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Cassandra Young

Tokyo Speed





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kapitel 1: Der Karate-Star

 

 

Jack Spade spannte die Muskeln an. Er trug seinen blütenweißen Karateanzug mit dem blauen Gurt und stand mitten in der sonnendurchfluteten Trainingshalle. Die Fäuste waren geballt, die Beine sprungbereit.

Jack war starr wie ein Felsen.

Seine Gegner kreisten ihn ein, wie er mit schnellen Seitenblicken nach links und rechts feststellte. Es waren fünf Jungen und Mädchen, die ihm an den Kragen wollten. Sie waren schnell, sie waren clever und in der Überzahl.

Doch Jack verharrte immer noch. Nur ein leichtes Zittern seiner Nasenflügel bewies, dass er atmete.

Und dann startete Jack plötzlich durch.

Er bewegte sich nicht wie ein Typ, der ausrastet und dabei wild um sich keult. Nein, Jack handelte so präzise und scharf wie die Bügelfalte in seinem Karate-Anzug.

Blitzschnell feuerte er krasse Handkantenschläge und wilde Tritte ab, so fix wie ein Held in einem schrillen Manga-Comic.

Jack räumte seine Widersacher aus dem Weg, bevor die sich von der Überraschung erholen konnten.

Er erreichte den Ausgang der Trainingshalle, obwohl seine Gegner ihn daran hindern wollten. Doch Jack fackelte nicht lange. Schon lagen die anderen Kämpfer als ein Knäuel aus Armen und Beinen auf dem mattengedämpften Boden.

Noch ein schwieriger Fauststoß, dann war der Keks gebissen. Jack hatte gesiegt.

 

 

Meister Matani klatschte in die Hände.

Der alte japanischstämmige Karatelehrer hatte den Kampf aus der Entfernung genau beobachtet. Es war keine wilde Keilerei gewesen, sondern eine Übung.

Die fünf Gegner erhoben sich leise stöhnend.

Meister Matani trat auf Jack und dessen unterlegene Widersacher zu. Alle verbeugten sich tief vor dem Meister, wie es beim fernöstlichen Kampfsport Brauch war. Jacks Herz schlug ihm bis in den Hals. Er war voll nervös.

Ob er die Prüfung bestanden hatte? Der Übungskampf war total schwer für ihn gewesen.

Jack ging zwei Mal pro Woche zum Training in „Matani’s Karate School“ in Beverly Hills. In diesem Stadtteil von Los Angeles lebte er mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder.

Jack verzog den Mund, als er an Mark dachte. Sein Bruderherz veräppelte Jack nach Strich und Faden wegen dessen Karate-Fieber. Für Mark war die fernöstliche Kampfkunst nur ein albernes Herumgehampel. Mit dieser Einstellung ging er Jack natürlich voll auf den Senkel.

Aber der Junge hatte als Karatekämpfer Selbstbeherrschung gelernt. Daher nahm er Marks Spott-Kanonaden zähneknirschend hin.

Besonders in den letzten drei Monaten war die Verhöhnung durch den älteren Bruder hammermäßig gewesen. Da hatte Jack nämlich auch bei den Eltern im Garten Karate geübt, um für die Prüfung fit zu sein. Und Mark hatte ihn dabei nachgeäfft, als ob er im Oberstübchen nicht ganz dicht wäre …

Und nun – war vielleicht alles vergeblich gewesen?

An Meister Matanis Gesichtsausdruck konnte man unmöglich erkennen, ob Jack abgelost hatte oder nicht. Der japanischstämmige Amerikaner trug stets den gleichen pokermäßigen Gesichtsausdruck zur Schau.

Daher ging Jack der Hintern total auf Grundeis, als der Karatelehrer den Jungen in sein Büro zitierte. Jack hatte bei der Prüfung sein Bestes gegeben, das wusste er. Aber war das auch genug gewesen?

 

 

Der kleine Arbeitsraum hinter der Trainingshalle war spartanisch eingerichtet. Dort standen nur ein Tisch, zwei Stühle, ein PC und ein Regal. Außerdem hing an der Wand ein gerahmtes Foto von Funakoshi Gichin, dem Begründer des modernen Karatesports.

Mit einer knappen Handbewegung forderte Meister Matani seinen Schüler auf, Platz zu nehmen. Jack fiel es nicht schwer, sich zu setzen, denn seine Knie waren weich wie Softeis, und seine Stirn war von unzähligen kleinen Schweißtropfen bedeckt.

„Du hast die Prüfung mit Auszeichnung bestanden, Jack. Dennoch bin ich unzufrieden mit dir.“

Der Junge zuckte zusammen. Diese Bemerkung von Meister Matani konnte er nun überhaupt nicht wechseln. Der Karatelehrer lobte und kritisierte ihn in einem Atemzug. Hallo? Was sollte das denn bedeuten? Jack peilte es nicht.

Der Kampfsportmeister schaute seinen Schüler auffordernd an. Offenbar erwartete er eine Reaktion.

„Was – wie meinen Sie das, Meister?“

Etwas Besseres als diese Frage fiel Jack nicht ein. Zum Glück ließ die Antwort nicht lange auf sich warten.

„Du hast die Prüfung sehr gut gemeistert, Jack. Aber in deinem Gesicht lese ich deinen großen Selbstzweifel. Du musst auf dich selbst vertrauen, sonst wirst du niemals den wahren Sinn von Karate begreifen.“

Jack nickte, während seine Ohren so rot wurden wie die Augen einer üblen Fantasy-Bestie. Der erfahrene Kampfsportlehrer hatte Jacks wunden Punkt erkannt.

Oft war der Junge total unsicher, obwohl er seinen Sport liebte und mit Feuereifer bei der Sache war. Dass Jacks älterer Bruder ihn ständig mit blöden Witzen über Karate runtermachte, möbelte Jacks Selbstbewusstsein auch nicht gerade auf.

Aber – Jack hatte soeben die megaschwere Prüfung bestanden! Das war zweifellos die beste Nachricht, die er von Meister Matani kriegen konnte.

Doch der Kampfsportlehrer toppte sich noch selbst, und zwar mit der nächsten Ankündigung.

„Du bist sehr begabt, und darum wirst du als mein bester Schüler dieses Jahr zur Karate Challenge nach Tokio reisen.“

Jack wäre beinahe ausgeflippt, als er den Sinn von Meister Matanis Worten checkte. Nur die besten Karatesportler der Welt wurden zu diesem Event eingeladen. Dort hatte Jack die einmalige Chance, von den bekanntesten Karatetrainern Japans gecoacht zu werden.

Der Junge brachte die ganze Selbstbeherrschung auf, die ihm sein Meister beigebracht hatte. Deshalb sprang er nicht im Dreieck, sondern verbeugte sich nur tief und sagte: „Das ist eine große Ehre, Meister Matani.“

„Ja, und du wirst dich als würdig erweisen. Daran habe ich keine Zweifel, Jack. Du darfst eine Begleitperson mitnehmen, die Flüge und das Hotel zahlt unser Sponsor.“

Jack nickte abermals. Die Karateschule wurde von einem Fast-Food-Laden gesponsort, der mithilfe der durchtrainierten Kampfsportkids sein Fettfleck-Image aufpolieren wollte.

Das konnte Jack nur recht sein. Er zog sich selbst gelegentlich gern mal einen Hamburger rein, wie die meisten Jungen.

Aber bei dem Hammertraining, das er absolvierte, konnte er überhaupt keinen Speck ansetzen. Sein Bauch war jedenfalls immer noch so flach wie die Witze seines Bruders.

Zum Glück herrschten momentan in Kalifornien Sommerferien, daher konnte Jack sich kurzfristig loseisen. Die Karate Challenge sollte nämlich schon in einer Woche stattfinden, wie er nun erfuhr.

„Gib mir möglichst bald Bescheid, mit wem du reisen willst, Jack. Die Flugtickets werden nämlich auf eure Namen ausgestellt.“

Mit diesen Worten beendete Meister Matani die Unterredung.

Kapitel 2: Der nervige Bruder

 

Jack taumelte in Richtung Umkleide. Er war immer noch total überwältigt von der Aussicht, nach Tokio zu fliegen. Das war voll burnermäßig, vor allem für einen Karatefan wie ihn. Jack glaubte immer noch, im falschen Film zu sein.

Doch wenig später stand er frisch geduscht und in Jeans und T-Shirt auf dem Hof hinter der Karateschule. Nun brannte er darauf, seiner Familie endlich seinen Erfolg zu verkünden.

Jack schwang sich auf sein Mountainbike und düste Richtung Beverly Hills.

Die Spades wohnten in einer ruhigen grünen Vorstadtstraße, wo es nicht so versnobt zuging wie am Rodeo Drive, der Hauptstraße des Promi-Stadtteils.

Jack hatte Glück. An diesem späten Samstagnachmittag waren sowohl sein Dad als auch seine Mom daheim. Die Eltern freuten sich natürlich über die bestandene Prüfung. Doch als Jack von der Tokio-Reise anfing, umwölkte sich die Stirn seines Vaters.

„Das ist völlig unmöglich, mein Junge“, sagte Robert Spade. „Ich bin momentan in der Firma unabkömmlich. Wir haben ja schon den Familienurlaub deshalb verschieben müssen. Ich kann dich einfach nicht begleiten.“

„Ja, okay, das sehe ich ein.“ Jacks Blick richtete sich hoffnungsvoll auf seine Mutter. „Und was ist mit dir, Mom? Du hast doch bestimmt Lust, dir Tokio anzusehen. Shopping bis zum Abwinken, coole Designermode …“

„Das klingt verlockend, Schatz. Aber nachdem Tante Trudy neulich so schwer gestürzt ist, muss ich mich um sie kümmern. Ich bin die Einzige von meinen Schwestern, die noch in Los Angeles lebt. Und eine fremde Pflegekraft will ich nicht anheuern. Tante Trudy ist etwas schwierig, wie du weißt.“

Das ist noch untertrieben, dachte Jack. Tante Trudy lebte in einem Haus, das an eine Horrorfilmkulisse erinnerte. Von innen sah die Bruchbude allerdings picobello aus. Tante Trudy besaß immerhin geschätzte zweitausend Porzellanfigürchen, die alle täglich abgestaubt werden mussten. Wenn man das letzte Kitschteil gereinigt hatte, konnte man schon wieder von vorn anfangen.

Jack beneidete seine Mutter nicht darum, diesen Haushalt in Schuss halten zu müssen.

Mom seufzte bedauernd. Jack war sich sicher, dass sie ihn lieber nach Tokio begleitet hätte, als in Los Angeles den Staubwedel zu schwingen. Doch sie hatte ein zu gutes Herz, um Tante Trudy einfach im Stich zu lassen.

„Du willst also auch nicht mitkommen?“, vergewisserte er sich.

„Ich würde es gern, Schatz. Aber es geht einfach nicht.“

„Okay, das ist kein Problem. Einer von meinen Freunden aus der Karateschule begleitet mich bestimmt gern, Mike oder Phil oder …“

„Das kommt nicht in Frage!“, sagte Jacks Vater mit Bestimmtheit. „Ich lasse nicht zu, dass zwei Jungen in eurem Alter allein ins Ausland fliegen. Wer weiß, was da alles passieren kann. Nein, Jack – du wirst auf diese Reise verzichten müssen. Es tut mir leid.“

Jack war sprachlos. Nur weil seine Eltern keine Zeit hatten, sollte er auf diese einmalige Gelegenheit verzichten?

Er öffnete den Mund, um zu protestieren. Aber die Entschlossenheit auf Dads Gesicht bremste ihn im letzten Moment. Wenn er jetzt ausrastete und den wilden Mann markierte, würde er gar nichts erreichen. Er musste in Ruhe nachdenken, wenn es ihm auch extrem schwerfiel.

Für einen Karatekämpfer gibt es immer eine Lösung.

Diesen Satz hatte er von seinem Meister gelernt. Also riss er sich zusammen.

„In Ordnung. Ich gehe jetzt auf mein Zimmer.“

„Wir sind wegen der Prüfung sehr stolz auf dich, Jack. Wenn du einen Wunsch hast …“

Mit diesen Worten wollte seine Mom ihn gewiss trösten. Aber Jack hatte nur einen Wunsch, nämlich nach Tokio zu fliegen. Daher schüttelte er nur stumm den Kopf und verließ das Wohnzimmer.

Er schloss die Tür leise, obwohl er sie am Liebsten zugeknallt hätte.

 

 

Draußen atmete Jack erst einmal tief durch. Wut brachte nichts, diesen Satz hatte Meister Matani ihm immer wieder eingehämmert. Wer im Kampf nicht cool blieb, hatte schon verloren. Wer ausrastete, war ein leichtes Opfer für einen kaltblütigen Gegner.

Langsam latschte Jack die Stufen ins obere Stockwerk hoch, während er innerlich schon etwas runterfuhr. Er wollte sein Ziel erreichen, nämlich nach Tokio zu fliegen. Was musste er tun, um diesen Plan Wirklichkeit werden zu lassen?

Jack öffnete die Tür zu seinem Zimmer. Mark hatte seine Bude gleich nebenan. Sein älterer Bruder war zuhause, jedenfalls konnte man den lauten Gangsta-Rap durch die dünne Wand kaum überhören. Mark dudelte grundsätzlich immer Musik, auch wenn Jack pauken oder einfach nur seine Ruhe haben wollte.

Und dann fiel Jack plötzlich die Lösung für sein Problem ein.

Mark musste mit nach Tokio!

Im ersten Moment erschrak Jack über seinen eigenen Einfall. Normalerweise brauchte er seinen älteren Bruder ungefähr so nötig wie chronischen Fußpilz. Mark war der geborene Chaot, machte ständig Stress und nahm null Rücksicht auf andere.

Und mit so einer Flachzange wollte Jack freiwillig in ein fremdes Land reisen?

Doch während er ruhelos durch sein Zimmer tigerte, nahm sein Plan immer mehr Gestalt an. Es ging ja hauptsächlich darum, die Erlaubnis der Eltern zu kriegen.

Mom und Dad wollten nicht, dass Jack mit wildfremden Menschen verreiste. Okay, aber Mark war ja kein Außenstehender, sondern sogar sein Bruder. Und außerdem hatte Mark vor einem Jahr nach kalifornischem Gesetz die Volljährigkeit erlangt, war also erwachsen – obwohl er sich nach Jacks Meinung meist wie ein Kleinkind aufführte.

Aber wenn sie erst einmal in Tokio waren, konnte Mark ja seiner eigenen Wege gehen. Das würde er sowieso tun, denn der ältere Bruder fand Karate voll blöd und langweilig. Er würde gewiss nicht bei der Karate Challenge rumhängen und Jack dort blamieren …

Je länger Jack über sein Vorhaben nachgrübelte, desto besser gefiel es ihm. Er war bereit, für seinen Traum alles zu tun. Dafür würde er sogar das Hotelzimmer mit seinem obernervigen Bruder teilen.

Aber mit diesem Entschluss war der Plan noch nicht abgehakt. Er musste noch Mark von der Reise überzeugen. Und das war eine schwerere Aufgabe als die erfolgreich bestandene Karateprüfung.

Doch wenn Jack sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab es kein Halten mehr. Also verließ er sein Zimmer und ging sofort zu Mark hinüber.