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STAR TREK

DAS GEWICHT
DER WELTEN

GREG COX

Based on
Star Trek
created by Gene Roddenberry

Ins Deutsche übertragen von
Markus Müller

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Die deutsche Ausgabe von STAR TREK: DAS GEWICHT DER WELTEN wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Markus Müller; verantwortlicher Redakteur: Markus Rohde; Lektorat: Andrea Bottlinger; Korrektorat: André Piotrowski;

Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Martin Frei; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Morvia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.

Titel der Originalausgabe: STAR TREK: THE WEIGHT OF WORLDS

German translation copyright © 2018 by Amigo Grafik GbR.

Original English language edition copyright © 2013 by CBS Studios Inc. All rights reserved.

™ & © 2018 CBS Studios Inc. STAR TREK and related marks and logos are trademarks of CBS Studios Inc. All Rights Reserved.

This book is published by arrangement with Pocket Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., pursuant to an exclusive license from CBS Studios Inc.

Print ISBN 978-3-95981-521-5 (Februar 2018) · E-Book ISBN 978-3-95981-522-2 (Februar 2018)

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Für die Shore Leave, Norwescon, VikingCon, Lunacon, Philcon und all die anderen Orte, an denen Fans sich treffen und die seit über dreißig Jahren einen sicheren Hafen für mich darstellen.

Inhalt

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

DANKSAGUNG

PROLOG

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»Frau Präsidentin! Ich muss dringend mit Ihnen über die Einteilung der wissenschaftlichen Ressourcen sprechen. Das stellare Evolutionsprojekt besitzt quasi ein Monopol auf die Benutzung des Subraumteleskops. Ich benötige jedoch auch Zeit damit für meine eigenen Forschungen.«

Doktor Elena Collins hob die Hand und fegte das polternd vorgebrachte Begehren des Tellariten beiseite. »Bitte, Mav. Nicht so früh am Tag. Lassen Sie mich zumindest meinen Morgentee in Ruhe genießen.«

Die Präsidentin war eine gut aussehende Frau in ihren frühen Sechzigern mit langem, schneeweißem Haar. Sie war gerade erst zu dem Rundgang über den Campus aufgebrochen, den sie im Rahmen ihrer beruflichen Routinen gewohnheitsmäßig nach dem Frühstück absolvierte.

Der Planet steuerte an diesem kühlen und klaren Morgen auf die Tagundnachtgleiche im Frühling zu, und das blassviolette Sonnenlicht, das die Gebäude auf dem Gelände des Instituts umschmeichelte, rief wundervolle Lichteffekte auf ihnen hervor. Sie passierten Forschungseinrichtungen, Labore, Bibliotheken, Galerien, ein Observatorium, Hörsäle und eine bestens ausgerüstete Sporthalle, die sich graziös in den Himmel erhob. An vielen Orten schmückten Kunstwerke und Installationen das weitläufige Gelände. Sie repräsentierten zahlreiche Kulturen und Traditionen – manche im klassischen Stil, andere eher avantgardistisch. Während Elena Collins in Begleitung des hochgewachsenen Tellariten einen von Bäumen gesäumten Weg entlangschlenderte, der sich über den Campus schlängelte, probte in unmittelbarer Nähe eine Band auf der Wiese. Ihre Mitglieder musizierten auf einer interessanten Auswahl an Instrumenten, von einer vulkanischen Leier über einen Dudelsack bis hin zu einer Knochenflöte. Das Lied, das sie anstimmten, klang wie eine Mischung aus einer klingonischen Oper, argelianischem Bauchtanz, den Musicals der Denobulaner und altehrwürdigem Kentucky Bluegrass. Auf einem Podest hinter den Musikern interpretierte die Hologrammskulptur einer der Nachtigallfrauen von Trabolde die Melodie tänzerisch. In diesem Augenblick fühlte sich Collins hier wahrhaft heimisch.

Das Ephrata-Institut fungierte als hoch entwickelte Gedankenschmiede am äußeren Rand der Föderation und zog Gelehrte aus dem gesamten Quadranten an, die sich in seiner beschaulichen Abgeschiedenheit, ohne die Ablenkungen der Zivilisation, intensiv ihren Projekten widmeten. Nach einer ereignisreichen Karriere, die sie rastlos von einem Planeten zum nächsten getrieben hatte, hatte Elena Collins an diesem Platz Wurzeln geschlagen, seit sie die Leistung des Instituts übernommen hatte. Diese Entscheidung hatte sie niemals bereut, auch wenn ihr zerstreute Genies wie Mav manchmal gewaltig auf die Nerven fielen. Die Präsidentin nippte an ihrem Tee, dessen Aroma dem der Zitrone ähnelte. Sie hatte diese Mischung auf Tiburon aufgestöbert, als sie dort vor einigen Jahren ein Sabbatjahr eingelegt hatte.

Plötzlich holte Mavs Stimme sie in die Realität zurück. »Doktor, Sie müssen verstehen, dass ich das schlecht tolerieren kann.« Sein schweineartiges Gesicht glühte vor Wut. Er wedelte wild mit einer Datentafel vor ihrer Nase herum. »Professor Karbol belegt das Subraumteleskop fast das komplette nächste Semester, ohne Rücksicht auf alle Übrigen.« Aus seinem Rüssel kräuselten sich Dampfschwaden. »Wir haben es hier mit einem typischen Fall orionischer Piraterie zu tun, wenn Sie mich fragen. Brigantentum in seiner Reinform!«

»Professor Mav!«, ermahnte ihn Elena missbilligend. Sie setzte ihre strengste Miene auf, mit der sie ganze Generationen aufmüpfiger Erstsemester auf Linie gebracht hatte. Inzwischen hatte sie gelernt, dass diese genauso prächtig bei Dozenten funktionierte, die über die Stränge schlugen. »Sie wissen, dass wir uns in diesem Institut solch engstirniges Geplänkel verbitten! Es verletzt unsere Würde und ehrenvolle Tradition. Reißen Sie sich zusammen!«

Seit über vierzig Standardjahren war das Institut auf seine einzigartige, von großer Diversität geprägte personelle Zusammensetzung stolz. Es beheimatete die verschiedensten Humanoiden, sowie gelegentlich Nichthumanoiden, aus jedem einzelnen Sektor des gesamten Quadranten. Alleine an diesem Morgen hatte Elena bei ihrem Spaziergang Menschen, Andorianer, Tellariten, Deltaner und weitere empfindungsfähige Lebensformen dabei beobachtet, wie sie ihre Arbeit – mehr oder minder – harmonisch Hand in Hand verrichteten. Es schien, als habe Mav bei seiner Tirade ausgeblendet, dass Elenas Lebenspartnerin, eine angesehene Poetin, zu einem Viertel orionischer Herkunft war. Diese Tatsache erklärte den subtil wütenden Unterton in der Stimme der Präsidentin.

Zum Glück hat Yvette Mavs impertinente Äußerung nicht mitbekommen, dachte Elena. Sonst wäre ordentlich was los.

Zur Ehrenrettung musste man Mav jedoch zugestehen, dass er sich für sein Verhalten offenkundig schämte. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, nuschelte er barsch. »Ich habe mich wohl vergessen. Meine Forschung liegt mir so sehr am Herzen, dass ich leicht zornig werde, wenn ihr Fortgang blockiert wird.«

»Ich verstehe«, antwortete Elena in einem gemäßigten Tonfall, nun da sie ihre Sichtweise verdeutlicht hatte. »Betrachten wir die Sache als erledigt.« Sie streckte die Hand aus und nahm Mavs Datentafel mit einer anmutigen Bewegung entgegen. »Ich verspreche Ihnen, den Belegungsplan der Einrichtung durchzugehen, um sowohl die Bedürfnisse von Professor Karbol als auch die ihrigen zu berücksichtigen. Das Universum wird inzwischen nicht einfach untergehen, also sollte es möglich sein, Ihnen beiden ausreichend Zeit am Teleskop zur Verfügung zu stellen.«

»Mehr verlange ich gar nicht, Frau Präsidentin.«

Bis er das nächste Mal wieder hier auftaucht …, dachte sie und unterdrückte einen gequälten Seufzer. Sich um eine Herde temperamentvoller Akademiker, Wissenschaftler und Künstler zu kümmern, von denen sich jeder anmaßte, sein neustes Experiment sei mindestens so wichtig wie die Erfindung des Warpantriebs durch Zefram Cochrane, gestaltete sich oft schwieriger, als einen Sack Flöhe zu hüten. Trotz dieser Herausforderung sehnte sie sich nach keinem anderen Betätigungsfeld. Es mochte erschöpfend sein, dafür war sie zum Ausgleich in einer höchst anregenden Umgebung aktiv.

»Begleiten Sie mich ein Weilchen«, schlug Elena vor. »Ich würde gerne mehr über Ihre neusten Erkenntnisse bezüglich kosmischer Anomalien erfahren.«

Das Interesse hob seine Stimmung sofort. Er ging, wie alle Mitarbeiter des Ephrata-Instituts, seinen Forschungen mit immenser Leidenschaft nach. Das bildete die Basis der zahllosen akademischen Lorbeeren, die hier errungen wurden.

»Es ist mir eine Ehre, Frau Präsidentin. Es wird Sie freuen, dass ich eine revolutionäre Theorie über das Vorhandensein des Flüssigraums aufgestellt habe. Malen Sie sich nur aus, wir würden die Existenz dieses subdimensionalen Kontinuums beweisen, in dem kein Vakuum herrscht!«

Collins nickte. »Interessant. Erzählen Sie mir mehr.«

Sie setzten den gemeinsamen Weg über den Campus in Richtung Observatorium fort, vorbei an von purpurnem Efeu und Ranken überwucherten Gebäuden. Das Institut lag eingebettet in einem kleinen Tal zwischen den sanft ansteigenden Hängen zweier Hügel. Die meisten akademischen Stätten befanden sich in der Talsohle, während die Fakultäten und Unterbringungsmöglichkeiten für Gäste auf den bewaldeten Kuppen angesiedelt waren. Der lauschige Bungalow, den Elena zusammen mit Yvette bewohnte, stand zwischen Laubbäumen, deren Blätter, passend zur Jahreszeit, ihre Farben wechselten. Überall auf dem Campus segelte das Laub herab und wurde vom Wind umhergeweht oder bedeckte die Gehwege.

Als die Stundenglocke läutete, erinnerte sich Elena daran, dass sie nach dem Mittagessen einen Termin mit dem Leiter der geologischen Abteilung vereinbart hatte. Er wollte ihr eine Expedition zum Kern des Planeten nahebringen, dabei schwebte ihm ein Austauschprogramm mit den Horta von Janus VI vor.

»Obwohl der Flüssigraum bisher erst theoretisch nachgewiesen werden konnte, sind wir dicht davor, Beweise zu finden, die unser konzeptionelles Modell unterstützen, indem wir Messungen spezifischer Quantensingularitäten vornehmen, weshalb ich dringend mehr Zeit am Subraumteleskop benötige …«

Wie aus dem Nichts erschreckte ein lauter Donnerhall die beiden. Die Brise versteifte sich ohne Vorwarnung und blies Elena das Haar um die Ohren. Die Äste der Bäume knarzten bedenklich. Umherfliegende Blätter flatterten in ungeahnte Höhen. Der klare und lavendelfarbene Horizont verfinsterte sich in atemberaubender Geschwindigkeit und wurde von Strudeln burgunderroter Wolken überrollt, die sich wabernd über dem Campus zusammenzogen. Innerhalb der anschwellenden Schwaden blitzten Entladungen elektrischer Energie in einer gleichwohl spektakulären wie Furcht einflößenden Inszenierung auf.

»Was zum Teufel?«, flüsterte Collins.

Überall schrie oder fluchte jemand. Die aufkommenden Turbulenzen erwischten nicht nur Elena und Mav auf dem falschen Fuß. Sämtliche Augen, Fühler und sonstigen Organe zur Sinneswahrnehmung richteten sich auf die wallende atmosphärische Störung. Die pulsierenden Wolken verschluckten die Sonne und der Tag wurde zur Nacht. Die Band legte ihre Instrumente ins Gras, da es unmöglich wurde, gegen den sich zusammenbrauenden Sturm anzumusizieren.

Mav schnupperte mit bebenden Nüstern. »Der Wind …« Er stockte kurz. »Er riecht falsch.«

Die Präsidentin nahm es ebenfalls wahr. In der Luft lag ein Hauch von Ozon, wie er normalerweise im Rahmen einer Ionisation auftrat. Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut und ihre Nackenhärchen sträubten sich.

»Was ist das?«, fragte Mav. Er scharrte nervös mit dem Absatz und hinterließ dabei eine Rille im Boden. »Woher kommt es?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Collins, gleichzeitig erstaunt und besorgt. Diese Region von Ephrata IV war für ihr mildes und ausgeglichenes Klima bekannt. Sie hatte in all den Jahren, die sie auf diesem Planeten verbracht hatte, nie Vergleichbares erlebt. Die Wettervorhersage für den heutigen Tag hatte zudem keinen Sturm gemeldet. Im Gegensatz zu den bevölkerungsreichen Welten im Zentrum der Föderation verfügte Ephrata nicht über eine Klimakontrolle. Bis jetzt war eine solche stets überflüssig gewesen …

Hatten sie es hier mit einer ernsten Notfallsituation zu tun? Collins zog den Kommunikator aus der Halterung an ihrem Gürtel. »Collins hier«, krächzte sie mit rauer Stimme, bemüht darum, das Unwetter und das Geschrei ringsum zu übertönen. »Verbinden Sie mich mit den Umweltwissenschaften.«

Als Antwort erhielt sie lediglich Knacksen und statisches Rauschen.

»Hallo … ist da jemand?«

Nun krachte es rabiat aus dem Kommunikator. Mit einem Seufzer verstaute sie das Gerät wieder. Was immer dieser Sturm darstellte, es störte definitiv den Funkverkehr.

Na sagenhaft, dachte sie.

Vor Energie blutrot knisternde Plasmablitze schlugen auf dem Campus ein und zerstörten einen Zierbrunnen im Design der dritten elasianischen Dynastie. Sprudelndes, flüssiges Metall spritzte aus dem zertrümmerten Becken in alle Richtungen davon. Ein Blitzschlag sprengte eine Gebäudeecke aus der Doktor-Phlox-Bibliothek. Die Bruchstücke hagelten in hohem Bogen auf das Institutsareal nieder. Rauch und Flammen stiegen in die aufgewühlte Atmosphäre auf. Schreiende Männer und Frauen rannten auf der Suche nach Deckung durcheinander, während das Inferno die Umgebung verschlang.

»Nein«, flüsterte Collins fassungslos. »Das darf nicht wahr sein!«

Ein gezackter Blitz riss den Gehweg wenige Meter vor ihren Füßen auf und schleuderte ihr den Staub pulverisierter Bodenplatten ins Gesicht. Die energetische Entladung hinterließ helle Flecken auf ihrer Netzhaut und schrillte in ihren Ohren.

»Meine Arbeit!«, japste Mav. Seine Schweinsaugen wölbten sich aus den Höhlen, als eine Lichterscheinung die Räumlichkeiten der Kosmologie touchierte und in Brand steckte. »Ich muss meine Arbeit retten!« Er ließ die Präsidentin stehen und eilte zu dem lodernden Gebäude.

Collins fragte sich, wo man sie am dringendsten benötigte. Ihre Augen tränten noch von dem gleißenden Plasma. Obendrein klatschte ihr der Wind die halbe Frisur ins Gesicht, sodass sie fast blind war. Sie strich den Haarschopf wütend nach hinten. Der sich ausbreitende Rauch reizte Nase und Kehle, bis sie krächzend husten musste.

Ich muss etwas unternehmen, sinnierte sie. Nur was?

Soweit die Präsidentin es beurteilen konnte, konzentrierte sich der Sturm über dem Platz im Zentrum des Instituts. Dort türmte sich die Masse der tosenden Wolken und dort traten die meisten Einschläge auf. Wildes Gezeter und Brüllen schallte aus dieser Richtung zu ihr. Es rann ihr eiskalt die Wirbelsäule herab, als sie daran dachte, dass Yvette dort um diese Uhrzeit einen öffentlichen Poetry-Slam veranstaltete.

Yvette!

Sie sprintete über den Campus, vorbei an herzzerreißenden Szenen der Verheerung und des Chaos. Überforderte Sanitäter und Sicherheitsleute, die nie zuvor mit einem Notfall dieser Größenordnung konfrontiert gewesen waren, eilten den Verwundeten zu Hilfe. Automatische Löschanlagen kämpften gegen Brände an, indem sie Kraftfelder errichteten, die den Flammen den Sauerstoff entziehen sollten. Es war vergeblich, denn die Feuersbrunst wuchs viel zu rasch.

Elena rügte sich dafür, so selten an Alarmübungen teilgenommen zu haben. Doch machte dies einen Unterschied? War es überhaupt möglich, sich auf so etwas vernünftig vorzubereiten?

Es war ein einziger Albtraum.

Als sie am Perlenplatz eintraf, der diesen Namen aufgrund seiner weißen und perlmuttfarbenen Bodenfliesen trug, brach dort die Hölle los. Wissenschaftler und Dozenten strömten mit an die Brust gedrückten Datentafeln, Speichermedien, Gläsern voll biologischer Proben, unersetzlichen archäologischen Artefakten und sogar altmodischen Büchern aus Papier aus den bedrohten Bauten. Ein Blitz enthauptete die imposante Statue von Richard Daystrom, als sei er über das tragische Versagen des M5-Systems erzürnt. Das Plärren von Sirenen verstärkte die entsetzliche Kakofonie. Als ob irgendjemand nicht erkannt hätte, welche Katastrophe sich entfaltete.

Und dann drehte die Schwerkraft durch.

Das Gewicht ganzer Welten drückte Elena zu Boden. Es schien, als hätte sie schlagartig zweihundert Kilogramm zugenommen. Die Schwerkraft Ephratas, die üblicherweise bei 97 Prozent jener der Erde lag, kletterte auf jupiterartige Proportionen an, wenigstens dort, wo sie stand. Ihre Glieder wurden so schwer wie massives Duranium, die Füße klebten am Boden fest. Sie riss all ihre Kraft zusammen, um nicht auf die Fliesen zu fallen. Ihr Blut sackte im Körper nach unten. Sie fühlte sich benommen und fast wie beschwipst. Sogar das Atmen war mit großen Mühen verbunden. Ihr Gewicht schwoll bis zur Unerträglichkeit, doch so unerwartet, wie das Phänomen sie ereilt hatte, schwand die peinigende Schwerkraft wieder und es kam ihr vor, als sei sie leicht wie eine Feder. Der abrupte Wechsel stülpte ihr den Magen um. Gallenflüssigkeit sprudelte ihre Kehle hoch und sie presste die Zähne zusammen, um zu verhindern, dass sie sich übergab.

Was ist das?, wunderte sich Collins. Die Wissenschaftlerin in ihr versuchte krampfhaft, einen Sinn in dem zu erkennen, was ihnen widerfuhr. Handelte es sich um ein außergewöhnliches Naturereignis oder um eine Panne mit künstlicher Gravitation? Hatte es einen Unfall in einem Physiklabor gegeben? Ihrer Erinnerung nach führte niemand Experimente durch, die ein solches Desaster verursachen konnten. Eventuell hatte jemand leichtfertig die Sicherheitsprotokolle vernachlässigt. Sollte dies der Fall sein, würden Köpfe rollen, solange kein Wurmloch oder eine Singularität das gesamte Institut vorher auffraß.

Die Naturgesetze von Masse und Anziehungskraft wurden ständig umgeschrieben. Zufällige Fluktuationen der Schwerkraft stürzten Passanten ins Verderben und verwüsteten die Architektur. Die Galerie der Photonischen Künste brach unter ihrem eigenen Gewicht zusammen und versank tief in der Erde. Ein flüchtender Historiker verlor die Bodenhaftung und schrie angstvoll, während er wie ein Heliumballon entschwebte und in dem tobenden Plasmasturm verschwand. Es stand zu befürchten, dass ihn die Blitze rösteten, falls ihn die Böen zu spät aus der Gefahrenzone wehten.

Die Effekte der negativen Gravitation ergriffen zahlreiche Freunde und Kollegen Elenas und entrissen sie zusammen mit Schutt und Trümmern der Planetenoberfläche. In schwindelerregenden Höhen kehrte dann unvermittelt ihr altes Gewicht zurück. Dagmar Polasky, eine mehrfach ausgezeichnete Genetikerin und Bühnenautorin, erhob sich bis über die oberste Etage des Trang-Saals hinaus, bevor sie wie ein Meteorit zurück auf den Platz sauste. Ihre sterblichen Überreste blieben gnädigerweise im Verborgenen, da sie in einem rauchenden Krater aufschlug.

Diese Tragödie führte der Präsidentin die Gefahr vor Augen, in der all jene schwebten, die sie liebte.

Sie flüsterte: »Yvette?«

Elena machte sich inmitten des Tumults auf die Suche nach ihrer Lebensgefährtin. Zunächst fand sie Yvette nirgends und für einige bange Momente fürchtete Elena, sie sei davongeflogen. Flüchtende Kollegen rempelten die Präsidentin an und blockierten die Sicht auf den Platz. Sie bahnte sich einen Weg durch den Mob zu der einst so friedlichen Ecke, im Schatten einer abstrakten Skulptur, in der Yvette die Poetry-Slams veranstaltete.

Elena hustete und rief mit kehliger Stimme: »Yvette! Yvette!«

Als sie bereits die Zuversicht verlor, entdeckte sie ihre geliebte Dichterin, bäuchlings auf dem Grund liegend, festgenagelt von einer Überdosis Schwerkraft. Die zerschundenen Bruchstücke der kinetischen Skulptur aus fließenden geometrischen Formen, die sich automatisch wieder zu unterschiedlichen Konfigurationen zusammenfügten, häuften sich direkt neben ihr. Es wirkte, als sei Yvette den herabregnenden Bauteilen nur haarscharf entgangen. Ein lebloser Tentakel, der aus den Ruinen ragte, kündete davon, dass andere weniger Glück gehabt hatten.

»Elena?« Nur mit Not gelang es Yvette, den Kopf von den Fliesen zu heben. Ihre Stimme war rau, ihre Zunge litt unter der Schwere. Einer ihrer Arme schien gebrochen. Dankenswerterweise hatte sie überlebt.

Mit einem Seufzer der Erleichterung machte sich Elena auf den Weg zu Yvette. Ein dringlich klingender Ruf stoppte sie. »Doktor Collins! Hierher!«

Als sie sich umdrehte, stolperte Officer Hevlas, der Chef der Campus-Sicherheit, auf sie zu. Ruß verschmierte die Backen das Andorianers und überdeckte seine blassblauen Züge. Seine Fühler wedelten aufgrund von Überlastung in heller Aufregung. Aus einer Wunde an der Stirn sickerte türkisfarbenes Blut, die stets adrett und tadellos sitzende Uniform hing in Fetzen.

Er wirkte so schockiert, wie Elena sich fühlte. Hevlas leitete seit mindestens einem Jahrzehnt den Sicherheitsdienst, und in all dieser Zeit hatte er sich nie um Schlimmeres gekümmert als außer Rand und Band geratene Partys. Oder um kleinere Handgreiflichkeiten zwischen rivalisierenden Akademikern. Einmal hatte er bei einem Streit zwischen den Vertretern der Ideologie der Bewahrer und Anhängern von Hodgkins Gesetz der parallelen planetaren Entwicklung einen Zahn eingebüßt. Nun sah er sich einem wahren Gemetzel gegenüber und sein gesamtes Team zählte weniger als ein Dutzend Personen.

Uns fehlen die Mittel, um mit diesem Debakel fertigzuwerden, dachte Collins.

Er rief: »Frau Präsidentin!«

Collins zögerte, hin- und hergerissen zwischen ihren Pflichten gegenüber dem Institut und dem Drang, Yvette beizustehen. Ihr Blick flackerte von Hevlas zu der Literatin und wieder zurück. Schließlich fragte sie den Sicherheitsmann: »Was geht hier vor? Wie kann ich helfen?«

»Sehen Sie!« Er deutete mit Fingern und Fühlern auf das Zentrum des Platzes. »Dort geschieht etwas.«

Ein ovaler, spiegelnder Teich von beträchtlicher Größe diente in der Mitte des Perlenplatzes als dessen Kern. Ein sich sanft wiegendes, aquamarinblaues Gewässer im Herzen des Instituts, eine Oase der Ruhe. An sonnigen Tagen nahm Elena häufig ihr Mittagessen an seinem Ufer zu sich. Wenn der Wind günstig stand, trieb die Brown’sche Bewegung der Wellen das Wasser gegen die in das Becken eingelassenen osmotischen Kristalle und brachte den Teich regelrecht zum Singen.

Nun kreischte er!

Die Blitze liefen auf der Wasseroberfläche zusammen, als würden sie elektromagnetisch oder gravitationsbedingt angezogen. Die konzentrierten Einschläge verschmolzen den heulenden Grund des Teichs zu einer schweigenden Fläche aus schwarzem Glas, umgeben von einem Ring aus abkühlender Schlacke. Das Wasser verdampfte restlos.

Was bisher geschehen war, sollte erst der Anfang sein.

»Spüren Sie es?«, fragte Hevlas. Seine Stimme zitterte wie nie zuvor. »Es liegt in der Luft.«

»Ja«, flüsterte sie.

Jeder spürte es. Seltsame, undefinierbare Sinneswahrnehmungen kitzelten die Nerven. Die Vibration der Luft versetzte Zähne und Knochen in Schwingung. Die abgeklungene Gänsehaut kehrte unerbittlich zurück. Der Präsidentin wurde wieder übel.

Was nun?, fragte sie sich.

Die Realität faltete sich über dem dampfenden, schwarzen Spiegel. Zunächst glaubte Collins, dass ihre Augen ihr einen Streich spielten, dann vermutete sie eine optische Täuschung durch Lichteffekte. Aber nein! Tatsächlich flimmerte etwas gut einen Meter über den ausgehärteten Fragmenten des Teichs. Erst klein, kaum größer als ein Nadelstich, wuchs es schnell an und riss ein Loch in das Gewebe des Universums. Ein Stroboskop unheimlicher Farben leuchtete aus der Kluft und schmerzte in den Augen. Der diamantförmige Riss pulsierte wie ein schlagendes Herz – dehnte sich aus und zog sich zusammen. Mit jedem Pulsschlag steigerte sich sein Umfang. Das harte, gelbe Licht einer anderen Dimension flutete aus ihm heraus.

»Was ist das?« Hevlas keuchte. Seine Hand wanderte zum Phaser im Holster an seiner Hüfte. »Woher stammt es?«

»Leider habe ich keine Antwort«, sagte Elena. Selbst als studierte Physikerin stand sie vor einem Rätsel. Worum handelte es sich? Ein winziges Wurmloch? Eine Quantenverzerrung? Einen Lazarus-Korridor? Trotz der Gefahr und der bedauerlichen Todesfälle übte die Erscheinung eine starke Faszination auf sie aus. Aber sie fürchtete sich genauso vor potenziellen Auswirkungen. In der Vergangenheit hatte sie bei passenden Anlässen locker und flockig Theorien über die Unendlichkeit des Universums proklamiert. Nun, konfrontiert mit dieser Lücke im Raum-Zeit-Kontinuum, würde sie nicht mehr darauf wetten.

Wenn ich so was das nächste Mal behaupte, sollte ich besser auf Holz klopfen, dachte sie.

Ein schwacher Trost: Während sich der Riss stabilisierte, schienen die Gravitationswechsel und Plasmaentladungen zurückzugehen. Der Himmel blieb zwar bewölkt und die konstant turbulente Atmosphäre stank weiterhin nach Qualm und Ozon, doch das zerstörerische Unwetter verebbte. Stille senkte sich auf den Platz, lediglich unterbrochen vom leisen Knistern der Flammen sowie dem Ächzen und Stöhnen der Verwundeten. Collins betete, dass das Gröbste vorbei sein möge.

Wenn sie nur wüssten, was ihnen als Nächstes bevorstand.

»Elena?« Von der überbordenden Schwerkraft befreit, taumelte Yvette auf sie zu, den verletzten Arm an die Brust gedrückt. Ruß und Schrammen verunstalteten ihre hübschen Wangen, trotzdem freute sich Elena über das Wiedersehen. Als sie sich Halt suchend gegeneinanderlehnten, schlang die Präsidentin den Arm um die zierliche Taille der Dichterin. Yvettes grünes Gesicht war weiß angelaufen und sie zitterte.

»Sri Winchu«, murmelte sie. »Er hat mich rechtzeitig weggestoßen … Er selbst … hat es nicht mehr geschafft …«

Elena dachte an den leblosen Tentakel, den sie unter der zusammengefallenen Skulptur gesehen hatte. »Ich weiß.« Sie erschauderte, als sie anfing zu grübeln, wie viele Opfer sie wohl zu verzeichnen hatten.

Es blieb keine Zeit, zu klagen oder die Toten zu bedauern, solange die widernatürliche Kluft in Diamantform im Herzen des Instituts pulsierte. Die Expansion stockte, dafür sank der Riss ab und bohrte sich zur Hälfte in den gläsernen See darunter, bis sie ein dreieckiges Portal formte, das der Größe einer gängigen Doppeltür entsprach. Kontinuierlich wirbelten psychedelische Farben aus der Anomalie. Es war, als starrten sie auf das Haupt der Medusa.

»Vorsicht!«, mahnte Hevlas. »Etwas dringt durch!«

Er hatte recht. Vor den schillernden Farben zeichneten sich verschwommen Gestalten ab. Zunächst klein und entfernt, sodass man meinen könnte, sie seien Kilometer entfernt. Aber die Kluft verzerrte Raum und Zeit, und nur Sekunden später schälte sich ein Trupp dunkel gekleideter Humanoider aus dem Portal. Unter lautem Knirschen setzten sie Fuß auf die glasige, reflektierende Oberfläche des ehemaligen Teichs.

Die Fremden maßen in der Größe rund zwei Meter und trugen Stiefel zu einer schwarzen Tunika. Ihre schuppige Haut besaß einen relativ einheitlichen Silberton. Die segmentierten Gliedmaßen erinnerten vage an Krustentiere. Den glänzenden schwarzen Augen fehlte eine erkennbare Iris, das Riechorgan glich einem komprimierten Krummschnabel. Eine Mähne halbtransparenter, goldener Tentakel umrahmte ihr maskulines Gesicht anstelle von Haar oder Pelz. Als sie losmarschierten, öffneten die Fremden ihren Mund und fingen an zu singen. Eine steife Brise trug den rauchigen Geruch der Fremden zu Elena, Yvette und dem Sicherheitschef. Er glich dem von schwelendem Papier. Diagonal über der Brust verlaufende Schärpen in unterschiedlichen Grüntönen, von Lind bis Jade, zeigten wahrscheinlich den Rang des einzelnen Individuums an. Möglicherweise konnte Collins auf diese Weise erkennen, wer von ihnen das Kommando hatte.

Die Fremdweltler schickten einen kleinen Trupp voraus, der das Gebiet rund um das Portal absicherte. Am Gürtel um ihre Hüfte baumelte eine Art Stab aus lupenreinem Obsidian, knapp dreißig Zentimeter lang. Andere Waffen gab es nicht. Elena wertete das als gutes Zeichen.

»Wer sind die?«, hauchte Yvette.

Elena hatte keine Ahnung. Sie war viel gereist und hatte lange studiert, dabei war ihr diese Spezies nie untergekommen. Wahrscheinlich stammte sie aus einem anderen Universum.

»Ziehen Sie sich zurück«, riet Hevlas den beiden Frauen. Er zog den Phaser und nahm eine Verteidigungsposition zwischen den Eindringlingen und der Fakultät ein. Eine Handvoll lädierter Sicherheitsleute hastete herbei und fächerte hinter ihm aus. Elena fürchtete, dass der Rest seiner Truppe verwundet war oder das Leben verloren hatte. Hoffentlich bekämpften sie bloß die Feuer auf dem Campus. »Lassen Sie uns das regeln, Frau Präsidentin.«

Collins vertrat diesbezüglich eine andere Meinung. Bevor sie widersprechen konnte, schlüpfte ein letzter Fremdweltler durch den Riss. Sein gemessener Gang und die befehlsgewohnte Haltung identifizierten ihn als Anführer der Expedition. Er war größer und älter als der Rest. Seine Tentakel-Mähne spross besonders voll und imposant. Streifen in verschieden Grünnuancen schmückten seine Schärpe, sein hüftlanges schwarzes Cape war an den Säumen tiefgrün abgesetzt. In einer der vierfingrigen Hände hielt er eine schwarze Lanze von beinahe einem Meter Länge, die im Gegensatz zu den schmucklosen Obsidianstäben seiner Leute mit Ornamenten verziert war. Türkisfarbene Ringe markierten verschiedene Sektionen der Waffe, die scharfe Klinge an ihrem Ende hatte die Form eines Regentropfens. Alles an ihm strahlte Härte aus. In seinen schimmernden, schwarzen Augen loderte Missfallen auf. Er unterband den Gesang seiner Schar mit einem Wink, dann klopfte er mit dem Griff der Lanze auf den spiegelnden Untergrund.

»Frohlockt!« Er sprach Föderationsstandard mit einem seltsamen Akzent. Seine Stimme tönte tief und hallend. »Ich bin Sokis, der Kriegerpriester dieses Kreuzzugs. Wir bringen euch Erleuchtung, Wahrheit und Harmonie, bevor es zu spät ist.«

»Erleuchtung?«, knurrte Hevlas, voller Wut über den Tod und die Zerstörung, die mit der Ankunft der Fremden einhergegangen war, und brachte den Phaser in Anschlag. »Ich werde euch Erleuchtung geben!«

»Halten Sie sich zurück, Officer«, befahl Collins und legte eine Hand auf seinen Arm. Der Phaser war entsprechend der Institutsvorschriften auf Betäubung gestellt, sie wollte jedoch nicht, dass erst geschossen und dann gefragt wurde. »Heben Sie sich das für später auf … falls notwendig.«

Der Arm des Andorianers bebte unter ihrem Griff. Er beließ den Finger am Auslöser. »Aber …«

Elena hatte größtes Verständnis für seine Furcht und seinen Ärger. Es schnürte ihr selbst das Herz zusammen, wenn sie an die Toten und Verwundeten dachte oder an die Verheerung, die über das Institut hereingebrochen war, aber es lag ein Erstkontakt vor und sie mussten entsprechend handeln. So schrecklich die Ereignisse des Tages gewesen sein mochten, die Tragödie würde sich nur zuspitzen, falls diese Begegnung mit Besuchern aus einer anderen Dimension gewaltsam eskalierte.

»Wir wissen nicht hundertprozentig, ob ein Angriff vorliegt. Die Turbulenzen könnten ein ungewollter Nebeneffekt der Öffnung des Risses oder des Transitvorgangs sein.«

»Vielleicht haben sie das alles billigend in Kauf genommen.«

»Das werden wir nicht herausfinden, wenn wir nicht danach fragen.« Sie verstärkte den Druck auf seinen Arm. »Bewahren Sie Ruhe, Officer.«

Zögernd senkte er die Waffe und signalisierte seinen Leuten, seinem Vorbild zu folgen. »Mir gefällt das gar nicht«, murmelte er.

»Für die Akten zur Kenntnis genommen, doch wir probieren es zuerst mit Reden.«

Als sich die Präsidentin beklommen auf den Weg nach vorne machen wollte, legte ihr Yvette die Hand ihres unverletzten Arms auf die Schulter. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«

»Nicht im Mindesten«, bekannte Elena. Doch welche Wahl blieb ihr? Wozu sonst hatte sie vorhin Mav über die Wichtigkeit eines friedfertigen Umgangs miteinander und zwischen verschiedenen Kulturen belehrt? Der Ereignisse zum Trotz bot sich die Chance, mit einem bislang unentdeckten, fremden Volk, das anscheinend aus einer vollständig neuen Realitätsebene stammte, einen fruchtbaren Austausch an Wissen zu initiieren. Furcht und Vorurteile durften dies nicht verhindern. »Steht Ephrata nicht für das Miteinander verschiedener Welten?«

Yvette nickte und zog die Hand zurück. »Sei besser vorsichtig.«

»Falls es schiefgeht, schreibe bitte einen schönen Nachruf auf mich.« Elena schritt mit trockenem Mund auf die Fremden zu. Sie streckte ihre offenen Hände nach vorne, in der Hoffnung, dass ihre Gegenüber diese universelle Friedensgeste akzeptierten. Sie schluckte schwer und wünschte, sie hätte etwas Stärkeres als Tee getrunken. »Willkommen auf Ephrata! Im Namen unserer Bevölkerung begrüße ich …«

»Schweig!«, bellte Sokis. »Wir haben keinen Bedarf an Lügen! Wir sind hier, um diesen Planeten zu erretten. Unterlasse es, unsere Ohren mit Häresie zu vergiften!«

»Ich verstehe nicht«, sagte die Präsidentin in der Hoffnung, dennoch einen Dialog zu etablieren. Sie rieb ihre verschwitzen Hände an den Oberschenkeln trocken. »Uns wovor zu retten?«

»Dem Ende aller Dinge. Fürchtet euch nicht, denn wir bringen die Wahrheit in dieses gebrochene Reich.« Er hob die Lanze. Im milchigen Schaft der Waffe flackerte es und jadegrüne Strahlung quoll daraus hervor. Ihre Spitze rotierte vertikal zum Schaft. Ein tiefes Wimmern, dem Gesang der Fremden ähnlich, erscholl aus der Obsidianklinge, die nun düstere, grüne Schatten auf den Platz warf.

»Tezha«, fluchte Hevlas. »Mir reicht’s!« Er feuerte auf Sokis. Der grüne Strahl schoss auf den Kriegerpriester zu, doch er verfehlte das Ziel. Eine unsichtbare Kraft lenkte ihn nach unten ab, und er entlud sich harmlos auf den Fliesen, ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Die Kinnlade des Andorianers klappte nach unten, er schnappte entgeistert nach Luft. »Sohn einer Aenar!«

Künstliche Schwerkraft, so moduliert, dass sie als Schutzschild fungiert. Wieso funktioniert das außerhalb der Theorie überhaupt?, sinnierte Collins.

»Stellt den Widerstand ein und beugt euch der Macht der Wahrheit!«, befahl Sokis und richtete die Lanze auf die Einheimischen. Zur Waffe gewandelte Schwerkraft schwappte in Wellen über den Campus und streckte die Überlebenden nieder. Unter dem Gewicht mehrerer Hundert Kilo ging Elena zu Boden. Das Gesicht auf den Fliesen konnte sie keinen Finger rühren, geschweige denn gegen die Invasion protestieren.

Der Kreuzzug hatte Ephrata erreicht!

EINS

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Logbuch des Captains, Sternzeit 6012,9.

Hinter uns liegt eine erfolgreiche Woche mit der Kartografierung des Wyvern-Systems, einer Region ohne intelligentes Leben, die dafür, wie sich mein Erster Offizier auszudrücken pflegte, reich an faszinierenden Planeten, Monden, Asteroiden und Strahlungsfeldern ist. Jetzt, da keine besonderen Aufgaben anstehen, freut sich die Mannschaft auf ihre wohlverdiente Freizeit …

»Mister Spock«, fragte Lieutenant Uhura, »haben Sie eine Minute für mich?«

Der vulkanische Wissenschaftsoffizier schaute von seinen Instrumenten auf. »Bei unserer gegenwärtigen Reisegeschwindigkeit kommen wir frühestens in 72,03 Stunden bei Sternenbasis 16 an. Sie können über meine Aufmerksamkeit so lange wie nötig verfügen. Wie kann ich helfen?«

Auf der Brücke herrschte relative Ruhe. Die U.S.S. Enterprise flog mit Warp 2 durch die Leere zwischen den Sternen, und das Wyvern-System geriet allmählich aus der Reichweite der Sensoren am Heck des Schiffs. Captain James T. Kirk lauschte beiläufig den Gesprächen ringsum, während er die aktuellen Instandhaltungsberichte aus dem Maschinenraum durchlas. Ein Mannschaftsmitglied reichte ihm eine Tasse heißen Kaffees, die er dankend annahm.

»Wahrscheinlich werden wir hierfür nicht die kompletten 72,03 Stunden brauchen«, scherzte Uhura und ging von der Kommunikationsstation zu Spock herüber. »Ich bin dabei, die Pläne für die diesjährigen Feiertage auszuarbeiten, und möchte Ihre Meinung dazu hören.«

Spock zog eine Augenbraue nach oben. »Ich glaube kaum, dass ich für dieses Freizeitvergnügen geeignet bin. Müßiggang zählt nicht zu den vulkanischen Traditionen.«

Welch nette Umschreibung, dachte Kirk. Er fragte sich, was Uhura eigentlich bezweckte.

»Tradition ist ein gutes Stichwort«, meinte Uhura unerschütterlich. »Wie üblich sollen die Feierlichkeiten die Bräuche aller in der Mannschaft vertretenen Kulturen einschließen, sei es nun Weihnachten, Hanukkah, Kwanza, Diwali, Ramadan, Mololo Zam oder das Ringfest vom Saturn, aber ich muss zugeben, dass ich nicht sonderlich vertraut mit den Sitten Ihres Volks bin, Mister Spock. Gibt es irgendwelche vulkanischen Feiertage oder Rituale, die wir gesondert berücksichtigen sollten?«

Kirk schwang im Kommandosessel zur Wissenschaftsstation herum, da er die Reaktion des Vulkaniers keinesfalls verpassen wollte. Sämtliches Geplapper verstummte. Kirk nahm an, dass auch Chekov, Sulu und der Rest der Brückenbesatzung den Fortgang dieser zunehmend verblüffenden Konversation mit Spannung verfolgten. Obwohl sie alle seit vier Jahren ihren Dienst zusammen mit Spock verrichteten, wusste kaum einer von ihnen Details über das Leben auf Vulkan. Spock hielt sich diesbezüglich ebenso bedeckt wie der Rest seines Volks.

»Sie brauchen sich meinetwegen keine Umstände zu machen, Lieutenant. Allerdings möchte ich Sie für Ihre Bemühungen um Inklusion loben, die der vulkanischen Philosophie des UMUK entsprechen.«

Unendliche Mannigfaltigkeit in unendlicher Kombination, übersetzte Kirk die Abkürzung gedanklich. Er war mit diesem Prinzip, das eine der fundamentalen Säulen der vulkanischen Zivilisation bildete, bestens vertraut, denn es hatte bei der Gründung der Föderation eine prägende Rolle gespielt. Das stellte keine Überraschung dar, wenn man bedachte, dass Vulkanier und Menschen zu den Gründungsmitgliedern der Vereinigten Föderation der Planeten zählten.

»Haben Sie zu Hause denn gar keine Festtage gekannt?«, bohrte Uhura nach. »Nicht einmal als Kinder?«

»Bedingt«, gestand Spock ein. »Mein Vater zeigte ab und an Nachsicht gegenüber der Freude meiner Mutter an irdischen Bräuchen, besonders was den Valentinstag anbelangt.«

Uhura reagierte verzückt auf diese Offenbarung. »Oh wie romantisch!«

»Im Gegenteil. Dahinter liegt nackte Logik. In einem Universum, das von Myriaden von Spezies bewohnt wird, ist die gegenseitige Wertschätzung unterschiedlicher Traditionen die einzig rationale Vorgehensweise.«

»Gut gesprochen, Mister Spock«, mischte sich Kirk ein. »Es ist, wie Bernard Shaw einst schrieb: Nur der Barbar hält die Traditionen seines eigenen Stammes für die Gesetze des Universums.« Der Captain spekulierte, dass Spock mit einer Stichelei über die besondere Befähigung der Menschen kontern würde, sich zum Thema Barbarei zu äußern, aber der Vulkanier verzichtete darauf. Höchstwahrscheinlich, weil sich Doktor McCoy außer Hörweite aufhielt. Pille setzte zur Zeit selten einen Fuß aus der Krankenstation, da ihn ein Ausbruch Therbianischen Fiebers in der Mannschaft ordentlich auf Trab hielt. Also war auf der Brücke niemand, den Spock provozieren konnte.

»Eine äußerst zivilisierte Aussage«, meinte der Vulkanier stattdessen, »besonders für einen Menschen seiner Generation.«

»Wie steht es mit Ihnen, Captain?«, fragte Uhura. »Dürfen wir Sie bei den Feierlichkeiten begrüßen?«

»Ähm, mal sehen«, druckste Kirk herum. Seit der Sache mit Helen Noel vor einigen Jahren war er in Sachen Feierlichkeiten ziemlich zurückhaltend. Sie waren zwar bestens für die Moral an Bord, aber wenn die Verbrüderung zu sehr ausuferte, kam es manchmal zu peinlichen Vorfällen, die einem lange nachhingen. Gut, dass Helen später auf die Reliant versetzt wurde. »Je nachdem, was mein Terminkalender dazu sagt.«

Uhura ließ ihn nicht so leicht vom Haken. »Die gesamte Mannschaft wird sich freuen, wenn Sie dabei sind. Ohne Sie ist es einfach nicht das Gleiche.«

Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Gegebenenfalls sollte er für eine Stippvisite vorbeischauen. »Ich will die Mannschaft bestimmt nicht enttäuschen, aber …«

Ein dringlicher Alarmton von der Kommunikationsstation unterbrach ihn. Sämtliche Gespräche über Feiertage verstummten und jeder kehrte umgehend zu seinen professionellen Pflichten zurück. Uhura eilte an ihren Posten und stöpselte den Empfänger ins Ohr.

»Captain«, meldete sie, »uns erreicht ein Notruf von Ephrata IV.«

»Ephrata«, echote Kirk. »Vom Institut?« So musste es sein, denn es gab keine anderen Kolonien oder Siedlungen im System. Genau aus diesem Grund hatte das Institut Ephrata als Heimat gewählt – die Akademiker wollten Distanz zu dem närrischen Treiben dicht bevölkerter Regionen, und dazu eignete sich ein abgeschiedener Ort erstklassig. Einsamkeit und Kontemplation waren seriösen Studien schon immer zuträglich gewesen. »Auf den Schirm!«

Uhura begutachtete die Anzeigen und hantierte an den Kontrollen ihrer Konsole herum. »Interferenzen stören die visuellen Komponenten der Übertragung. Ich kriege fast nur Ton herein.« Auf einmal wandte sie sich dem Hauptbildschirm zu. »Jetzt funktioniert es.«

Schlagartig ersetzte ein wildes, digitales Schneegestöber die vorbeihuschenden Sterne auf dem Display. Der Kopf und die Schultern einer humanoiden Silhouette gingen in dem Chaos fast unter.

Angespornt von Verzweiflung und unterbrochen von Statik sagte eine Frau: »Wir benötigen Hilfe! Hier ist das Ephrata-Institut. Wir bitten um sofortige Unterstützung …« Das Knacken in der Tonspur intensivierte sich, sodass nur unzusammenhängende Wortfetzen durchsickerten. »… Katastrophe … Tote … die Lage …«

Die Stimme kam Kirk bekannt vor. Er beugte sich im Sessel nach vorne und mühte sich angestrengt, die Person zu identifizieren. »Elena?«

Doktor Collins, eine alte Freundin von Kirks Familie, war in Jims Jugend in Iowa bei seinen Eltern häufig zum Bridge aufgekreuzt. Zuletzt hatte er von ihr gehört, als sie das Amt der Präsidentin am Ephrata-Institut annahm. Er hatte sie vor einer halben Ewigkeit beim Begräbnis von Sam und Aurelian zum letzten Mal persönlich getroffen. Sie war damals den langen Weg von Alpha Centauri angereist, um an der Trauerfeier für seinen Bruder und seine Schwägerin teilzunehmen. Ihr Tiefsinn hatte Kirk immer beeindruckt.

»Elena!«, rief er. »Was geschieht bei Ihnen? Welche Art von Notfall liegt vor?«

»Bemühen Sie sich nicht, Captain«, sagte Uhura. »Das Signal ist mehrere Tage alt. Wir sehen bloß eine Aufzeichnung.« Sie justierte die Instrumente neu. »Wir können leider keine direkte Verbindung nach Ephrata herstellen.«

»Versuchen Sie es weiter.« Frustration nagte an Kirk. Hier draußen an der letzten Grenze des erforschten Universums schnitten Komplikationen einsame Außenposten wie Ephrata oft für Tage von der Kommunikation ab, vereinzelt für Wochen oder sogar Monate. Es ließ sich also nicht sagen, ob die Krise überwunden war und ob Elena und die Gelehrten lebten.

»Notfall«, quäkte es aus den Lautsprechern. »Schwerkraft … Gewicht der Welten … Hilfe …«

Die Übertragung endete abrupt in einem stummen Schneesturm.

»Uhura?«

»Das ist alles, Captain.« Sie legte einen Schalter um, und das Weltall kehrte auf den Monitor zurück. »Das Signal wurde vermutlich an der Quelle unterbrochen.«

»Verstehe.« Kirk hätte gerne über mehr Informationen verfügt, trotzdem wusste er, was zu tun war. Der Routineflug zu Sternenbasis 13 konnte aufgeschoben werden. »Mister Sulu, setzen Sie Kurs auf Ephrata IV. Warp 6.«

»Aye, aye, Sir.« Der Ensign konsultierte die Astronavigationsanzeige zwischen Steuer- und Navigationskonsole und verkündete: »Wir erreichen das Ephrata-System in 39 Stunden und 17 Minuten.«

»Verdammt!«, fluchte Kirk und wünschte, die Akademiker-Kolonie hätte sich weniger weit abseits ausgetretener Pfade angesiedelt. »Besteht irgendeine Chance, dass ein anderes Raumschiff bereits auf den Notruf reagiert hat?«

»Unwahrscheinlich, Captain«, antwortete Spock. »Wie Sie wissen, befindet sich das Institut in selbst gewählter Isolation. Die Enterprise ist das einzige Schiff der Föderation in diesem Sektor und die Chancen, dass ein anderes privates oder kommerzielles Raumfahrzeug in der Nähe ist, stehen 1 zu 760.«

»Das habe ich befürchtet«, sagte Kirk. Abgesehen von der hohen Präzision seiner Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte ihm sein Erster Offizier kaum etwas verraten, was er sich nicht selbst zusammenreimen konnte. Die Enterprise war der einzige Lichtblick dieser Leute, falls sie überlebt hatten. »Was denken Sie, Mister Spock?«

Yakima