Über John Fante

John Fante, geb. 1909 in Denver als Sohn italienischer Einwanderer, zog als Mittzwanziger nach L.A. In einer Stadt, die aus Filmträumen bestand, war er mehr als fehl am Platz, und so entstand sein unnachahmlicher Stil aus innerer Zerrissenheit, Großmut und erlösenden Rachegelüsten. Sein erster Roman »Warte auf den Frühling, Bandini« wurde 1938 veröffentlicht, im Jahr darauf folgte »Warten auf Wunder«. Er starb 1983 an einer Folge seiner Diabetes-Erkrankung. Posthum verlieh man ihm den PEN Award für sein Lebenswerk.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Sein Roman »Léon und Louise« (2011) war ein Bestseller. Von John Fante übersetze er die Romane »Warten auf Wunder«, »Warte bis zum Frühling, Bandini« und »Ich – Arturo Bandini«.Mehr Informationen unter www.alexcapus.de

Informationen zum Buch

»John Fantes Romane gehören zum Besten, was die amerikanische Literatur je hervorgebracht hat.« Charles Bukowski

50 Jahre nach seinem Tod erschien Fantes erster Roman um sein Alter Ego Arturo Bandini, einen so größenwahnsinnigen wie stolzen Italo-Amerikaner, der das Glück im Kalifornien der 30er Jahre sucht. Alex Capus hat das Originalmanuskript aufgespürt und Arturo Bandini neu zum Leben erweckt.

Anfang der dreißiger Jahre, ein Vorort von Los Angeles: Nach dem Tod seines Vaters muss sich der 18-jährige Arturo Bandini in einer heruntergekommenen Fischfabrik sein Brot verdienen. Doch er hat den Alltag und den endlosen Kleinkrieg zu Hause satt. Er liest Schopenhauer und Nietzsche und träumt von Höherem: Er möchte Schriftsteller werden. Und dafür muss er nach Los Angeles gelangen. Schnell schließt der Leser diesen arroganten, bös-witzigen und doch so sehnsuchtsvollen jungen Mann in sein Herz. Und träumt seinen großen Traum mit ihm. Der Roman erschien nicht mehr zu Fantes Lebzeiten, zu provokant waren Thema und Sprache für das Amerika der dreißiger Jahre. Erst 1985 wurde er veröffentlicht, bei Blumenbar nun erstmals in gebührender Übersetzung.

»Fante erzählt mit so viel Liebe und Humor, dass man seine Figuren sofort ins Herz schließt.« Martin Becker, Deutschlandfunk

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Aus dem Amerikanischen und mit
einem Nachwort von Alex Capus

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Nachwort

Impressum

1

Ich hatte viele Jobs im Hafen von Los Angeles, denn meine Familie war arm und mein Vater tot. Gleich nach meinem Abschluss an der High School fing es damit an, dass ich auf einem unbebauten Grundstück Gräben aushob. Aus wolkenlosem Himmel schien die Sonne senkrecht auf mich herunter, auf der Baustelle gab es keinen Schatten, und ich steckte in einem Loch mit zwei Gorillas, denen die Sache riesigen Spaß zu machen schien. Sie schaufelten pausenlos und erzählten einander die ganze Zeit Witze, sie lachten unablässig und rauchten bitteren Tabak. Vom Schaufeln tat mir nachts im Bett der Rücken derart weh, dass ich nicht schlafen konnte.

An meinem ersten Arbeitstag hatte ich losgelegt wie der Teufel. Die zwei Gorillas hatten mir lachend zugeschaut und gesagt, dass ich mit der Zeit schon einiges übers Buddeln herausfinden würde. Dann wurden mir der Pickel und die Schaufel in den Händen schwer. Ich saugte mir das Wundwasser aus den Blasen, ich hasste die Kerle.

Eines Mittags hatte ich genug. Ich setzte mich hin, betrachtete meine Hände und sagte zu mir selbst: Arturo, hör auf mit dem Job, bevor er dich umbringt.

Ich stand auf und rammte meine Schaufel in den Boden.

»Das war’s für mich, Jungs«, sagte ich. »Ich habe beschlossen, eine Stelle bei der Hafenbehörde anzunehmen.«

Dann wurde ich Tellerwäscher. Tag für Tag stand ich vor einem Fensterloch, sah hinaus auf Abfallberge und Fliegenschwärme und spülte stapelweise schmutziges Geschirr wie eine Hausfrau. Meine Hände schwammen im bläulichen Spülwasser wie tote Fische. Es war ekelhaft. Mein Boss war ein dicker Koch, der mit den Pfannen klapperte und mich zur Arbeit antrieb. Ab und zu landete eine dicke Fliege auf seiner fetten Wange und ließ sich nicht mehr von dort vertreiben, das war mir jedes Mal eine große Freude. Vier Wochen hielt ich es aus, dann sagte ich mir: Hör zu, Arturo, bei diesem Job sind deine Zukunftsaussichten nicht gerade rosig, wieso hörst du nicht auf damit? Und zwar gleich heute Abend? Warum sagst du dem Koch nicht, dass er sich ficken kann?

Ich brachte es nicht über mich, bis zum Abend zu warten. Es war mitten an einem Nachmittag im August, als ich die Schürze abnahm, vor mir wartete ein Berg schmutziges Geschirr. Ich musste lächeln.

»Was ist so lustig?«

»Ich bin hier fertig, Boss, das ist lustig. Feierabend.«

So ging ich durch die Hintertür. Die Glocke bimmelte. Mein Boss blieb zwischen dem Müll und dem dreckigen Geschirr zurück und kratzte sich am Schädel. Wann immer ich später an all das Geschirr zurückdachte, musste ich lachen. Es kam mir so lustig vor.

Danach wurde ich Beifahrer auf einem Laster. Wir transportierten Kartons mit Toilettenpapier vom Lagerhaus zu den Lebensmittelläden an den Häfen von San Pedro und Wilmington. Es waren große Kartons von drei Fuß Kantenlänge und fünfzig Pfund Gewicht. Wenn ich nachts im Bett lag, musste ich husten und sah vor meinem inneren Auge lauter Kartons.

Der Fahrer des Lasters war mein Boss. Er hatte tätowierte Arme und trug enge gelbe Poloshirts, unter denen seine Muskeln hervortraten. Er liebkoste seine Muskeln, wie man das Haar eines Mädchens streichelt. Ich hatte Lust, darüber ein paar dreckige Sprüche zu machen.

Die Kartons stapelten sich im Lagerhaus bis unters Dach, fünfzig Fuß hoch. Ich musste sie herunterholen und zum Laster schleppen. Mein Boss sah mir mit verschränkten Armen zu. Dann nahm er die Kartons entgegen und lud sie auf.

Arturo, sagte ich zu mir, du musst dich entscheiden. Der Kerl sieht zwar wie ein ziemlich harter Bursche aus, aber lässt du dich davon etwa beeindrucken?

Eines Tages stürzte ich im Lagerhaus aus großer Höhe hinunter. Ein Karton fiel hinter mir her und landete auf meinem Bauch. Ich blieb am Boden liegen. Der Boss grunzte und schüttelte den Kopf. Er erinnerte mich an einen Footballspieler. Ich fragte mich, wieso er kein Monogramm auf der Brust trug. Lächelnd stand ich auf.

Dann kam die Mittagspause. Ich legte mich in den Schatten unter dem Laster und aß mein Sandwich. Ich brauchte ziemlich lange dafür, weil ich immer noch Bauchschmerzen hatte. Die Mittagspause verging schnell. Der Boss kam aus dem Lagerhaus und sah, dass ich noch das halbe Sandwich zwischen den Zähnen hatte. Der Pfirsich, den ich mir zum Nachtisch eingepackt hatte, lag unberührt neben mir.

»He, du! Ich bezahl dich nicht dafür, dass du im Schatten rumlungerst!«

Ich kroch unter dem Anhänger hervor und richtete mich auf. Die richtigen Worte hatte ich mir schon zurechtgelegt. »Ich kündige«, sagte ich. »Sie und Ihre blöden Muskeln können von mir aus zur Hölle fahren. Mir reicht’s.«

»Gut«, sagte er. »Das hoffe ich doch.«

»Ich hab die Nase voll.«

»Gott sei Dank.«

»Und noch was.«

»Was?«

»Meiner Meinung nach sind Sie ein überdimensional großes Arschloch.«

Er erwischte mich nicht.

Später beschäftigte mich die Frage, was wohl mit dem Pfirsich geschehen war. Ob der Boss ihn unter seinem Absatz zerquetscht hatte? Nach drei Tagen wollte ich mir Klarheit verschaffen. Der Pfirsich lag unberührt am Straßenrand. Er war von Ameisen übersät, die auf ihm ein Fest feierten.

Dann fand ich Arbeit in einem Lebensmittelladen. Der Besitzer war ein Italiener namens Tony Romero. Er hatte einen Bauch wie ein Butterfass. Wenn er nichts zu tun hatte, stand er am Käseregal und brach sich kleine Stücke Käse ab. Sein Geschäft lief gut. Für Importwaren war er die erste Adresse am Hafen.

Eines Morgens kam er hereingewatschelt und sah mich mit einem Notizblock und einem Bleistift im Laden stehen. Ich machte Inventur.

»Inventur?«, fragte er. »Was ist das?«

Ich erklärte es ihm. Es gefiel ihm nicht. Er sah sich im Laden um. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du jeden Morgen als Erstes den Boden fegen sollst. Mach dich an die Arbeit.«

»Heißt das, Sie wollen nicht, dass ich Inventur mache?«

»Genau. Keine Inventur. Mach dich an die Arbeit.«

Jeden Nachmittag um drei Uhr war der Laden voller Kundschaft. Es war zu viel für einen einzelnen Mann. Tony Romero tat, was er konnte, watschelte aufgeregt hinter seinem Tresen hin und her, der Schweiß lief ihm in Strömen den Hals hinunter. Aber er schaffte es nicht, die Leute verließen den Laden ohne einzukaufen, weil sie nicht länger warten wollten. Suchend sah Tony sich nach mir um, aber ich war nirgends zu sehen. Er rief und brüllte. Ich gab keine Antwort. Schließlich lief er nach hinten und polterte gegen die Toilettentür. Ich las gerade Nietzsche und lernte einen langen Abschnitt über die Wollust auswendig. Das Gepolter ignorierte ich. Da stellte Tony Romero eine Eierkiste vor die Tür, stieg darauf, schob sein breites Kinn über die Türkante und sah auf mich hinunter.

»Mannaggia Gesù Cristo!«, brüllte er. »Komm sofort raus!«

Ich versicherte ihm, dass ich gleich soweit sei, und bat ihn, sich noch ganz kurz zu gedulden. Tony ging brüllend weg. Aber das war noch nicht der Grund, weshalb er mich feuerte.

Eines Abends addierte er im Kassenbuch die Tageseinnahmen und verglich sie mit dem Inhalt der Kasse. Es war schon spät, fast neun Uhr. Ich wollte noch in die Bibliothek, bevor sie zumachte. Tony Romero fluchte leise vor sich hin, dann rief er mich zu sich.

»Mir fehlen zehn Dollar.«

»Seltsam«, sagte ich.

»Sie sind nicht da.«

Ich überprüfte seine Rechnung drei Mal und zählte sorgfältig den Kasseninhalt nach. Es fehlten tatsächlich zehn Dollar. Wir suchten den Fußboden ab und wühlten mit den Schuhen im Sägemehl, dann durchsuchten wir die Kassenschublade bis in ihre tiefsten Tiefen, nahmen sie heraus und untersuchten den Schacht. Der Schein blieb verschwunden. Ich fragte Tony, ob er vielleicht einem Kunden zu viel Wechselgeld herausgegeben hätte. Ganz sicher nicht, sagte Tony. Mit seinen Würstchenfingern fuhr er sich in sämtliche Taschen und klopfte sie ab. Erfolglos.

»Gib mir eine Zigarette.«

Ich zog meine Zigarettenpackung aus der hinteren Hosentasche, da kam der Zehndollarschein zum Vorschein und fiel zwischen Tony und mir zu Boden. Ich hatte ihn sorgfältig in die Packung gesteckt, aber irgendwie musste er herausgerutscht sein. Tony zerbrach seinen Bleistift, dass es splitterte. Sein Gesicht wurde puterrot, die Wangen zitterten. Dann legte er den Kopf in den Nacken und spuckte mir ins Gesicht.

»Du dreckige Ratte! Raus hier!«

»Okay. Wie Sie wollen.«

Ich holte meinen Nietzsche unter dem Tresen hervor und ging zur Tür. Nietzsche! Was wusste Tony Romero über Nietzsche?

Er zerknüllte den Zehndollarschein und warf ihn mir hinterher. »Da! Das ist dein Lohn für drei Tage Arbeit, du Dieb!«

Ich zuckte mit den Schultern. An einem Ort wie diesem hatte Nietzsche nichts verloren.

»Ich gehe ja schon«, sagte ich. »Regen Sie sich nicht auf.«

»Raus!«

Er stand gut fünfzehn Meter von mir entfernt.

»Sie sollten wissen«, sagte ich, »dass ich hocherfreut bin, von hier wegzukommen. Ihre sabbernde, elefantenhafte Unterwürfigkeit und Katzbuckelei hängt mir zum Hals heraus. Eine Woche lang habe ich mich nun mit dem Gedanken getragen, diesen grotesken Job aufzugeben. Also fahren Sie zur Hölle, Sie elender Gauner von einem Spaghettifresser.«

Ich verlangsamte meinen Lauf erst, als ich bei der Zweigstelle der Los Angeles Public Library angekommen war. An jenem Abend hatte Miss Hopkins Dienst. Sie hatte langes blondes Haar, das sie straff nach hinten gekämmt trug. Ich wollte mein Gesicht darin vergraben, seinen Duft riechen, die seidige Textur in meinen Fäusten spüren. Miss Hopkins war so schön, dass ich kaum ein Wort herausbrachte. Sie lächelte mich an. Ich schnappte nach Luft. Dann sah ich auf meine Uhr.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich es noch rechtzeitig schaffen würde«, sagte ich.

»Ein paar Minuten haben Sie noch.«

Ich wagte einen kurzen Blick auf Miss Hopkins’ leichten Sommerrock. Falls ich sie unter einem Vorwand dazu brächte, hinter ihrem Schreibtisch hervorzukommen und durch den Saal zu gehen, würde ich vielleicht das Glück haben, die Silhouette ihrer Beine zu sehen. Ich hatte mich schon oft gefragt, wie wohl ihre Beine aussehen mochten.

An jenem Abend war nicht viel los. Außer uns beiden waren nur noch zwei alte Leute im Saal, die in einer Ecke Zeitung lasen. Ich reichte ihr den Nietzsche-Band, sie stempelte ihn ab. Langsam kam ich wieder zu Atem.

»Würden Sie mir bitte die Geschichtsabteilung zeigen?«

Sie lächelte ein Ja. Ich lief ihr hinterher. Der Anblick war enttäuschend. Ihr Kleid war von falscher Machart, das Licht drang nicht durch den hellblauen Stoff. Ich betrachtete die geschwungene Linie ihrer Fersen. Ich hatte Lust, sie zu küssen. Bei der Geschichtsabteilung drehte sie sich um und sah mir kalt ins Gesicht. Anscheinend ahnte sie, dass ich mich in sie vertieft hatte. Sie ließ mich stehen und ging zurück an ihren Schreibtisch.

Ich zog ein paar Bücher aus dem Regal und stellte sie wieder zurück. Miss Hopkins spürte wohl, dass meine Gedanken noch immer bei ihr waren, aber ich wollte jetzt an nichts anderes denken. Ihre Beine unter dem Schreibtisch waren übereinandergeschlagen. Wunderbare Beine. Ich wollte sie umfangen.

Unsere Blicke kreuzten sich. Miss Hopkins lächelte mit einem Lächeln, das sagte: Dann guck halt, wenn es dir Spaß macht, ich kann dich nicht dran hindern, aber wenn ich könnte, würde ich dir eine runterhauen. Ich meinerseits hätte gern auch etwas zu ihr gesagt. Ich hätte zum Beispiel ein paar Nietzsche-Zitate referieren können, vielleicht jene großartige Passage aus Zarathustra über die Wollust. Aber ich konnte die Stelle nicht auswendig.

Um neun Uhr läutete Miss Hopkins die Glocke. In letzter Sekunde hetzte ich zur Philosophieabteilung, tat einen blinden Griff und erwischte einen weiteren Band Nietzsche: Mensch und Übermensch. Das würde Miss Hopkins umhauen, da war ich mir sicher.

Sie blätterte in dem Buch umher, bevor sie es abstempelte. »Meine Güte, was Sie für Bücher lesen!«

»Ach«, sagte ich. »Das versteht sich doch von selbst. Ich lese grundsätzlich keinen Schund, wissen Sie?«

Wir sagten einander auf Wiedersehen, dann schenkte sie mir noch ein Lächeln.

Ich beantwortete es, indem ich sagte: »Was für eine prachtvolle Nacht, nicht wahr? Ätherisch prachtvoll.«

»Ach ja?« Miss Hopkins musterte mich stirnrunzelnd und wühlte mit der Spitze des Bleistifts in ihrem Haar.

Ich ging rückwärts zum Ausgang, stolperte durch die Tür und fiel beinahe hin.

Draußen an der frischen Luft fühlte ich mich noch schlechter, dann die Nacht war weder ätherisch noch prachtvoll, sondern kalt und neblig, und die Straßenlampen blakten diesig im bleichen Dunst. An der Bordsteinkante stand ein Auto mit laufendem Motor, ein Mann saß am Steuer. Der Kerl wartete bestimmt auf Miss Hopkins, um sie zurück nach Los Angeles zu bringen. Ich fand, dass er wie ein Trottel aussah. Hatte er etwa Spengler gelesen? Hatte er eine Ahnung vom Untergang des Abendlands, unternahm er etwas dagegen? Keineswegs! Er war nur ein Depp und ein Idiot. Zur Hölle mit ihm.

Ich steckte mir eine Zigarette an und ging los. Der Nebel waberte um mich her und sank in mich ein. Als ich an der Ecke zur Anaheim Street an Jim’s Place vorbeikam, ging ich hinein und setzte mich an den Tresen. Neben mir saß ein Mann beim Abendessen, den ich an den Docks oft gesehen hatte. Er war Schiffsbelader und hieß Hayes. Ich bestellte ein Steak, dann ging ich zum Verkaufsregal mit den Büchern und Zeitschriften. Erst sah ich mir die Taschenbücher an, dann blätterte ich ein paar Nummern von Artists and Models durch. Ich entschied mich für die zwei Ausgaben, in denen die Frauen am wenigsten Kleider anhatten.

Als Jim mir mein Essen brachte, bat ich ihn, die Zeitschriften für mich einzupacken. Er deutete auf den Nietzsche unter meinem Arm. »Nein, den nicht«, sagte ich. »Den trage ich so.«

Mit einem Knall ließ ich das Buch auf den Tresen fallen. Über den Spiegel konnte ich sehen, wie mein Sitznachbar Hayes kurz zu kauen aufhörte und das Buch ansah. Er las den Titel: Mensch und Übermensch, dann warf er mir aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Ich aß mein Steak und ließ mir nichts anmerken. Gastwirt Jim verfolgte aus der Ferne meine Kaubewegungen, um herauszufinden, ob das Steak zart genug für mich war.

»Jim«, sagte ich. »Dieses Pabulum ist wirklich antediluvian.«

»Wie?«, sagte Jim.

»Dein Steak. Es ist eine vorsintflutliche Schuhsohle. Archaisch. Urzeitlich. Paläoanthropologisch. Antik. Kurz, es ist alt und senil.«

Schiffsbelader Hayes hörte auf zu kauen und drehte den Kopf nach mir um.

Jim lächelte verständnislos. »Wovon sprichst du?«

»Von deinem Steak, mein Freund, von diesem Stück Fleisch hier auf meinem Teller. Dieses Stück Leder ist zäher als eine Wölfin.«

Ich warf meinem Sitznachbarn einen Blick zu, worauf dieser sich rasch wieder abwandte.

Diese Sache mit dem Steak gefiel Jim gar nicht. Er beugte sich über den Tresen zu mir und flüsterte: »Hör zu, ich brate dir gern ein anderes Steak.«

»Aber nein, braver Mann, lass gut sein! Dieses Steak übertrifft meine kühnsten Erwartungen.«

Jetzt war es Hayes, der die Szene über den Spiegel beobachtete. Mal sah er mich an, mal das Buch. Mensch und Übermensch. Ich kaute mein Steak, blickte geradeaus und beachtete ihn nicht. Als Hayes aufgegessen hatte, ging er zu Jim und beglich seine Rechnung, und dabei flüsterten die beiden über die Kasse hinweg. Hayes nickte und Jim grinste, und dann flüsterten sie noch mal. Schließlich lächelte Hayes, sagte gute Nacht und warf mir im Hinausgehen über die Schulter einen letzten Blick zu.

Jim kam zu mir zurück. »Dieser Kerl da wollte alles über dich wissen.« »Was du nicht sagst!«

»Er sagt, du redest wie ein ziemlich schlaues Bürschchen.«

»Man fasst es nicht! Wer ist er denn, und was tut er?«

»Sein Name ist Joe Hayes. Er ist Schiffsbelader.«

»Ein Beruf für Feiglinge«, sagte ich. »Unterwandert von Blödmännern und Eseln. Wir leben in einer Welt voller Stinktiere und Menschenaffen.«

Ich reichte Jim den Zehndollarschein. Er kam mit dem Wechselgeld zurück. Ich bot ihm fünfundzwanzig Cent Trinkgeld an. Er lehnte ab.

»Nimm es als bewusste kleine Geste der Anerkennung«, sagte ich. »Ein Symbol unserer Kameradschaft. Mir gefällt, wie du die Dinge hier anpackst, Jim. Deine Art löst in mir eine Empfindung des Wohlgefallens aus.«

»Ich versuche es jedem recht zu machen.«

»Ich bin frei von jeder Beschwerde, wie Tschechow sagen würde.«

»Welche Zigaretten rauchst du?«

Ich sagte es ihm. Er holte zwei Packungen.

»Auf meine Rechnung«, sagte er.

Ich steckte sie ein.

Aber mein Trinkgeld wollte er nicht annehmen.

»Nimm es«, sagte ich. »Es ist nur eine Geste.«

Wieder lehnte er ab. Wir verabschiedeten uns, er ging mit den schmutzigen Tellern in die Küche, ich zum Ausgang. An der Tür tat ich einen raschen Griff ins Regal mit den Süßigkeiten und steckte mir zwei Schokoriegel unters Hemd. Dann verschluckte mich der Nebel. Ich aß die Schokoriegel auf dem Heimweg. Ich war froh um den Nebel, dank ihm konnte Mister Hutchins mich nicht sehen. Er stand in der Tür seines kleinen Radiogeschäfts und hielt nach mir Ausschau, weil ich ihm vier Raten für unser Radio schuldete. Er hätte nur den Arm ausstrecken müssen, dann hätte er mich berührt. Aber er sah mich nicht.

2

Wir wohnten in einem langgezogenen Mietshaus am Avalon Boulevard, dessen Fassade rosa gestrichen und mit Stuck verziert war. Die Farbe war verblichen und der Stuck durch mehrere Erdbeben beschädigt, nachts saugte das Haus den Nebel auf wie ein Schwamm. Am Morgen waren die Mauern nicht mehr rosa, sondern triefend rot. Rot gefielen sie mir am besten.

Viele unserer Nachbarn waren Filipinos. Eine Filipino-Familie wohnte direkt unter uns im Erdgeschoss. Der Zustrom der Filipinos richtete sich nach den Jahreszeiten. Zur Fischfangzeit kamen sie in den Süden, im Sommer zogen sie wieder nordwärts in die Gegend von Salinas, um dort Früchte und Gemüse zu ernten. In unserem Haus quietschte die Treppe auf jeder Stufe wie ein Mäusenest. Unsere Wohnung lag auf der zweiten Etage. Sowie ich den Türknauf in die Hand nahm, sank meine Stimmung auf den Tiefpunkt. Dieses Gefühl hatte ich beim Heimkommen schon immer gehabt, sogar damals schon, als mein Vater noch lebte und wir in einem richtigen Haus wohnten. Ich hatte schon immer weggehen oder alles verändern wollen, und schon immer hatte ich mir vorzustellen versucht, wie das wohl wäre, wenn alles anders wäre. Aber was ich hätte tun können, damit sich etwas änderte, wusste ich nicht.

Ich stieß die Tür auf. Die Dunkelheit roch nach Zuhause. Ich schaltete das Licht ein. Meine Mutter lag auf dem Sofa. Sie rieb sich die Augen und stützte sich auf die Ellbogen. Der Anblick meiner halbwachen Mutter erinnerte mich an die längst vergangenen Tage meiner Kindheit, als ich morgens zu ihr ins Bett krabbelte und an ihr roch. Später dann konnte ich das nicht mehr tun, weil sie nun mal meine Mutter war. Ihr Geruch war ein salziger, öliger Duft. Der Gedanke, dass meine Mutter alterte, war mir unerträglich, er machte mich wahnsinnig.

Sie setzte sich auf und lächelte mich an, ihr Haar vom Schlaf zerwühlt. Das erinnerte mich an die Zeiten, als wir in einem richtigen Haus gewohnt hatten.

»Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr heimkommen.«

»Wo ist Mona?«

»In der Kirche.«

»Mein eigen Fleisch und Blut gibt sich in einem Gebetshaus dem Aberglauben hin!«, rief ich. »Meine Schwester ist eine Nonne, eine Gottesanbeterin! Was für eine Barbarei!«

»Fang nicht wieder damit an«, sagte meine Mutter. »Du bist nur ein Junge, der zu viele Bücher gelesen hat.«

»Das glaubst du«, sagte ich. »Mir scheint ganz evident, dass du einen Fixierungskomplex hast.«

Ihr Gesicht wurde blass. »Einen was?«

»Ach, vergiss es. Es hat keinen Zweck, mit Bauerntrampeln, Dorftrotteln und Schwachköpfen zu reden. Ein vernünftiger Mann übt Zurückhaltung bei der Auswahl seiner Zuhörer.«

Mit ihren langen Fingern fuhr sie sich durchs Haar wie Miss Hopkins, aber ihre Hände waren hart und abgearbeitet und hatten Knoten und Falten an den Gelenken. Und sie trug einen Ehering.

»Bist du dir der Tatsache bewusst«, sagte ich, »dass ein Ehering ein vulgäres Symbol phallischer Penetration ist, ein verkümmerter Überrest primitiver Wildheit, der in unserer Ära sogenannter Aufgeklärtheit und Intelligenz nichts verloren hat?«

Sie sagte: »Was?«

»Vergiss es. Wenn ich es dir zu erklären versuchte, vermöchte dein weibliches Gemüt es nicht zu fassen.«

Meine Mutter lachte.

»Lach nur, wenn dir danach ist. Aber eines Tages, das sage ich dir, wird sich dein Ton mir gegenüber ändern.«

Dann trug ich meine neuen Zeitschriften in mein privates Studierzimmer, das sich im Innern unseres Kleiderschranks befand. Es gab darin kein elektrisches Licht, nur Kerzen. Im Studierzimmer angekommen, nahm ich Witterung auf. Etwas lag in der Luft. Es war, als ob in meiner Abwesenheit etwas oder jemand hier gewesen wäre. Im Licht der Kerzen sah ich mich um, und richtig: An einem Kleiderhaken hing die kleine rosa Strickjacke meiner Schwester.

Ich nahm sie herunter und sagte zu ihr: »Was fällt dir ein, hier herumzuhängen? Mit welchem Recht tust du das? Ist dir nicht klar, dass du ins Allerheiligste dieses Hauses der Liebe eingedrungen bist?« Ich öffnete die Schranktür und warf das Jäckchen aufs Sofa.

»Kleider haben hier keinen Zutritt!«

Meine Mutter kam angerannt. Schnell schloss ich die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss um. Ihre Schritte hielten vor dem Schrank inne, dann rüttelte sie am Türknauf. Ich packte mein Paket aus. Die neuen Bilder in Artists and Models waren herrlich. Ich suchte mir mein Lieblingsmädchen aus. Sie lag auf einem weißen Teppich und hielt sich eine rote Rose an die Wange. Ich legte das Bild zwischen den Kerzen auf den Schrankboden und ging auf die Knie.

»Chloe«, sagte ich. »Ich bete dich an. Deine Zähne sind weiß wie eine Schafherde auf Mount Gilead, und deine Wangen sind zart. Ich bin dein unterwürfiger Diener und entbiete dir meine immerwährende Liebe.«

»Arturo!«, sagte meine Mutter. »Mach auf.«

»Was willst du?«

»Was machst du da drin?«

»Lesen. Studieren! Ist mir sogar das verwehrt in meinem eigenen Haus?«

Mamma schlug mit den Knöpfen der Strickjacke gegen den Schrank. »Lass mich das Ding wieder in den Schrank hängen! Ich weiß sonst nicht, wohin damit.«

»Unmöglich.«

»Was machst du denn da drin?«

»Lesen.«

»Was?«

»Literatur!«

Sie ging nicht weg. Durch den Türspalt sah ich ihre nackten Zehen. Solange meine Mutter dort draußen stand, konnte ich das Zwiegespräch mit Chloe nicht fortsetzen. Ich legte die Zeitschrift beiseite und wartete. Meine Mutter ging nicht weg. Sie rührte sich nicht mal. Fünf Minuten vergingen. Die Kerzen flackerten und erloschen, mein Studierzimmer füllte sich mit Rauch. Meine Mutter bewegte sich kein bisschen. Schließlich legte ich die Zeitschriften auf den Boden und bedeckte sie mit einem Karton.

Ich hatte Lust, meine Mutter anzubrüllen. Sie konnte doch wenigstens irgendeine Bewegung, irgendein Geräusch machen, einen Fuß anheben zum Beispiel, oder pfeifen. Ich nahm einen Roman zur Hand und steckte einen Finger hinein wie ein Lesezeichen, dann sperrte ich die Tür auf.

Draußen stand Mamma und starrte mir ins Gesicht. Ich hatte das Gefühl, dass sie über alles Bescheid wusste. Sie stemmte die Hände in die Hüften und schnupperte, dann sah sie in alle Ecken, zur Decke hoch, auf den Boden.

»Was um alles in der Welt tust du hier drin?«

»Ich lese. Ich bilde mich weiter. Verbietest du mir sogar das?«

»Etwas stimmt hier nicht. Ganz und gar nicht. Du liest doch nicht etwa wieder diese scheußlichen Bilderbücher?«

»Ich dulde in meinem Haus keine Methodisten, keine Prüderie und keine Lüsternheit! Diesen stinkenden Puritanismus bin ich ein für alle Mal leid! Meine eigene Mutter ist eine geifernde Eifererin schlimmster Sorte, dieser grässlichen Wahrheit müssen wir jetzt endlich ins Auge sehen.«

»Deine Bilderbücher machen mich krank«, sagte sie.

»Lass die armen Bilder in Frieden, die können nichts dafür, dass du eine frustrierte, fanatische Sektiererin bist. Im Herzen bist du eine Kanaille und eine Schurkin, eine Idiotin und ein Arsch.«

Sie schob mich beiseite und stieg in den Schrank, wo es nach verbranntem Wachs und nach flüchtigen, auf den Fußboden ergossenen Leidenschaften roch. Da wurde ihr klar, was die Dunkelheit barg. Sie machte sich auf den Rückzug.

»Gott im Himmel!«, rief sie. »Lass mich hier raus!« Sie stieß mich aus dem Weg und knallte die Schranktür hinter sich zu, dann hörte ich sie in der Küche mit ihren Töpfen und Pfannen hantieren, bis sie auch dort die Tür zuknallte. Ich verriegelte meinerseits die Schranktür, zündete die Kerzen wieder an und nahm meine Unterhaltung mit Chloe wieder auf. Nach einer Weile klopfte meine Mutter an und sagte, das Abendessen sei bereit. Ich antwortete, ich hätte schon gegessen. Sie ging nicht weg, sondern druckste vor dem Schrank herum. Etwas braute sich dort draußen zusammen, das spürte ich. Ich hörte, wie sie einen Stuhl vor den Schrank schob und sich darauf setzte.

Ich wusste, dass sie jetzt mit verschränkten Armen da saß und auf ihre Schuhspitzen hinunterstarrte, die Füße exakt parallel nebeneinander, wie immer, wenn sie irgendwo saß und auf irgendetwas wartete. Mir war klar, dass sie nicht so schnell weggehen würde. Ich klappte die Zeitschrift zu und wartete ebenfalls. Wenn sie das konnte, konnte ich es auch. Ihre Schuhspitzen klopften einen Takt auf dem Teppich. Der Stuhl quietschte. Der Takt wurde schneller. Plötzlich sprang sie auf und hämmerte gegen den Schrank. Ich öffnete sofort.

»Komm jetzt da raus!«

Ich stieg aus dem Schrank, so schnell ich konnte. Sie lächelte erschöpft, aber erleichtert. Sie hatte kleine Zähne. In der unteren Reihe war einer schief wie ein Soldat, der aus der Reihe tanzt. Meine Mutter war nicht größer als eins sechzig, aber wenn sie hohe Absätze trug, wirkte sie ziemlich groß. Sie war fünfundvierzig Jahre alt, ihre Haut war unter den Ohren schon ein bisschen schlaff. Ich war froh, dass sie noch keine grauen Haare hatte. Ich hielt ständig bei ihr nach grauen Haaren Ausschau, aber bis jetzt waren noch keine aufgetaucht. Ich gab Mamma ein paar Knüffe und kitzelte sie, bis sie auf den Stuhl sank und in Lachen ausbrach. Dann ging ich zum Sofa, legte mich hin und schlief eine Weile.

3

Ich wachte auf, als meine Schwester nach Hause kam. Mein Kopf schmerzte, und am Rücken hatte ich eine Art Muskelkater, dessen Ursache mir bekannt war – ich hatte zu viel an nackte Frauen gedacht. Die Uhr auf dem Radio zeigte elf. Mona zog ihren Mantel aus und ging auf den Kleiderschrank zu. Ich empfahl ihr, sich von der Schranktür fernzuhalten, falls ihr das Leben lieb sei. Sie lächelte herablassend und trug ihren Mantel ins Schlafzimmer. Ich wälzte mich herum, schwang meine Füße auf den Fußboden und fragte Mona, wo sie gewesen sei. Sie gab keine Antwort. Ihre Gewohnheit, mich wie Luft zu behandeln, trieb mich zur Weißglut. Ich hasste sie nicht, aber manchmal wünschte ich mir, sie zu hassen. Sie war ein hübsches Mädchen, sechzehn Jahre alt und ein wenig größer als ich, mit schwarzem Haar und schwarzen Augen. Einmal hatte sie an der High School einen Preis für die schönsten Zähne gewonnen. Ihr Hintern hatte die Form eines italienischen Brotlaibs, schön rund und genau richtig. Auf der Straße hatte ich schon oft gesehen, wie die Jungs ihr auf den Hintern guckten. Aber Mona war kühl, und ihr Gang war eine Enttäuschung. Meiner Schwester gefiel es nicht, wenn Männer ihr hinterherschauten, das war für sie eine Sünde. Zumindest sagte sie das. Sie fand es ekelhaft und peinlich.

Manchmal ließ sie ihre Schlafzimmertür offenstehen, dann konnte ich sie beobachten. Manchmal guckte ich auch durchs Schlüsselloch oder versteckte mich unter ihrem Bett. Ich sah, wie sie sich rückwärts vor den Spiegel stellte und ihren Hintern betrachtete, wie sie mit den Händen darüberstrich und den Rock straffte. Mona trug ausschließlich enganliegende Röcke. Bevor sie sich auf ihre kühle und gezierte Weise auf einen Stuhl setzte, wischte sie jedes Mal die Sitzfläche ab. Ich hatte schon oft versucht, ihr das Zigarettenrauchen beizubringen, aber sie wollte nicht. Auch hatte ich mehrfach versucht, ihr in Fragen der Lebensführung und der Sexualität mit gutem Rat zur Seite zu stehen, aber dann sagte sie immer, ich sei komplett verrückt. Sie war genau wie mein Vater damals, sehr reinlich und arbeitsam, zu Hause wie in der Schule. Sie kommandierte meine Mutter herum. Mona war klüger als Mamma, aber an meine intellektuelle Brillanz reichte sie nicht heran, nie und nimmer. Sie kommandierte alle herum, nur mich nicht. Nachdem mein Vater gestorben war, hatte sie auch mich herumzukommandieren versucht, aber ich hatte es mir nicht gefallen lassen – nicht von meiner eigenen Schwester. Also beschloss sie, dass es bei mir sowieso nicht der Mühe wert war. Ab und zu ließ ich mich dann doch von ihr herumkommandieren, aber nur, um meine mentale Flexibilität unter Beweis zu stellen. Mona war sauber wie Eis. Wir bekämpften einander wie Hund und Katze.

Ich hatte etwas an mir, das ihr nicht gefiel, das sie abstieß. Vermutlich ahnte sie etwas von den Frauen im Kleiderschrank. Hin und wieder gab ich ihr einen scherzhaften Klaps auf den Hintern, das machte sie wahnsinnig wütend. Einmal griff sie zum Fleischermesser und jagte mich damit durch die Wohnung. Danach sprach sie zwei Wochen kein Wort mehr mit mir und sagte unserer Mutter, sie würde nie wieder mit mir reden und auch nicht mehr am selben Tisch wie ich essen. Schließlich kam sie darüber hinweg, aber ich habe nie vergessen, wie besinnungslos wütend sie damals war. Sie hätte mich abgeschlachtet, wenn sie mich erwischt hätte.

Einmal, als ich noch ein Kind war, hatte ich eine Klapperschlange beobachtet, wie sie gegen drei Scottish Terrier kämpfte. Sie hatte sich auf einem Felsen gesonnt, als die Hunde sie erwischten und in Stücke rissen. Die Schlange hatte keine Chance, aber sie kämpfte tapfer und kontrolliert, bis jeder der drei Hunde ein tropfendes Stück ihres Schlangenkörpers davongetragen hatte. Nur der Schwanz und drei Rasseln blieben zurück, und der Schwanz zuckte immer noch. Ich fand die Schlange auch in diesem traurigen Zustand noch wunderbar. Ich ging zu dem Felsen hinüber, der ein bisschen blutverschmiert war, steckte einen Finger in das Blut und kostete davon. Dann weinte ich um die Klapperschlange, ich würde sie mein Leben lang nie vergessen. Aber wäre sie noch lebendig gewesen, hätte ich mich nicht in ihre Nähe getraut. Ganz ähnlich wie mit dieser Schlange ging es mir mit meiner Schwester und meinem Vater.

Meine Schwester war hübsch und herrisch. Sie hätte eine großartige Ehefrau abgegeben, wenn sie nur nicht so kühl und fromm gewesen wäre. Wenn ein Mann bei uns vorbeikam und sich mit ihr verabreden wollte, ließ sie ihn immer abblitzen. Sie stand dann in der Tür und ließ ihn nicht mal in die Wohnung kommen. Mona wollte Nonne werden, das war das Problem. Bisher hielt unsere Mutter sie davon ab, aber am Tag ihrer Volljährigkeit wollte sie Ernst machen. Der einzige Mann, den sie lieben konnte, war der Menschensohn, und der einzig mögliche Bräutigam Jesus Christus. Meiner Meinung nach klang das alles nach Nonnenkram, ohne Hilfe von außen wäre Mona nicht auf solche Ideen gekommen.

Ihre Grundschuljahre hatte sie bei den Nonnen in San Pedro verbracht, und später war sie, weil mein Vater kein Geld für eine katholische High School hatte, auf die Wilmington High gekommen. Aber gleich nach dem Abschluss war sie zu den Nonnen nach San Pedro zurückgekehrt, und seither verbrachte sie all ihre Tage dort. Sie korrigierte Klassenarbeiten und unterrichtete im Kindergarten, und abends trieb sie sich in der Kirche am Hafen von Wilmington herum und dekorierte den Altar mit Blumen aller Art. Das hatte sie auch heute Abend gemacht.

Sie kam im Morgenmantel aus dem Schlafzimmer.

»Wie geht es Jehova heute denn so?«, fragte ich. »Was hält er von der Quantentheorie?«

Sie ging in die Küche, um sich mit Mutter über die Kirche zu unterhalten. Sie diskutierten die Frage, ob fürs Dekorieren des Altars rote oder weiße Blumen besser geeignet seien.

»Jahve«, sagte ich. »Wenn dir Jahve das nächste Mal über den Weg läuft, richte ihm bitte aus, dass ich ein paar Fragen an ihn hätte.«

Sie redeten weiter.

»O Herr und heiliger Jahve, sieh diese frömmelnde und scheinheilige Mona zu deinen Füßen, diese idiotische, sabbernde Persiflage ernsthaften Tiefsinns. Ach Gott, wie heilig sie ist, barmherziger Gott, wie heilig!«

»Hör auf, Arturo«, sagte Mamma. »Deine Schwester ist müde.«

»O heiliger Geist. O aufgeblasene Dreifaltigkeit, errette uns von der Weltwirtschaftskrise. Wähle Roosevelt. Erhalte uns den Goldstandard. Schmeiß Frankreich raus, aber lass uns drin!«

»Arturo, lass gut sein.«