auto am Straßenrand seines Wohnviertels. Wir stiegen aus dem Wagen und die frische Luft besserte meinen Gemütszustand ein wenig.

»Ich will uns noch etwas zum Essen kaufen. Kommst du mit?«, fragte er und deutete auf den Einkaufsladen, der sich in der Nähe befand.

»Nein, ich warte hier auf dich.« Ich holte meine Marlboros aus der Jackentasche, während er losging.

Weil mir heiß wurde, zog ich meine Lederjacke aus, zündete mir eine Zigarette an und lehnte mich dann gegen das Auto, während ich die Menschen beobachtete. Sie waren sehr gut gekleidet und fuhren edle Karossen. Es war ein sehr angesehenes Viertel in Lüneburg, das konnte man sofort erkennen. Ich kam mir vor, als wäre ich woanders gelandet, nur nicht in derselben Stadt, in der nur ein paar Kilometer weiter das Problemviertel lag, in dem ich noch vor einem halben Jahr gewohnt hatte.

Nach einer Weile wurde ich auf ein schlankes Mädchen an einem Eiscafé aufmerksam. Sie trug enganliegende Hüftjeans und ein kurzes Lederjäckchen, das sie sich gerade auszog. Ich musterte ihren gesamten Körper und mir gefiel, was ich sah. Mir stach ihr Tattoo ins Auge. Oben, auf der rechten Schulter, prangte ein blauer Schmetterling, der unter den Spaghettiträgern ihres weißen Tops hervorblitzte und so aussah, als ob er auf ihr säße. Sie hatte schulterlange, dunkelbraune Haare, ungefähr so dunkel wie das Schokoladeneis, das sie gekauft hatte. Ihre Haare waren wuschelig toupiert, was ihren Kopf nicht proportional zu ihrem Körper erschienen ließ.

Nervös zog ich an der Zigarette und konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Womöglich war ich ausgehungert. Die lange Zeit ohne ein Mädchen hatte ihre Spuren hinterlassen.

Sie nahm ihr Eis in die Hand und ging mit einem leichten Schritt über den Bürgersteig. Ich sah ihr rauchend nach. Sie schaute leicht über ihre Schulter, wobei ihr Gesicht nur für ein paar Sekunden zu sehen war. Ich lächelte, weil selbst ihr langer Pony toupiert war.

Ich wandte meinen Blick ab. Du brauchst dringend Sex, dachte ich, und mir kam sofort Jana in den Kopf. Das letzte Mal hatte ich sie gesehen, als ich Sehnsucht nach Xenia hatte. Genau, ich rufe sie auch gleich an. Dann verfalle ich eben wieder in das alte Muster. Sex zählt nicht dazu.

Onkel Leonid kam mit seinem Einkauf zurück und erwischte mich dabei, wie ich das Mädchen anschaute.

»Bist du im Stehen eingeschlafen?«

Ich grunzte leise. »So ungefähr. Aber du hast mich anscheinend wieder in meinen Albtraum zurückgeholt.« Er ignorierte meine Worte.

Wir gingen stumm die paar Meter zu seinem Haus über die Straße. Es waren zwei moderne Wohnhäuserblöcke, die gegenüberstanden. In einem der Blöcke wohnte er. Wir stiegen die Treppenstufen in den ersten Stock hinauf.

»Wisch deine Füße ab«, kommandierte Onkel Leonid, als wir an seiner Wohnungstür angekommen waren, und sah mich erwartungsvoll an.

Stöhnend tat ich ihm den Gefallen.

»Ich habe ein Zimmer für dich freigemacht.« Er öffnete die erste Tür links im Flur. »Leider habe ich es noch nicht geschafft, deine Sachen aus den Kartons auszupacken«, erzählte er, während ich mitten in dem Zimmer stehen blieb und mich umsah.

Ein Bett stand rechts neben der Tür an der Wand, mein Schreibtisch befand sich vor dem Fenster und links davon erkannte ich meinen alten Schrank.

»Deine Kleidung.« Er zeigte auf zwei Kartons, die vor dem Schrank auf dem Boden standen.

Ich nickte ihm zu und ließ mich auf das Bett fallen.

»Vorsicht, das Bett ist neu.«

»Passt«, erwiderte ich und schwang wieder die Füße heraus.

»Keine Mädchen!« Er hob streng den Zeigefinger.

»Sein nicht so spießig.« Ich stand auf. »Aber danke für das neue Bett!«

Schmunzelnd nickte er. »Deine Schreib- und Malsachen sind übrigens dort«, erklärte er und deutete auf den Karton, der auf dem Tisch stand.

Ich trat näher und schaute in den Karton hinein. Als ich dort meine Malblöcke sah, in denen unter anderem die Zeichnungen von Xenia verborgen waren, tauchte wie aus dem Nichts sofort ihr Gesicht vor meinen Augen auf.

 

»Ich liebe dich«, haucht sie mir ins Gesicht, wovon ich ihren heißen Atem auf meinem Hals spüre. Wir küssen uns zärtlich.

 

Schnell machte ich den Karton wieder zu und entdeckte mein Handy auf dem Tisch. Ich riss es sofort an mich und schaltete es ein. »Und wo ist mein Auto?«, hakte ich nach und sah Onkel Leonid an.

»Steht in der Gemeinschaftsgarage«, antwortete er.

Ich durchsuchte mein Handy nach wichtigen Informationen. Es gab ein paar Nachrichten und Anrufe von Jana und Kirill. Das Datum verriet mir, dass die beiden mich zu kontaktieren versucht hatten, als das Thema Gefängnis in meiner kleinen Welt in aller Munde war. Der Rest an Nachrichten bestand aus irgendwelchen perversen Witzen und Scheißvideos aus dem Internet von irgendwelchen Kontakten, an die ich mich nicht mehr recht erinnerte. Das war alles. Was hatte ich denn erwartet? Etwa einen Anruf von Xenia?

»Na ja, das war’s auch schon«, brachte Onkel Leonid hervor. »Ich mache uns etwas zu essen. Du kannst, wenn du willst, unter die Dusche gehen. Das Bad ist gleich gegenüber von deinem Zimmer.«

Wieder nickte ich nur, weil ich immer noch mein Handy anschaute und mich, ohne hinzuschauen, auf die Bettkante fallen ließ.

»Okay«, hörte ich ihn sagen, dann ging er aus dem Zimmer.

Was mich so gebannt auf mein Handy starren ließ, war ein altes Bild von Xenia, das ich zwischenzeitlich gefunden hatte. Ihre blauen Augen, ihr unschuldiges, liebliches Gesicht und ihr süßes Lächeln mit den kleinen Grübchen an den Wangen. Rasch wischte ich das Foto weg.

Ich atmete tief durch, und meine Augen landeten wieder auf dem Karton, in dem auch meine Erinnerungen vergraben waren. Sofort wandte ich meinen Blick zum Fenster ab, bevor mich die Erinnerungen wieder einholten. Ich bemerkte, dass im Wohnhaus gegenüber, das früher noch nicht mal eine Fassade hatte, bereits die ersten Wohnungen vergeben wurden. Die Abstände zwischen den Häusern waren sehr gering, sodass man darin sogar jemanden erkennen konnte. Die Wohnung direkt gegenüber von meinem Fenster war auch schon vergeben. In den bodentiefen Doppelfenstern hingen bereits schlichte weiße und durchsichtige Stoffgardinen.

Ich lud mein Adressbuch in meinem Handy und schwankte zwischen zwei Namen hin und her, Kirill oder Jana.

Zuerst wählte ich aber Jana an.

»Oröl!«, meldete sie sich auf Russisch, indem sie mich Adler nannte.

»Hi, Püppchen«, grüßte ich lächelnd. Sie schnalzte mit der Zunge, weil ich sie so nannte und sie es hasste. Ich hingegen mochte, wie sie mich nannte. »Wenn du schon so antwortest, dann scheint dein Mann nicht da zu sein«, neckte ich und lächelte breit über diese Vorstellung.

»Nein, ist er nicht«, bestätigte sie. »Und wie verlief es?«

Ich atmete durch und antwortete: »Ich wurde freigesprochen.«

»Willst du vorbeikommen?«

Ihre verführerischen Funken spürte ich sogar durch die Frequenz des Mobiltelefons, die mich erreichten.

»Natürlich!«, stimmte ich ein und breitete mein Lächeln wieder aus.

»Also, bis gleich.« Dann war es stumm in der Leitung, aber ihre Stimme klang noch Sekunden später in meinen Ohren nach – sinnlich und einladend.

Ich sprang zu den Kartons mit meinen Klamotten und wühlte darin, bis ich ein Muskelshirt fand. Vor dem Spiegel knöpfte ich mein Hemd auf.

Auf meiner rechten Wange erinnerte mich noch die Narbe einer Schnittwunde an den grässlichsten Tag meines Lebens – der Tag, an dem ich meine Mutter verloren hatte. Zum Glück war der Schnitt nicht tief gewesen, die Wunde verheilte ziemlich schnell und die Narbe verblasste langsam.

Ich zog mein Shirt über meinen sportlich gebauten Körper. Wenigstens was meine körperlichen Aktivitäten anging, hatte ich den Ansporn, regelmäßig Sport zu machen und mich fit zu halten, um den Adrenalinausstoß meiner Wut zu besänftigen.

In den Kartons fand ich mein Haarwachs und stylte meine hellbraunen Haare. Ich nahm meine Schlüssel, mein Handy und das Portemonnaie, das ich nach Geld durchforstete. Darin fand ich noch einen Zwanzigeuroschein und lief in den Flur.

Als ich gerade gehen wollte, da schaute verdutzt Onkel Leonid aus dem Wohnzimmer. »Wo willst du denn jetzt hin? Das Essen ist fast fertig!«

»Ich muss weg«, brummte ich und schloss die Haustür hinter mir zu.

In der Garage sah ich endlich mein altes Schätzchen, einen schwarzen Ford Mustang. Prompt schossen mir Erinnerungen durch den Kopf. Dutzende Male war ich damals mit Kirill in diesem Auto durch ganz Lüneburg gerast. Aber es erinnerte mich auch an Xenia. Ich verdrängte die Bilder aus dem Kopf, setzte mich an das Steuer, schaltete die Zündung ein und spielte genüsslich mit dem Gaspedal. Der Sound des V8 klang wie Musik in meinen Ohren.

Ich glaubte, dass das der Augenblick war, als ich so etwas wie Freude empfand; Freude, endlich wieder frei zu sein. Ich würde mich bemühen, diesmal alles anders zu machen und neuanfangen. Es war an der Zeit, ein besseres Leben zu führen.

Grinsend setzte ich meine Sonnenbrille auf und ließ die Seitenscheiben herunterfahren. Ich schaltete die dröhnende Elektromusik ein, setzte zurück und fuhr schließlich los.

Jana empfing mich in einem Satinmantel, und als ich sie sah, kroch ein hungriges Gefühl in mir hoch. Das Gefühl, sie zu wollen. Ich ahnte, dass sie unter dem Mantel völlig nackt war, wie es eigentlich immer der Fall war. Wir sagten nichts, sondern begannen, uns wild zu küssen.

Sie riss mir die Klamotten vom Leib, während sie mit mir rückwärts in ihr Schlafzimmer ging. Ich öffnete ihren Mantel und zog ihn rasch aus. Wir fielen auf das Bett. Mit der Zunge umkreiste ich ihren Nippel und liebkoste ihren Körper. Sie stöhnte. Zitternd vor Lust holte ich das Kondom aus meiner Hosentasche und streifte es über.

Ihre Fingernägel krallten sich in meinen Rücken und sie bewegte ihren Körper ungeduldig unter mir. Das machte mich wahnsinnig. Ich stieß voller Gier in sie und kam mir wie ein röhrender Hirsch während der Brunftzeit vor. Mein lustvolles Gestöhne hallte durch das ganze Haus und durch die offenen Fenster.

Danach lagen wir noch im Bett, bis Jana sich aufrichtete. Ich strich ihr über den Rücken, worauf sie mich verführerisch über ihre Schulter ansah.

»Lebst du noch?«, fragte ich schmunzelnd.

»Du warst ja richtig geladen!« Sie lächelte. Es war ein freundliches Lächeln, kein bösartiges oder gar hinterhältiges.

»Was würdest du eigentlich machen, wenn plötzlich dein Mann hier stehen würde?« Lächelnd legte ich meinen Arm hinter den Kopf, um sie besser sehen zu können. Doch sie wandte sich ab. »Versteckst du mich dann im Schrank? Oder jagst du mich nackt auf die Terrasse?«

»Keine Angst, er wird nicht kommen«, erwiderte sie genervt und stand vom Bett auf.

Ich musterte ihren vollkommenen Körper, den sie nun wieder unter ihrem Mantel versteckte. Ihre grauen Glupschaugen erinnerten mich an Tauben und vermiesten ihre Schönheit. Aber dennoch fand ich sie sehr attraktiv.

»Wer ist er eigentlich dein Mann? Kenne ich ihn?«, wollte ich wissen und stand auch auf, um mich anzuziehen.

Sie verschränkte ihre Arme vor ihrem prallen Busen. »Das spielt keine Rolle«, kam es trocken von ihr.

Nachdem ich meine Hose anzog, ging zu ihr rüber und blieb ganz nahe vor ihr stehen. Sanft strich ich ihre dunkelblonden, langen Haare aus dem Gesicht und küsste ihre Lippen. Sie sah meine Brust an, strich mit ihren Fingern drüber, dann über meinen Sixpack und weiter nach unten. Für eine Sekunde dachte ich, dass sie auch noch nicht genug hatte. Aber ich wusste, dass es ein zweites Mal nicht geben würde.

Sie ließ von mir ab. »Geh jetzt, bitte!«

Ich zog mein Shirt über und nahm den Rest der Klamotten in die Hände. »Tschüss Püppchen!« Grinsend gab ich ihr einen Kuss, den sie – vermutlich aufgrund meiner eben gemachten Äußerung – nicht erwiderte und stattdessen das Gesicht demonstrativ von mir abwandte. Ich ging an ihr vorbei und verließ das Haus.