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Yavi Hameister
BIS
ES
WEH
TUT
Wie mich meine Sucht
nach Aufmerksamkeit
fast zerstörte
frontmatter
Für Fragen und Anregungen:
info@mvg-verlag.de
Originalausgabe, 2. Auflage 2018
© 2018 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Desirée Šimeg
Umschlaggestaltung: Manuela Amode
Umschlagabbildung: Niki Romczyk Photographie
Satz: Carsten Klein
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-86882-851-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-089-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-090-9
Für meine drei Jungs.
INHALT
Ungeschönt
VERLETZT
Kapitel 1: Das hässliche Bild
Kapitel 2: Mein süßes Tauschgeschäft
Kapitel 3: Die neue Frau im Haus
Kapitel 4: Die ganz große Show
Kapitel 5: Die roten Linien
Kapitel 6: Ich will mehr
Kapitel 7: Die Mädels-WG
Kapitel 8: Falsche Liebe, falsche Leiden
Kapitel 9: Unter die Haut
FAKE
Kapitel 10: Mein komplettes Make-over
Kapitel 11: Der Anfang vom Ende
Kapitel 12: Der ständige Kampf mit dem Hunger
Kapitel 13: Frei oder gefesselt?
Kapitel 14: Der Fitnesswahn
Kapitel 15: Meine kranke Selbstlüge
Kapitel 16: Der Tod, mein Freund und Feind
Kapitel 17: Das chinesische (Schauer-)Märchen
Kapitel 18: Die Bruchlandung
Kapitel 19: Der körperliche Zusammenbruch
Kapitel 20: Dunkle Gedanken
KAPUTT
Kapitel 21: Papa wird sterben
Kapitel 22: Mein Wettlauf gegen das Leid
Kapitel 23: Paul
Kapitel 24: Turbulente Zeiten
Kapitel 25: Ein letztes Geschenk
Kapitel 26: Ein Ende und ein Neuanfang
Kapitel 27: Um jeden Preis
Kapitel 28: Die fast perfekte Braut
SCHMERZFREI
Kapitel 29: Kaputte Körper kriegen keine Kinder
Kapitel 30: Meine eigene Familie
Kapitel 31: Mein Leben – für alle öffentlich
Kapitel 32: Nie vorbei, nie zu spät
Kapitel 33: Unvollendet
Kapitel 34: Meine Tipps für mehr Selbstliebe
Kapitel 35: Meine Sport- und Ernährungstipps
Kapitel 36: Kein hässliches Bild
Danksagung
UNGESCHÖNT
Sommer 2007. Ein früher Morgen in Düsseldorf. Ich laufe in den Park, die gleiche Strecke wie jeden Tag seit vielen, vielen Wochen. Der Schmerz kribbelt in meinem Schienbein, noch bevor ich den ersten Kilometer geschafft habe. Ich kenne dieses brennende, fast unerträgliche Gefühl zu gut; es ist immer da, wenn ich laufe. Doch ich darf nicht abbrechen, darf dem Schmerz nicht nachgeben. Noch nicht. Ich muss mindestens 600 Kalorien verbrennen, bevor ich nach Hause gehe. Also läuft der Schmerz mit. Jeden Tag.
Dieser Schmerz, ausgelöst durch eine chronische Knochenhautentzündung im Schienbein durch eine zu starke sportliche Belastung ohne ausgleichende Regeneration, ist nur eine, fast triviale körperliche Facette meines psychischen Leidens. Er steht sinnbildlich für meinen Seelenschmerz, für die Leere, die ich nicht greifen, erklären oder gar medikamentös behandeln konnte, und stattdessen mit trügerischen Glücklichmachern zu stopfen versuchte. Für den einen ist es Sex, für den anderen Alkohol oder Computerspiele oder Gewalt oder Geld. In meinem Fall: Zwanghaftes Essen, strafendes Hungern oder eben Sport, der ähnliche Wirkung haben kann wie Schokolade, eine Droge oder ein gutes Schmerzmittel.
Schmerz, seelischer wie körperlicher Art, war mein ständiger Begleiter – ein Begleiter auf der stetigen Flucht vor der Ablehnung, vor Kritik, vor Einsamkeit und vor meiner wahren Identität, und gleichzeitig bei der panischen Suche nach Liebe und Anerkennung.
Schmerzen prägten also meine Lebensgeschichte – und davon möchte ich euch in diesem Buch erzählen. Erst nach vielen Jahren des Leidens und Irrens erkannte ich: Ich selbst bin der Entzündungsherd. Ich allein. Mein Denken, mein Handeln: Schau nicht auf die anderen, schau in den Spiegel. Ich sah dort meinen Körper, den ich für seine scheinbaren Makel bestrafen musste. Meinen Körper, den ich häufig absichtlich verletzte, nur um auf diese Weise auf mich aufmerksam zu machen; den ich mit drakonischen Diäten und extremen Trainingseinheiten malträtierte, nur um Lob und Anerkennung für meine Figur und für das, was ich durch meine Disziplin darstellte, einzuheimsen. Mein eigener Körper, der mir am nächsten sein sollte, war von meiner Seele so weit weg wie die Realität von der inszenierten Perfektion in den sozialen Medien. Er schrie mehrfach laut um Hilfe – doch ich hörte nichts, weil ich die Musik beim exzessiven Sport immer voll aufdrehte. Weil ich mich selbst nicht sah, nicht hörte, nicht fühlte. Meine verzerrte Selbstwahrnehmung ließ mich lange nicht erkennen, was ich mir selbst damit über Jahre antat. Bis mein Körper mir einen unmissverständlichen Weckruf sandte und ich mein Leben daraufhin umkrempelte.
Doch was war zuvor passiert?
Im Grunde wollte ich immer nur gesehen und beachtet werden. Als liebenswerter Mensch, als eigenständige Person. Meinem Umfeld zeigte ich deshalb beinahe mein ganzes Leben lang nur die geschönte Version meiner selbst: die scheinbar makellose, immer gut gelaunte Yavi. Wie es in mir aussah, wusste niemand. Nämlich dass ich mein wahres Ich für unwürdig, ungeliebt und unbedeutend hielt und daher versuchte, es krampfhaft zu optimieren oder gar grundlegend zu verändern – damit es »passte«, den hohen Ansprüchen anderer genügte. Ich wollte immer große Geschichten erzählen, Großes erleben und noch Größeres darstellen. Für den ganz großen Applaus. Koste es, was es wolle: Geld, meine Gesundheit oder ein paar Lügen, die so schnell erzählt waren. Der Schmerz war dabei mitunter ein willkommenes Mittel zum Zweck, das immer verfügbar war, mich ständig begleitete – auf dem beschwerlichen Weg ins Erwachsenenleben. Auf diesem Weg habe ich mich selbst verloren, und ich musste viele unbequeme Wahrheiten über mich und andere akzeptieren lernen, bevor ich mein wahres Ich wiederentdecken konnte. Ich musste lernen, mich zu lieben, um wahrhaft von anderen Menschen geliebt zu werden. Doch dafür musste ich auch weit in meine Vergangenheit zurückreisen und dort nach den Traumata suchen, die mich so krank gemacht hatten. Ich musste sie bewältigen, um endlich wirklich glücklich werden zu können – und auch um anderen Menschen nicht mehr wehzutun.
Durch mein Verhalten habe ich einige Menschen in meinem Leben tief enttäuscht und manche sicherlich dadurch verloren. Doch auch ich bin tief verletzt worden und vieles, was ich tat, geschah aus Selbstschutz, Blockaden, Unverständnis oder Unreife. Manchmal ist das im Nachhinein schwer zu sagen. Dennoch soll es in diesem Buch nicht um Schuld oder Unschuld gehen. Nein, vielmehr will ich euch von meinem bisherigen Lebensweg erzählen, von meinen Gedanken und Gefühlen, die mich zu dem trieben, was ich tat. Ich möchte euch tiefere Einblicke gewähren in mein verkorkstes Seelenleben, die zahlreichen Etappen meines psychischen und physischen Leidens, aber vor allen Dingen auch in meine allmähliche Genesung – in der Hoffnung, denjenigen zu helfen, die Ähnliches fühlen, und auch in der Hoffnung, mir selbst zu helfen.
Meine Reise zu mehr Selbstliebe ist sicherlich noch nicht vorüber, aber das halte ich für menschlich. Ich weiß, dass jeder von uns Höhen und Tiefen erlebt. Manche meiner seelischen und körperlichen Narben werde ich vermutlich ein Leben lang tragen, doch ich kann heute damit besser umgehen und viele meiner früheren Denk- und Verhaltensmuster durchbrechen. Dadurch sehe ich meiner Zukunft heute positiver entgegen als je zuvor, auch weil mir viele wundervolle Dinge passiert sind, die ich mir nie hätte erträumen lassen. Träume sind wahr geworden. Trotz allem, was passiert ist und was ich getan habe.
Mir war von Anfang an klar: Würde ich dieses Buch schreiben, müsste ich die nackte Wahrheit sagen, auch wenn das ganz schön wehtun würde. Denn die Wahrheit ist: Ich war eine Lügnerin, die den Selbstbetrug so gut beherrschte wie Klimmzüge und Kalorienzählen. Es ist ganz einfach, sein Leben so zu malen, dass es die idealen Farben und Formen annimmt. Es ist aber verdammt schwer, die Fehler in den Bildern wieder zu korrigieren, wenn die Farbe erst einmal getrocknet ist. Dies ist mein Versuch, die verkrustete Farbe abzukratzen, sodass das Original wieder zum Vorschein kommen kann.
TEIL 1
VERLETZT

KAPITEL 1

DAS HÄSSLICHE BILD

An der Wand im Flur hängt dieses hässliche Bild. Darauf ist eine große Halle im Barockstil zu sehen, in ihr herrscht totales Chaos. Unzählige Gestalten tummeln sich neben-, auf- und untereinander, mit Fratzen, Glatzen, teils behaarten Körpern, nackten, unförmigen Brüsten, dicken Bäuchen. Halb Menschen, halb Monster. Totenköpfe, Schweinsköpfe. Sie feiern. Sie fressen. Sie saufen. Sie tanzen. Sie morden. Sie schreien. Sie lachen. Die Szenerie ist absolut grotesk und furchteinflößend und voller Schmerz. Man kann einfach nicht wegschauen, wie bei einem grausamen Unfall. Hässlich ist hierfür ein Euphemismus.
Dieses Bild hing in jeder Wohnung, in der wir gelebt haben, und es waren ziemlich viele in meiner Kindheit und Jugend. Als ich noch ganz klein war, machte mir dieses Bild Angst, später fand ich es einfach nur widerlich, sodass ich es nicht mehr anschauen konnte und mich unendlich dafür schämte. Ganz besonders wenn jemand zu Besuch kam und sicher dachte, meine Familie sei komplett bescheuert. Damals dachte ich: »Normale Menschen besitzen solche Bilder nicht.«
Mein Leben lang hatte ich die grauenvolle Szenerie bis ins kleinste Detail bildhaft vor Augen – und in gewisser Weise versinnbildlicht sie meine Familie. Versteht mich nicht falsch. Es ist nicht so, dass meine Familie ein Haufen hässlicher Zentauren ist, die ihre Manieren und Gliedmaßen nicht im Griff haben und ihre Zeit mit anderen hässlichen Gestalten beim Fressen und Saufen verplempern. Doch sie provozierten, sie fielen auf, waren irgendwie anders als die Eltern und Verwandten anderer Kinder. Sie verursachten Chaos und machten immer eine große Show. Sie tranken, oftmals auch gerne weit über den Durst; sie spürten Schmerz, sie verursachten Schmerz.
Wenn in diesem Buch von Familie die Rede ist, meine ich Mama, Papa und meine kleine Schwester Lilia. Auch die neue Ehefrau meines Vaters, unser einstiges Kindermädchen Anna, zählt dazu, doch zu ihr später mehr. Dank ihr habe ich später noch zwei weitere (Halb-)Geschwister bekommen, die für meine Geschichte jedoch keine so wesentliche Rolle spielen wie diese drei beziehungsweise vier Hauptpersonen.
Meine Eltern waren komplett verschieden, in einem aber gleich: Beide waren abgedrehte, intellektuelle, querdenkende, polnische Immigranten, mal erfolgreich, mal am Boden, klug und philosophisch, ungreifbar, unantastbar, narzisstisch und egoistisch. Selbst Opfer extrem ehrgeiziger und arbeitswütiger Eltern aus dem polnischen Sozialismus, die mit Kritik nur so um sich warfen und ihnen das Gefühl vermittelten, ungewünscht oder nicht gut genug zu sein. Was das aus meinen Eltern gemacht hatte, bekamen meine Schwester und ich zu spüren, weil sie dieses Erbe auf uns übertrugen: Mama wollte uns verändern, Papa in allem verbessern.
Beide waren selten zu Hause und beschäftigten sich mit Dingen, die nichts mit uns zu tun hatten, hauptsächlich mit ihrer Arbeit. Papa war der Businesstyp und arbeitete mindestens zwölf Stunden täglich selbstständig als Zahntechniker und nach Feierabend als Börsianer. Mama war eher die Alternative und als Dramaturgin am Theater, als Buchautorin und als irgendwer für irgendwas mit Kunst tätig.
Unsere Eltern haben jung geheiratet, sie waren beide gerade einmal Anfang zwanzig. Ich glaube, sie waren zu wild, zu naiv, vielleicht auch ein wenig zu romantisch und liebesbedürftig, um ihr Bündnis rational zu betrachten und eventuell zu hinterfragen. Papa wollte ursprünglich eine herdaffine Hausfrau und hingebungsvolle Mutter. Mama wollte Kultur und Unabhängigkeit und ganz bestimmt keinen Mann, der sich zu Kommerz und Kapitalismus bekannte. Dabei fand er Kunst eigentlich auch ganz gut, er hatte in jungen Jahren sogar selbst gemalt. Er mochte sie nur nicht in dem gleichen Maß wie unsere kunstbesessene Mutter. Eine Mutter, die den Herd eigentlich nur für ihren ersten Kaffee aus der alten Cafetiere anschmiss, und zwar dann, wenn wir Kinder schon längst in der Schule oder an den Wochenenden mittags mit Freunden auf dem Spiel- oder Sportplatz waren. Das fand Papa nicht so gut, was er wohl erst nach ihrer ziemlich spontanen Hochzeit herausfand. Sie stritten also nicht nur, weil sie so unterschiedliche Interessen hatten und vielleicht aus Wut über die gescheiterte Partnerwahl, sondern vermutlich auch weil sie nun durch ihre Kinder ein Leben lang aneinandergebunden waren und versuchen mussten, ihren Nachwuchs zu einigermaßen gesunden Erwachsenen zu erziehen.
Die Ehe hielt nicht lange, genau genommen drei Jahre und zwei Kinder lang. Ein Jahr nach der Hochzeit kam erst ich zur Welt, ein weiteres Jahr später meine Schwester. Es verging nur noch ein weiteres und sie trennten sich. Sie folgten damit einer merkwürdigen »Tradition« in meiner Familie, in der Scheidungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Sie betonten später, sie hätten aus Liebe geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt, doch als sie sich trennten, war diese vermeintliche Liebe schlagartig tot und die Stimmung ungefähr so wie auf dem hässlichen Bild. Ich sehe meine kleine Schwester und mich noch mittendrin in diesem Chaos. Die Trennung hat uns verwirrt und geprägt. Besonders hart wurde es, als Papa aus- und ziemlich schnell ein anderer Mann bei uns einzog. Der Neue sah aus wie Jesus, war deutlich älter als meine Mutter und auch ein Kunstmensch.
Im Herbst 1991, da war ich fünf, bekam der neue Partner meiner Mutter einen Theaterjob über 600 Kilometer von unserem damaligen Zuhause entfernt, und meine Mutter beschloss, dass wir mitgehen würden. Wir zogen in einen großen Altbau mit Flügeltüren und bekamen tolle Spielsachen, doch unseren Papa nur am Wochenende zu sehen. Dass das überhaupt möglich war, hatten wir nur ihm zu verdanken. Jede Woche fuhr er mit seinem Volvo Kombi aus dem Rheinland zu uns nach Mecklenburg-Vorpommern, holte uns freitags im Kindergarten ab, manchmal sogar schon vor dem Mittagsschlaf. Wir liebten das, weil alle anderen Kinder dann in diesem dunklen, beängstigenden Zimmer schlafen mussten – und wir durften an Papas Hand weggehen und uns über zwei ganze Tage mit ihm freuen. Bis er sonntags wieder zurück nach Hause musste und uns vorher an unsere Mutter und ihren Freund übergab.
Der Ort der »Übergabe« war eine Tankstelle, klein und etwas verkommen, ein unvergesslicher Ort des Grauens, denn wir mussten gegen unseren Willen aus Papas Auto aussteigen und in Mamas Wagen einsteigen. Wir schrien und weinten und klopften gegen ihre Autoscheiben, durch die Papa kaum noch zu sehen war, weil zu viele Tränen flossen und die Scheiben beschlugen und weil Papa schnell wegfuhr, um den Abschiedsschmerz nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Einmal sah ich ihn auch weinen. Wir hassten diese Sonntage, wir hassten unsere Mutter, die uns von Papa weggeholt hatte, und wir hassten Papa, weil er es zugelassen hatte. Wir hassten es so lange, bis Mama und ihr Freund sich nach zwei Jahren trennten und sie mit uns wieder zurück zu Papa zog.
Er hatte für unsere Rückkehr ein neues Zuhause organisiert, in einer hübschen Siedlung in Mülheim an der Ruhr. Es war eine große Wohnung mit riesigem Garten, einem Kamin, einer Katze vom Vorbesitzer und einem ausgebauten Keller, den Mama dauerhaft beziehen durfte. Ich weiß nicht genau, ob mein Vater ihr damit unter die Arme greifen wollte oder auf eine Versöhnung mit ihr hoffte oder sich bloß zum Wohle von uns Kindern mit ihr unter einem Dach arrangierte – ich habe ihn nie ausdrücklich danach gefragt. Aber was ich weiß, ist, dass Papa und Mama von diesem Augenblick an eine ganz große Show von einem intakten Familienhaushalt performten.
Dieses Haus, das für meine Schwester und mich zunächst ein Haus der Hoffnung auf eine endgültige Wiedervereinigung unserer Eltern war, wurde zum Haus der Lüge. Es schien, als ob niemand wissen dürfte, dass meine Eltern getrennt und zerstritten waren. Oft traten sie gemeinsam auf, saßen mit Besuch gemeinsam lachend am Tisch, und erst später, wenn alle weg waren, gifteten sie sich an und trennten sich räumlich innerhalb des Hauses. Meine Mutter ging dann mit einer Flasche Wein in ihren Wohnkeller und mein Vater setzte sich mit einer Flasche Bier an seinen Computer oder legte sich mit einem Buch auf die Couch, wo er meist nach nur wenigen Seiten einschlief.
Lilia und ich bewegten uns zwischen unseren zurückgezogenen Eltern und den leeren Räumen und es gab eigentlich keinen, in dem wir mal alle zusammen waren. Gegessen wurde immer getrennt und der Küchentisch diente meist als Ablage für Briefe oder Gläser. Häufig gingen wir den kalten Hausflur hinunter und klopften an die schwere Kellertür, um Mama zu besuchen. Manchmal sagte sie gleich an der Tür »Jetzt nicht« und wir gingen enttäuscht wieder hoch, manchmal ließ sie uns hinein. Ihr Raum war dunkel, da es nur ein schmales Fenster gab und die düsteren Bilder und Teppiche dem wenigen Tageslicht die letzte Projektionsfläche nahmen. Überall lagen Bücher, standen Weinflaschen, halb gefüllte Gläser. Zigarettenrauch lag in der Luft.
Doch Mamas kurze, dunklen Locken waren immer hübsch frisiert, ihr Gesicht akkurat geschminkt. Sie sah aus wie eine vornehme Dame, wenn sie an ihrer Zigarette zog oder an einem Glas nippte. Wir beobachteten sie, wie sie gedankenversunken an ihrem Schreibtisch saß und wir währenddessen mit unseren Puppen auf ihrem Bett spielten oder ihr von der Schule erzählten oder sie baten, uns die Haare zu flechten. Sie hörte uns zu, frisierte uns die Haare – doch viel zu schnell sagte sie meist »So, Schluss« und widmete sich wieder ihrer Arbeit, ihrem Make-up oder dem Wein.
Das alles war total normal und zu diesem Zeitpunkt auch irgendwie okay, solange sie mich nicht küsste. Dann hielt ich die Luft an. Ich mochte nicht, wie sie roch, wenn sie getrunken hatte. Und ich mochte auch nicht das Gefühl der panischen Angst, als ich ab einem gewissen Alter wusste, dass Alkohol und Zigaretten tödlich sein können. »Mama, bitte trink nicht mehr und rauch nicht mehr, ich will dich nicht verlieren! Ich liebe dich!« schrieb ich ihr in kleinen Briefen, die ich unter der Kellertür durchschob. Doch sie ignorierte meine Bitten nicht nur, sie fütterte meine Angst nur noch mehr, indem sie eines Tages zu meiner Schwester und mir sagte: »Sollte ich mich jemals umbringen wollen – und das ist durchaus eine Option für mich –, dann rufe ich euch vorher an, damit ihr davon nicht überrascht werdet. Und dann kommt ihr mit einer Flasche Whiskey vorbei und wir nehmen ordentlich Abschied.« Ich konnte nach dieser Warnung jahrelang nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich nicht wusste, wo meine Mama war.
Papa trank auch, doch während man Mamas Alkoholkonsum nur an ihrem Atem merkte, veränderte sich das Verhalten unseres Vaters merklich. Er war schnell genervt, von allem und jedem und meist von uns Kindern. Manchmal wurde er sogar aggressiv, aber nicht brutal und niemals handgreiflich. Was dennoch häufig wehtat, war seine Stimme, denn er wurde oft laut, und was er sagte, war meist böse und verletzend. Manchmal war seine Stimme aber auch ganz sanft, obgleich auch etwas lallend und schwer verständlich, überwiegend wenn Papa sich mit seiner Flasche nachdenklich zu uns setzte und etwas vom Sinn des Lebens und von »Richtig und Falsch« faselte. Wir versuchten diese Situationen zu meiden; wenn wir Papa mit einer Bierflasche sahen, gingen wir in unsere Zimmer.
Leider waren die Wände in dem Haus zu dünn, als dass sie uns vor den lautstarken Streitereien unserer Eltern hätten schützen können – viel zu häufig wurden unsere Ohren Zeugen schlimmer Auseinandersetzungen zwischen den beiden, die vermutlich dachten, wir Kinder würden nichts mitbekommen. Falsch gedacht. Wände haben Ohren und die Kinder dahinter sehr sensible Fühler.
Unweit von unserem »Haus der Lüge« war das »Haus der heilen Welt« – unsere Schule. Genau genommen eine Waldorfschule. Unsere friedliche Zuflucht, die nach Wachsmalstiften, Schafswolle und Linseneintopf roch und niemals nach Ablehnung, Hass oder Alkohol. Am Tag der Einschulung im Sommer 1993 trug ich als einziges Mädchen eine etwas zu große, helle Jeanshose, mein hellblondes Haar war auf Ohrläppchenlänge geschnitten und ich trug keine pinke Haarspange und auch keinen schicken Rucksack mit bunten Blumen und Märchenfiguren, sondern einen ziemlich geschlechtsneutralen Tornister aus Leder. Ich glaube sogar, dass nicht nur meine Eltern es so gewollt hatten, sondern auch ich, weil ich charakterlich sowieso mehr männlich als weiblich war. Doch als ich die anderen Mädchen sah, wie mädchenhaft sie alle waren, wollte ich so sein wie sie. Und ich wollte ihre Familien gleich mit, die ganz »normalen«, die keine hässlichen Bilder in ihren hübsch eingerichteten Häusern hängen hatten und die immer gemeinsam zu Abend aßen.
So sehr ich mich in den nächsten Jahren auch bemühte, ich konnte kaum verbergen, dass ich so war, wie ich war – einfach anders: viel kleiner, aber lauter als die anderen Kinder und immer auf der Suche nach Freunden, die ich lieber in ihren Häusern besuchte, als sie mit zu uns zu nehmen. Ich konnte auch nicht ändern, dass meine Eltern so waren, wie sie waren. Nämlich nur selten zu Hause, und wenn sie daheim waren, dann waren sie nicht nur schlecht gelaunt oder zerstritten, sondern auch noch blind und taub. Sie sahen nicht, wie wir unter ihren Kämpfen litten, und hörten nicht, wie wir weinten, weil wir uns ein anderes Leben wünschten.
Erst viel später wurde mir bewusst, dass unsere Eltern uns zu Zwecken ihrer Machtkämpfe, aber auch zur Aufwertung ihrer eigenen narzisstischen Identität instrumentalisierten. So hörten wir von unserer Mutter ständig, wie böse und vernichtend unser Vater doch sei und dass wir uns seine kapitalistischen Werte bloß nicht zum Vorbild nehmen sollten. Papa lästerte im Gegenzug über Mamas humanistische Ideale, ihren freien Lebensstil sowie die Theaterszene und tat alles, um uns von ihr fernzuhalten. Mama konterte wiederum mit einem imaginären Mittelfinger: Sie nahm uns erst recht zu Theaterproben oder irgendwelchen Abendveranstaltungen mit und betonte immer wieder, wie sehr wir das genossen und brauchten.
Was wir aber tatsächlich genossen und brauchten, waren nicht die verqualmten Räume voller merkwürdiger Menschen, nicht die Theaterstücke, die wir ohnehin nicht verstanden, und auch nicht, dass wir so spät ins Bett gehen und sogar kurz vor Mitternacht noch Pizza essen durften, sondern lediglich die seltene Nähe unserer Mutter. Wie sie uns immer stolz und lächelnd und mit ihrer Hand auf unserem Kopf fremden Menschen vorstellte, mit den Worten: »Das sind meine Töchter.« Doch eigentlich waren wir nichts weiter als die Statisten ihres Lebens, in dem sie ihre eigene Rolle nicht beherrschte.
Dabei konnte Mama so unglaublich warmherzig, empathisch und liebevoll sein. Mit uns ans Meer fahren, uns spontan Eis oder Hörspielkassetten kaufen, Lieder vorsingen, auf den Kopf küssen, ihn streicheln, bis wir einschliefen. Es gibt Fotos von uns, lachend und Arm in Arm. Einmal baute sie sogar über Nacht ein großes Lego-Haus, um uns zu überraschen. Das sind einige der wenigen schönen Erinnerungen, die mir heute sagen: Sie hat es versucht. Sich bemüht, eine »richtige Mama« zu sein. Doch was ich heute auch weiß: Sie ist eine Narzisstin, eine aufmerksamkeitsbedürftige und nach Bewunderung lechzende Frau mit eigenen Traumata – und so sehr sie es vielleicht auch wollte, war sie niemals in der Lage, uns Kinder zu priorisieren, einfach nur Mama zu sein und dafür ihre Arbeit, in der sie so engagiert aufging, die Kunst, ihre Freunde, die Männer, ihren Wein, den Kampf mit dem Exmann, ja ihre eigenen Bedürfnisse und Probleme komplett beiseitezulegen. Weshalb sie für mich nie zu dieser »richtigen Mama« wurde. Weshalb ich sie so vermisste.
Ich vermisste sie sogar, wenn sie da war. Wenn wir auf Spielplätzen tobten, saß sie meist abseits auf einer Bank, rauchte Zigaretten und trug eine große Sonnenbrille. Hinter ihren Gläsern waren die Augen geschlossen und der Sonne zugewandt. Sie schien ganz bestimmt jedes Mal, wenn wir draußen waren, denn wenn nicht, wäre unsere Mutter mit uns nicht hinausgegangen. Denn Mama mochte keine Wolken. Auch erinnere ich mich nicht, sie jemals auf einem Klettergerüst gesehen zu haben, dafür war ihre Kleidung meist zu schick oder zumindest zu unbequem.
Ich sehe sie in meiner Erinnerung als dominante, stolze, starke Frau, die uns schon früh an Kunst und Intellektualismus herangeführt hat, uns ständig bat, Bücher zu lesen, zu malen, zu tanzen. Sie schaute uns verzückt zu, wenn wir als Flamenco-Tänzerinnen verkleidet durch die Wohnung flitzten, sie lachte und klatschte dabei, auch wenn wir eigene Fernsehsendungen erfanden, die wir hinter einem leeren Bilderrahmen vorführten. Wir liebten es, von ihr bewundert und für unsere Leistungen gelobt zu werden. Doch was wir gar nicht mochten, war, wie sie Kommerz, Materialismus, ja einfach das »Normale« rigoros ablehnte. Sie war nicht wirklich streng, im Gegenteil, sie erlaubte sehr vieles und war großzügig. Doch wir durften zum Beispiel niemals fernsehen, niemals Kinderfilme ansehen. Plastikspielzeuge waren verpönt, und wenn Oma mit uns ins Spielwarengeschäft fuhr, gab es Ärger. Gleiches galt fürs Essen: Alles, was lecker war, war Dreck. Wir verzweifelten, wollten so gern die Dinge, die andere Kinder hatten und durften, doch Mama wollte nicht, dass wir wie andere Kinder waren. Sie behandelte uns wie kleine Erwachsene, die so werden sollten wie sie. Was letztlich dazu führte, dass wir die Dinge, die wir nicht durften, noch mehr wollten. Und noch weniger das, was sie wollte – nämlich dieses »Anderssein«.
Papa war ganz anders als sie, eher der moderne Typ. Und ziemlich cool, viel cooler als der durchschnittliche Familienvater. Er trug immer nur Jeans, am liebsten im Used-Look. Und Chucks oder Boots, die er nie auszog, weil Schuhe ihm ein paar Zentimeter Körpergröße dazumogelten und dadurch mehr Selbstbewusstsein. Papa war sehr klein, nur wenig größer als ich heute, und erinnerte mit seiner Glatze und seinem markanten Gesicht ein bisschen an Dean Morris alias Hank Schrader von Breaking Bad – vom Charakter her übrigens ähnlich hart und streng, aber gleichzeitig fürsorglich und gutherzig. Papa hätte uns niemals erlaubt, wegen eines Schnupfens zu Hause zu bleiben, dennoch lief er ständig mit uns zum Arzt, um diverse Krankheiten auszuschließen. Er erlaubte uns nicht, bei Anbruch der Dunkelheit auf der Straße zu spielen, weil das zu gefährlich sei; im Sommerurlaub aber sprang er selbst von hohen Felsklippen, um uns zu imponieren, und rief: »Den Mutigen gehört die Welt!«
Papa verbot auch, nur einen einzigen Tag nicht Klavier, Cello, Querflöte oder Geige zu üben, schließlich zahle er dafür und außerdem fördere Musikunterricht unsere kognitive Entwicklung. »Auch den Besten gehört die Welt!«, sagte er. Er kontrollierte, ob wir die Stücke Tag für Tag besser konnten, und schimpfte, wenn wir sie nicht beherrschten, und warf uns an den Kopf, wir seien faul oder unfähig. Er kontrollierte auch, ob wir unsere Hausaufgaben gemacht hatten und ob wir gut genug in der Schule waren. Er ging zu Elternabenden, tauschte sich mit anderen Eltern aus.
Er achtete zudem darauf, dass wir gesund aßen (jeden Morgen gab es sein köstliches selbstgemachtes Bircher Müsli!) und nicht zu viel, damit wir nicht zunahmen. »Nudeln machen fett!«, hörten wir ständig, bis es sich in unsere Hirne eingebrannt hatte. Nichtsdestotrotz kaufte er uns aber auch mal ein Überraschungsei, wenn wir lieb waren und ihm danach war. Lilia und ich verstanden schnell, dass wir für gute Leistungen und vorbildliches Verhalten mit Süßem belohnt wurden – oder mit Materiellem: Einmal kaufte er mir ein ganz neues H&M-Outfit für ein Kelly-Family-Konzert, zu dem er sogar mitging.
Doch wenn Papa Nein sagte – und das tat er sehr oft –, gab es keine Diskussion. Nein zum Tigerenten-Club am Samstagmorgen, Nein zu einem spontanen Besuch bei einer Freundin in der Nachbarschaft, Nein zu einem Kino-Date mit einem netten Jungen. Manchmal gab es auch ein grundloses Nein, einfach nur so. Und wehe, wir versuchten ihn umzustimmen, dann wurde der Widerstand mit einem harschen Ton und bösem Blick im Keim erstickt. Wir kuschten immer – es hatte keinen Sinn, sich gegen ihn aufzulehnen.
Was Lilia und mir schnell klar wurde: Wenn Papa Nein sagte, sagte Mama Ja und umgekehrt. Sie waren grundsätzlich gegensätzlicher Meinung, allein schon, um dem anderen keinen Gefallen zu tun. Wir mussten also nur den richtigen Ansprechpartner für unser jeweiliges Anliegen finden. Gleichzeitig bemühten wir uns um ihre Aufmerksamkeit, damit sie unsere Wünsche und Bedürfnisse endlich wahrnahmen, damit sie gerne mit uns zusammen waren, damit sie uns mochten, gut genug fanden. Vermutlich ist sie nichts Ungewöhnliches für Kinder, diese Sehnsucht nach Bestätigung durch die eigenen Eltern. Vermutlich auch nicht, dass wir alles dafür gegeben hätten. Ungewöhnlich war vielleicht nur, dass wir es niemals schafften, genug Zeit, genug Aufmerksamkeit, genug Akzeptanz und genug Nähe von beiden zu bekommen. Denn all das gab es nur stückchenweise und nur dann, wenn der jeweilige Elternteil es zuließ. Also blieben wir Schwestern meist unter uns, in unserem Zimmer, in dem wir eine Weile sein konnten, wie wir wirklich waren.
Wie waren wir? In erster Linie lustige, lebensfrohe Kinder, die ihre Eltern trotz allem abgöttisch liebten und verehrten. In zweiter Linie ein verdammt gutes Team, das zusammenhielt, wenn alles um uns herum bebte und zerbrach. Natürlich stritten wir auch mal, wie alle Geschwister. Besonders ätzend fand ich, dass meine kleine Schwester mich in allem nachahmte: in meiner Musik- und Jungswahl, meinem Haarschnitt, meinen Interessen – und ich wies sie regelmäßig darauf hin, es zu lassen. Doch das waren nur Kleinigkeiten. Wichtig war: Sie war da, wenn es sonst niemand war, und auch ich achtete darauf, dass sie nie zu lange weinte. Denn Lilia weinte viel, sie nahm sich alles furchtbar zu Herzen und arbeitete es nur schwer auf. Besonders die viele Kritik: Sie sei zu pummelig, kleide sich wie ein Bauer, sei nicht talentiert, nicht fleißig genug, und all das im direkten Vergleich mit mir, die in den ersten zehn Lebensjahren oft als die »Bessere«, »Schönere«, »Klügere« dargestellt wurde. Die »der Sonnenschein« war und immer »so witzig!«, zu Hause wie in der Schule. Es zerrte an ihr, schürte Neid und Eifersucht, obwohl ich immer wieder beteuerte, sie sei ebenfalls witzig und außerdem wunderschön.
Am liebsten entflohen wir gemeinsam der elterlichen Kritik, dem Vergleich und den Pflichten. Wir zogen dann durch unsere Siedlung – sie, die Brünette, ich, die Blonde – und erzählten einander Geschichten aus der Schule, überlegten uns lustige Spitznamen füreinander, sangen unsere Lieblingssongs, sprachen über Jungs, kratzten grünes Kratzeis. Wir lästerten über unsere dauerwütenden Eltern und wünschten uns ein Meerschweinchen, das wir lieben und pflegen konnten. Wir bekamen natürlich keins. Wenn wir Ärger mit Mama und Papa hatten, wegen diesem oder jenem, kletterten wir zum Ausgleich auf Bäume in unserem Garten, fuhren auf Inline-Skatern rasend schnell die hügelige Straße hinunter, schnitten uns selbst die Haare – und viele Jahre später teilten wir Zigaretten auf der Bank am Fußballplatz.
Lilia wirkte neben mir immer schwächer, schüchterner und zurückhaltender, doch in Wahrheit war sie immer die Mutigere und Stärkere von uns beiden. Sie war diejenige, die zwischen Mama und Papa trat, wenn sie sich anbrüllten und beleidigten. Ich hingegen hielt mir in der Ecke unseres Kinderzimmers die Ohren zu. Lilia war diejenige, die mich beschützte, wenn Mama und Papa mit mir schimpften. Sie weinte laut, ich leise.
Doch irgendwann, vielleicht mit fünfzehn oder sechzehn Jahren, kam der Moment, als wir die Rollen tauschten und Lilia leise wurde. Sie suchte Harmonie, ich die Konfrontation. Sie sagte: »Ach komm, ist doch egal!«, doch ich blieb dabei, dass wir etwas tun oder sagen mussten. Und Lilia hörte auf, mit mir zu reden. Manchmal weiß ich selbst heute nicht, was in ihr vorgeht. Dennoch verbindet uns bis heute ein tiefes Vertrauen, das wir in der Form zu niemandem in unserer Familie aufbauen konnten. Wir wissen beide, dass wir einander bedingungslos lieben und akzeptieren, uns niemals miteinander vergleichen. Wir wissen, dass wir die andere perfekt finden, auch wenn unsere Eltern diese Perfektion vielleicht nie gesehen haben. Das hat uns zusammengeschweißt und bildet heute eine unerschütterliche Basis: unsere Definition von »Familienglück«.
Wirklich glücklich war unsere Familie in den acht Jahren dieser abstrusen Wohnkonstellation eigentlich nie. Ein guter Tag war ein leiser Tag, an dem niemand seine Stimme erhob, und er wurde noch besser, wenn Mama und Papa zu Hause und nicht betrunken waren. Lob, eine Umarmung und Zeit waren die besten Geschenke, die uns unsere Eltern machen konnten, und wir gaben alles, um möglichst oft beschenkt zu werden. Seien es gute Noten, die Beherrschung neuer Musikstücke, Bilder, die wir malten, oder Gedichte, die wir für sie schrieben. Alles, was wir taten, taten wir für sie. Und so begann ich irgendwann, für sie zu leiden. Vielleicht würde es dafür auch Geschenke geben.

KAPITEL 2

MEIN SÜSSES TAUSCHGESCHÄFT

Frühsommer 1991. Ich bin fünf Jahre alt und eine wilde Hilde. In mir steckt mehr Junge als Mädchen, mehr Räuber als Prinzessin, mehr Mut als Angst. An diesem Tag klettere ich in einem unbeobachteten Moment übermütig auf die Fensterbank in der Wohnung meines Papas, turne, albere herum – und rutsche plötzlich ab. Ich stürze auf meinen metallenen Puppenwagen, der unter dem Fenster steht, und bleibe am Boden liegen. Meine kleine Schwester schreit vor Schreck, ich vor Schmerz. Es brennt zwischen meinen Beinen, nicht wie Brennnesseln auf nackter Haut, auch nicht wie eine Schnittwunde durch Papier, eher wie das Abziehen eines großen Pflasters. Doch der Schmerz will nicht aufhören, auch nicht, wenn ich meine Beine fest zusammenpresse und meine Hand kräftig auf die schmerzende Stelle drücke. Er hört auch nicht auf, als Papa ins Zimmer gerannt kommt, mich hochreißt und an sich drückt. Wir schauen hinunter zum grauen Teppichboden, auf den umgefallenen Puppenwagen und das viele Blut.
Er trägt mich ins Auto und rast ins Krankenhaus. Dort werde ich untersucht und verarztet – und mein Papa ist die ganze Zeit über bei mir. Schön ist es. Trotz des Schmerzes, der einfach nicht aufhören will.
Interessanterweise sind es vor allem die guten Gefühle, an die ich mich erinnere, wenn ich an diesen Tag in der Notfallambulanz zurückdenke. Ich mochte die vielen Menschen in den weißen und blauen Kitteln, die mich aufmunternd anlächelten, liebevoll tätschelten und mir behutsam einen Verband anlegten, den ich irgendwie cool fand. Ich stand im Mittelpunkt. Meine zufällige Verletzung an diesem Tag hatte dazu geführt, dass plötzlich die volle Aufmerksamkeit auf mich gelenkt war – und ich mich endlich einmal wieder uneingeschränkt wahrgenommen fühlte.
Vor allem von Papa, den wir seit der Trennung unserer Eltern seltener sahen. Doch jetzt, in der Ambulanz, hielt er mich die ganze Zeit über im Arm. Und er blieb an diesem und auch an den folgenden Tagen, die ich zusammen mit meiner Schwester in seiner Wohnung verbrachte, bei mir. Ich sehe meine Mama nicht in dieser Sequenz meiner Erinnerung; vielleicht war sie beschäftigt oder vielleicht war sie da, nur unsichtbar, vielleicht unbedeutend. Bedeutend für mich war, dass ich in diesen Tagen uneingeschränkt mit Papa zusammen sein und Schokokekse naschen durfte. Papa spielte mit mir und ich bekam keinen Ärger, ich durfte sogar fernsehen, so viel und was ich wollte. Aber das Allerbeste war: Papa ging nicht fort. Meine Verletzung war mit einem Mal gar nicht mehr so schlimm, der Schmerz erträglich.
Zu diesem Zeitpunkt lebten meine Eltern bereits seit zwei Jahren getrennt und in unterschiedlichen Wohnungen in derselben Stadt. Manchmal waren wir bei Papa, manchmal bei Mama, eine feste Regelung gab es nicht. Es hieß dann: »Ihr geht jetzt zu Papa«, und wir packten unsere kleinen Rucksäcke. Irgendwann würde Mama plötzlich in Papas Tür stehen und wir wieder gehen müssen.
Wenn keiner der beiden Zeit hatte, waren wir bei unserer Oma, die ganz in der Nähe ihre Zahnarztpraxis führte. Wir saßen dann in ihrer schicken Wohnung, aßen Grillhähnchen und Ferrero Rocher und schauten stundenlang Sissi oder Traumhochzeit. Unsere Großmutter war wunderschön; sie föhnte jeden Morgen ihr platinblond gefärbtes Haar, zog sich einen akkuraten Lidstrich und hatte einen begehbaren Kleiderschrank voller teurer Markenkleidung. Ich liebte und verehrte sie sehr, obwohl meine Eltern sie als »psychisch krank« bezeichneten – wegen ihres Hangs, Probleme und Krankheiten zu erfinden, unter ihnen furchtbar theatralisch zu leiden und dabei besonders gern besonders dramatisch zu sein. Mein Opa hatte sie resigniert verlassen, als Papa acht Jahre alt war. Oma hat unserem Papa die Schuld an ihrem Alleinsein gegeben und ihn ihren eigenen Schmerz psychisch und physisch spüren lassen. Ihre Einsamkeit überspielte sie mit Arbeit, Affären und Süßigkeiten, die sie zuhauf in ihrem Küchenschrank aufbewahrte. Und da Naschereien bei uns zu Hause verboten waren, saß ich oft ewig vor diesem Schrank und stopfte Bonbons und Schokolade in mich hinein, als wollte ich das Verbotene auf Vorrat bunkern – oder auch meine Einsamkeit in Zucker ersticken. Schon damals, mit fünf Jahren, wie auch noch zwanzig Jahre später.
Ob meine Schwester und ich mit unseren vier beziehungsweise fünf Jahren unter der frischen Trennungssituation bewusst litten, ob wir uns Routinen und Normalität wünschten, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, was uns fehlte: die ungeteilte Aufmerksamkeit beider Elternteile, eine fröhliche Zeit zu viert, die nicht am Abend an der Eingangstür mit einem ungewissen »Bis bald« endete. Wir konnten es nicht ändern, was blieb uns also anderes übrig, als uns an diese vielen »Bis balds« zu gewöhnen?
Der Schmerz – so lehrte mich mein Puppenwagen-Unfall – konnte mir dabei helfen, von meinen Eltern Aufmerksamkeit zu gewinnen. Mit seiner Hilfe konnte ich meine Eltern an mich binden, sodass sie gezwungen waren, bei mir zu bleiben. Also begann ich allmählich, den Schmerz zu suchen statt zu fürchten, und mich darüber zu freuen, wenn er mir von sich aus begegnete – ganz zufällig. Wie kurz nach meinem Puppenwagen-Unfall, als ich erneut ins Krankenhaus musste. Dieses Mal wegen einer schweren Lungenentzündung. Tatsächlich ist die Erinnerung an den Lungenschmerz nicht so präsent wie an den Schmerz nach dem Zusammenprall mit dem Puppenwagen, aber ich weiß noch genau, dass meine Eltern in dieser Zeit immer bei mir waren. In diesem weißen Krankenhauszimmer mit den vielen bunten Bildern. Mama saß, aß und schlief an meinem Bett, war liebe- und hingebungsvoll und ideenreich; sie schaffte es immer, mich abzulenken. Papa kam immer sofort nach der Arbeit in die Kinderklinik, setzte sich zu mir, hielt mich im Arm, erzählte lustige Geschichten und seine Stimme wurde nie laut. In meiner Erinnerung sehe ich keine Schläuche, keine Infusionen, sondern nur meine Eltern, die für mich da waren, die Lage ernst nahmen, sich um mich sorgten und kümmerten. Meine Eltern sagten, diese vielen Wochen, in denen ich im Krankenhaus lag, seien für sie eine schlimme Zeit gewesen, doch für mich war sie hauptsächlich schön. Eine Familienzeit, eine Kuschelzeit, eine Schmerz-ist-schön-Zeit. Und als sie vorbei war und ich das Krankenhaus verlassen musste, war ich traurig.
Es dauerte nicht lange, bis Papa mich wieder ins Krankenhaus fahren musste – fluchend und zitternd und mit viel zu hoher Geschwindigkeit. Mein Blut tropfte auf den Rücksitz, durch den dicken Verband, den er vor der Abfahrt noch schnell um meinen Kopf gewickelt hatte. Ein langer, dicker Nagel hatte sich in meinen Schädel gebohrt, als ich vom Fahrrad gefallen und unglücklicherweise gegen eine Wand geprallt war, aus der dieser Nagel herausragte. Papa hatte uns zuvor strikt verboten, in der Hofeinfahrt mit dem Fahrrad herumzukurven. Wir – also Lilia, unsere erste richtige Freundin Maya und ich – sollten auf dem Hof bleiben.
Ich bin absichtlich hineingefahren, weil es verboten und abenteuerlich war, aber ich bin nicht absichtlich gefallen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch ein Kunststück wäre, als wilde Fünfjährige beim Sturz ausgerechnet diesen Nagel zu treffen. Doch ich bin mir auch sicher: Ich habe absichtlich viel und besonders bitterlich geweint. Nach dem Sturz. Und ich litt noch theatralischer, als Papa auf den Hof gerannt kam, mich schnell in die Wohnung trug, hektisch einen provisorischen Mullverband anlegte und dann mit seinem Volvo losdüste. In die Notaufnahme, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann.
Meine Eltern hatte dieser Unfall sehr mitgenommen und so wurde mein Traum von ungeteilter Aufmerksamkeit endlich ein Stück weit Realität, und er blieb auch noch eine ganze Weile, nachdem das Loch in meinem Kopf zugenäht und das erste Haar über die Wunde gewachsen war, denn meine Eltern bemühten sich mehr um mein Wohl als je zuvor. Sogar mehr als um ihr eigenes oder das meiner Schwester, die jetzt immer warten musste, bis meine Bedürfnisse befriedigt waren. Das Beste war aber: Häufiger als je zuvor waren wir vier zusammen. Es gab gemeinsame Wochenenden und Ausflüge. Wir fuhren sogar mal zusammen nach Polen, um meine Großeltern zu besuchen und einige Tage Urlaub zu machen. Es gab stundenlange Spaziergänge in den Feldern und wir suchten Pilze im Wald, aßen gemeinsam Wurstbrote an einem Tisch und lasen Gute-Nacht-Geschichten.
Dieser Unfall – also mein Schmerz – hatte in meinen Augen so viel Gutes bewirkt: unsere Familie zusammengehalten und mich glücklich gemacht. Ich lernte auf diese Weise, Schmerzen einzusetzen, um zu bekommen, was ich brauchte und wollte, nämlich Liebe, Aufmerksamkeit und die Nähe meiner Eltern. Schmerz wurde mein Freund, der mich zwar verletzte, aber dem ich immer verzeihen konnte, weil er Gutes schuf. Mit jedem neuen Schmerz war das Gefühl des Schmerzes erträglicher, dann normaler, neutraler, bis er schließlich kaum spürbar war. Und ich ihn sogar genoss.
Ich genoss nicht nur meine Krankheiten oder meine Unfälle und die Verletzungen, die daraus hervorgingen. Auch das Gefühl einer Spritze, aus der ein kalter Impfstoff in meinen Körper geschossen wurde, war für mich gut, ebenso wie die Nadel, die bei einer Blutabnahme durch die dünne Hautoberfläche stach: Es pochte kurz in meiner Ader und ich konnte beobachten, wie das dunkelrote Blut in die kleinen Fläschchen floss. Mir gefiel es, wenn der Kinderarzt mir sagte, wie tapfer ich sei, als er die Nadel wieder aus meinem Körper zog ich und ich dabei lächelte. Dieses Lob, die stolzen Blicke meiner Eltern, die dann immer besonders nett und liebevoll zu mir waren, und dieses stechende, brennende, ziehende Gefühl in meiner Haut – ich mochte es, ich genoss es. Und am Schluss bekam ich noch ein Gummibärchen aus der Porzellandose.