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Christof Gasser, geboren 1960 in Zuchwil bei Solothurn, war lange in der Uhrenindustrie tätig und leitete mehrere Jahre einen Produktionsbetrieb in Südostasien. Heute ist er selbstständig und unterrichtet neben seiner Tätigkeit als freier Autor in Teilzeit als Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seine beiden Solothurn-Kriminalromane standen mehrere Wochen auf den schweizerischen Bestsellerlisten.

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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2017 Emons Verlag GmbH

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

The sorrow for the dead is the only sorrow from which we refuse to be divorced. Every other wound we seek to heal – every other affliction to forget; but this wound we consider it a duty to keep open – this affliction we cherish and brood over in solitude.

Der Kummer um die Toten ist der einzige Kummer, von dem wir nicht getrennt werden können. Jede andere Wunde suchen wir zu heilen – jedes andere Leid zu vergessen; doch diese Wunde offen zu halten, sehen wir als unsere Pflicht an – dieses Leid nähren wir und brüten darüber in der Einsamkeit.

Washington Irving (1783–1859), amerikanischer Schriftsteller

Prolog

Sie küssten sich leidenschaftlich. Ihre Lippen schmeckten süss nach Met, dem Honigwein, von dem sie beide zu viel getrunken hatten. Das kam seinen – und scheinbar auch ihren – Absichten entgegen. Sie stöhnte leise, als sie ihren Unterleib gegen seinen Oberschenkel zwischen ihren Beinen presste. Ihr Verlangen vermischte sich mit seinem.

Vom Festplatz drang der Schein der Feuer zu ihnen herauf. Der appetitanregende Geruch von Spiessen mit gebratenem Poulet und Spanferkel verteilte sich über der Talenge. Sogar ein ganzes Wildschwein hatten sich die Organisatoren des Mittelalterfestes geleistet. «Die Barden», eine eigens für den Anlass engagierte Gruppe junger Musiker, die sich auf mittelalterliche Weisen spezialisiert hatte, spielte in traditionellen Kostümen jener Epoche auf. Die Musik hing wie akustisch-sphärischer Dunst über der ausgelassenen Fröhlichkeit der Festbesucher. Weiter oben, passend zum Festthema, hob sich der Palas der Burgruine gegen den Nachthimmel ab. Der flackernde Feuerschein zwischen den Bäumen brach sich am groben Mauerwerk.

Als ihre Zunge fordernder wurde, wusste er, dass das schönste Mädchen zwischen Landesgrenze und Passwang, die Schönheitskönigin des Schwarzbubenlandes und heisse Anwärterin für den Titel der «Miss Solothurn», für diese Nacht ihm gehören würde. Seine Hände schoben sich unter ihr T-Shirt. Sie musste seine Reaktion an berufener Körperstelle gespürt haben, als er zu seiner grössten Erregung und Zufriedenheit merkte, dass er anstelle des spitzenbesetzten Stoffes eines Büstenhalters nackte Haut ertastete.

Mit einem ergebenen Seufzer drängte sie ihren Mund härter auf seinen und begann mit einer Hand den Bund seiner Hose zu streicheln, in der sich ein beinahe unerträglich beengendes Gefühl ausbreitete. Im Gegenzug versuchte er, mit der Hand unter den Saum ihrer ultrakurzen Jeanspants zu gleiten. Die Hose sass zu satt für ein komfortables Weiterkommen. Seine Finger begannen geschickt, ihren Hosenbund zu öffnen. Bald glitt seine Hand unter den glatten Stoff ihres Slips. Ein kehliges Aufstöhnen verriet ihm, dass sein Vorgehen mehr als gebilligt wurde. So war er umso überraschter, dass sich ihre Hand auf seine legte und sich ihr Mund von seinem löste.

«Warte», flüsterte sie und knabberte kurz an seinem Ohrläppchen, was einen elektrisierenden Schauer in seinem ganzen Körper auslöste. «Nicht hier, es könnte jemand kommen.»

«Sollen wir hoch zur Burg?» Seine andere Hand streichelte ihre Brust. «Dort ist sicher keiner.»

Sie schüttelte den Kopf, während sie nun auch sanft seine Hand unter ihrem T-Shirt hervorzog. «Nicht zur Burg», sagte sie bestimmt. «Blöd, wenn im dümmsten Moment jemand kommt. Ich hasse es, beim Orgasmus gestört zu werden. – Ausserdem fängt es bald an zu regnen.» Sie zeigte zu einer Wolke, die sich vor den Sternenhimmel geschoben hatte, und ergriff seine Hand und zog ihn hinauf. «Ich weiss etwas Besseres, komm.»

Sie liefen empor zur Burgruine, die auf einem Felsvorsprung der Geissflue lag.

«Was jetzt?», fragte er, als sie auf dem kleinen Vorplatz standen, von wo man über eine Holzbrücke in den Innenhof des Palas gelangte.

«Ich weiss einen Platz», sagte die junge Frau. «Da kommt sicher keiner hin.» Sie ging voraus. Der Pfad war schmal und schwierig und in der Dunkelheit schwer erkennbar. Nach wenigen Metern stolperte er und wäre in den Abgrund gestürzt, wenn sie ihn nicht gehalten hätte. «Hast du dir wehgetan?»

«Bist du sicher, dass du mit mir vögeln willst und mich nicht vorher umbringst?», fragte er nach Luft ringend vor Schreck.

«Entschuldige», sagte sie. «Ich kenne den Weg in- und auswendig.» Sie zog ihr Smartphone hervor und aktivierte die Taschenlampenfunktion. Der von heimtückischen Baumwurzeln durchzogene Pfad wurde auf einige Meter deutlich sichtbar.

«Schon besser», sagte er und versuchte, seine Stimme gelassen klingen zu lassen. Nach einem kurzen Aufstieg verflachte sich der Pfad und führte einen bewaldeten Hang entlang. Mit Hilfe der Taschenlampe rannten beide mehr, als sie gingen. Zwischendurch hielten sie an, und sie liess sich von ihm in allen möglichen Posen fotografieren, wobei er sich im Blitzlicht der Kamera überzeugen konnte, dass ihre Brüste tatsächlich das hielten, was sie zuvor unter dem Stoff ihres Leibchens versprochen hatten. Als sie das T-Shirt ganz auszog und die Silhouette ihrer schlanken Figur sich im Widerschein der Taschenlampe wie eine tanzende Grazie vor ihm bewegte, fiel ihm das Gehen in seinen Jeans zusehends schwerer.

Sie kamen zu einer grossen Lichtung. Er fragte sich, ob sie sich etwa in der Scheune des Bauerngasthofes oben auf dem Berg mit ihm vergnügen wollte. Er wagte zu bezweifeln, dass es diskreter war als eine Nische im Innern der Burgruine. Sicher war es im Heu komfortabler, als sich den Hintern an einer groben Steinmauer oder auf dem kahlen Waldboden wund zu scheuern. Angesichts der bevorstehenden Misswahl in Solothurn wollte sie das wohl vermeiden. Es würde sich nicht gut machen, wenn sich die Vertreterin des Schwarzbubenlandes den hochnäsigen Hauptstädtern im Tanga-Bikini mit wunden Hinterbacken präsentieren würde. Als er sie darauf ansprach, lachte sie ihn aus. «Was glaubst du eigentlich? Du wärst derjenige, der sich den Hintern abschürfen würde.»

Sie entzog sich ihm, als er sie erneut packen wollte, und verliess den Pfad, um die leicht ansteigende Wiese emporzusteigen. «Wir sind gleich da.»

Kurz darauf standen sie vor einer zweigeschossigen Holzscheune. Das Tor war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Er zog und rüttelte daran, ohne dass der Bügel ein Jota nachgab. «Mist», murrte er. «Willst du etwa, dass ich es aufbreche?»

«Ihr Männer und eure ungehobelten Methoden. Gewalt ist nicht alles.» Lächelnd zog sie eine Haarnadel aus ihrer Gesässtasche und hielt sie ihm grinsend unter die Nase. «Ein Mädchen ist gerüstet für die Unbill des Lebens.»

Er sah ihr verblüfft zu, wie sie innert Sekunden das Schloss geknackt hatte und das Tor lautlos auf Rollen zurückglitt. «Das Tor ist offen», sagte sie mit einem vielsagenden Blick, «meine Pforte auch.» Sie nahm ihn zärtlich an der Hand und führte ihn hinein. «Hast du genug Kondome dabei?»

Er hatte, und sie bewies ihm, dass die jungen Frauen vom Land ihren urbanen Zeitgenossinnen im Liebesspiel in keiner Weise nachstanden.

Mit geschlossenen Augen spürte er, dass er bald so weit war. Mit Erleichterung stellte er fest, dass auch sie bebend in ihrer Ekstase verharrte. Es würde bei beiden gleichzeitig passieren.

Ein Winkel seines Bewusstseins vernahm einen trockenen Schlag. Gleich darauf erschlaffte sie und sank auf seiner Brust zusammen.

«Mann!», sagte er ausser Atem. «So was habe ich noch nie erlebt, du bist ja ganz schön …»

Sie lag mit dem Kopf auf seiner Brust und regte sich nicht mehr. «Amanda?» Er fuhr mit den Fingern über ihren Hinterkopf. Ihre Haare fühlten sich feucht und klebrig an.

Er schlug die Augen auf. «Amanda, was hast du …?» Er betrachtete seine Hände im schwachen Schein der Handylampe. Sie waren feucht und rot. «Amanda!»

Er wollte sich aufrichten und hielt in der Bewegung inne, als er den Schatten sah, der sich auf ihn zubewegte.

EINS

Der dünne Lichtstrahl aus dem Nichts durchschnitt das Schwarz des schmalen, engen Korridors. Die Luft war zum Schneiden dick. Sie atmete mit offenem Mund. Sie hatte das Gefühl, nahe am Ersticken zu sein. Irgendwo vor ihr hörte sie die Angst- und Schmerzensschreie derjenigen, die auf sie zählten. Oder war es hinter ihr? Es kam von überall.

Die Luft hatte sich verändert. Neben staubigem Mief drang der schlammige Geruch modriger Feuchtigkeit in ihre Nase. Da war noch etwas anderes, etwas noch nicht Definierbares. Vor sich sah sie eine mit Stahlbolzen verriegelte Metalltür. Eine unbändige Todesfurcht ergriff von ihr Besitz und nahm ihr Herz in einen Klammergriff. Er drohte es zu zerdrücken und die Lebenskraft bis zum letzten Tropfen aus ihm herauszupressen.

Der Boden war hier feucht und glitschig. Sie rutschte aus und landete stolpernd auf ihren Knien. Eigenartigerweise verspürte sie keinen Schmerz. Der helle Lichtkegel verschwand im Nichts, woher er gekommen war. Lediglich ein schwaches blaues Leuchten schimmerte unter der Kante der Tür hindurch.

Beim Sturz hatte sie sich mit den Händen aufgefangen. Sie fühlten sich an den Innenflächen feucht und klebrig an. Sie hielt sie nahe vor die Augen. Eine träge Flüssigkeit lief in kleinen Rinnsalen über ihre Unterarme. Gleichzeitig begann die Luft zu zittern. Die Vibration vereinigte sich mit einem Geräusch, das sich vom hintersten Winkel ihres Gehirns einen Weg nach vorne bahnte. Es war ein lang gezogener, schriller Schrei. Ihr Schrei.

***

Cora Johannis warf Patrizia Egger einen mahnenden Blick zu und tippte sich auf den Mund. Patrizia leckte sich mit der Zunge den Milchschaumschnauz von der Oberlippe, den ihr Cappuccino hinterlassen hatte, und biss genüsslich in eine Butterlaugenbretzel.

Die Sonne hatte sich nach den nächtlichen Regenfällen bis in den frühen Morgen über der Solothurner Altstadt etwas hervorgewagt und dem anfänglich trüben Morgen ein spätsommerliches Gefühl verliehen. Unter der Markise auf der Terrasse des Café Hofer am Stalden, wo sie heute ihren Sonntagmorgenkaffee tranken, wurde es bereits angenehm warm. Coras Kinder waren den ganzen Tag beschäftigt; Julian mit einem Uni-Projekt, Mila bestritt einen Volleyballmatch.

Cora sah nicht ohne Neid zu, wie Patrizia genüsslich ihr Gebäck kaute. Nachdem ihr erbarmungsloses Spiegelbild an diesem Morgen einige bisher nie gesehene Hüftröllchen offenbarte, hatte sie sich ein Gebäck versagt und trank anstelle ihres Lieblings-Latte-macchiato einen doppelten Espresso. Immerhin konnte sie sich auf einen Lunch in einem der besten Restaurants der Stadt freuen, den sie nicht bezahlen musste.

«Ich hatte wieder einen dieser Träume», sagte Cora.

«Was meinst du?», fragte Patrizia. «Etwa die Alpträume, die dich lange verfolgt haben, nachdem du aus dieser Hölle zurückgekehrt bist?»

«Ja. Als ich mit Mila schwanger war und bis einige Monate nach ihrer Geburt waren sie verschwunden. Danach kamen sie nur selten wieder. Ich frage mich, warum sie mich ausgerechnet jetzt wieder heimsuchen.»

«Das hat nicht etwa mit deinem bevorstehenden Mittagessen und deinem Gespräch mit Wagner zu tun? Sag mir nicht, dass du mit dem Gedanken spielst, wieder in den Mittleren Osten zu reisen.»

Cora rührte mit dem Löffel in dem erkalteten Rest ihres Espressos. «Mach dir keine Sorgen, bei dieser Reportage, wenn ich sie denn kriege, bleibe ich in Europa. – Obwohl …», sie führte die Tasse zum Mund, «… Berichte über den Mittleren Osten würden besser bezahlt. Ich könnte das Geld gebrauchen.»

Kurz nachdem Cora vor etwas mehr als vierzehn Jahren eine Auszeit von ihrer Journalistentätigkeit genommen hatte, war sie schwanger geworden. Nach Milas Geburt hatte sie sich auf das Verfassen einiger aufsehenerregender Sachbücher über Flüchtlingspolitik, Schlepperei und Menschenhandel in den Krisengebieten Afrikas und dem Mittleren Osten konzentriert. Die einzige längere Reise in dieser Zeit hatte sie nach der Scheidung von Matthias unternommen, einen Trip zur Selbstfindung nach Südostasien.

Patrizia sah sie kritisch an. «Julian ist ja jetzt einundzwanzig und draussen. Ihm wird es nichts ausmachen, wenn du wieder herumreist. Mila hingegen –»

Cora schnaubte. «Der ist das doch erst recht wurscht. Die ist wahrscheinlich froh, wenn ich für eine Weile weg bin.»

«Liegt ihr euch etwa schon wieder in den Haaren? Mann, Cora.»

«Was? Ich darf meiner Tochter wohl noch sagen, wenn ich finde, dass es in ihrem Zimmer aussieht wie nach einem Bombenangriff, und dass ich ausserdem finde, dass sie von Matthias und Grazyna zu sehr verwöhnt wurde.»

«Das hast du ihr echt gesagt? Und dann?»

«Hat sie mir an den Kopf geworfen, dass ich eifersüchtig auf Grazyna bin, weil ich eh keinen Kerl mehr abkriege, und dass sie Matthias voll verstehen kann, dass er sich eine neue … ach!» Beim Wort «voll» zeichnete Cora Anführungszeichen in die Luft und äffte die keifende Stimme eines Teenagers nach.

Patrizia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. «Die Kleine ist um eine Antwort nicht verlegen. Liegt wohl in der Familie.»

«Ich hätte ihr am liebsten eine gelangt.»

«Hast du aber nicht – hoffentlich.»

«Natürlich nicht. Mila ist ein richtiges Papimädchen, Papi hier, Papi da, und überhaupt ist Papi der Beste. Jetzt ist sie wütend auf ihn, weil er sie im Stich lässt. – Und lässt es an mir aus. Ich kann nichts dafür, dass es dort in Argentinien, wo er sein Kraftwerk baut, keine vernünftige Schule gibt und sie für die nächsten fünf Jahre mit mir vorliebnehmen muss.»

«Zahlt Matthias wenigstens für sie, wenn er sie schon bei dir parkiert?»

Cora hatte sich von Matthias Marthaler, Milas Vater, scheiden lassen, nachdem er sich auf einer Geschäftsreise in Lettland in Grazyna, die polnische Assistentin seines Kunden verliebt hatte, als Mila sechs Jahre alt war. Es schmerzte Cora heute noch, dass es nicht mehr als einer blonden Polin mit üppigen Kurven bedurft hatte, damit Matthias seinen Verstand verlor. Immerhin liess er sich nicht lumpen und beteiligte sich nach wie vor an der Amortisation des gemeinsamen Heimes, eines renovierten Bauernhauses im Bucheggberger Dorf Nennigkofen, das Cora zusammen mit ihren Kindern bewohnte. «Geld ist bei Matthias nicht das Problem. Ich will einfach nicht für den Rest meiner Tage von ihm abhängig sein. – Was mir zu denken gibt, ist, dass ich einfach nicht mehr weiss, wie ich an Mila herankomme. Sobald ich einen Schritt auf sie zumache, schnappt sie nach mir. Glücklicherweise hat wenigstens Julian einen guten Draht zu ihr und kann zwischen uns vermitteln.»

«Töchter in der Pubertät», sagte Patrizia mitfühlend. «Kein Wunder hast du wieder Alpträume.»

«Ich hätte mich früher mehr um sie kümmern sollen. Jetzt zahlt sie es mir heim.» Cora fühlte, wie ihre Augen feucht wurden, und wischte vorsorglich mit der Hand darüber.

«Hey», Patrizia legte eine Hand auf ihren Arm, «mach dir deswegen keine Vorwürfe. Du hast damals deiner Karriere Priorität eingeräumt. Mila und Julian waren während dieser Zeit bei deinen Eltern gut versorgt.»

«Trotzdem, die Grosseltern sind kein Elternersatz. Dafür hasst mich meine Tochter heute.»

«Weil dich diese Pubertätserbse anpisst? Da hast du doch Schlimmeres gesehen.»

Cora warf ihrer Freundin einen schmerzvollen Blick zu. «Reden wir nicht davon. Die Alpträume reichen mir.»

«Mensch, Cora!» Patrizias Stimme klang vorwurfsvoll. «Für das, was du gesehen hast, würde man sogar knallharte Elitesoldaten in Therapie schicken. Ich wüsste da einen guten Psychologen.» Sie beugte sich mit verschwörerischer Miene zu Cora hinüber. «Ausserdem ist er Single und sieht verdammt gut aus. Das wäre doch …»

«… eine Sauerei, wenn er sich mit einer Klientin einlassen würde. Danke, Patty, ich schaffe das allein.»

«Gerade habe ich den Eindruck, dass du dich von deiner Tochter schaffen lässt.»

Cora seufzte. «Du hast gut reden, du hast keine Kinder.»

Patrizia hob mit einem milden Lächeln die Augenbrauen. «Ist das dein Killerargument, ja? Wenn du das gegenüber Mila genauso machst, brauchst du dich nicht zu wundern, dass sie dich anfaucht.»

Cora hob resigniert die Arme. «Ja, entschuldige. Jungs aufzuziehen ist halt leichter als eine Göre, die meint, alle über dreissig seien uralt und voll peinlich.»

Patrizia schöpfte mit ihrem Kaffeelöffel die grosszügige, mit Schokopulver bestreute Schaumhaube von ihrem Cappuccino ab. Sie war die jüngste von drei Schwestern, die wiederum fünf Töchter hatten. Patrizia hatte ihre Nichten in allen Entwicklungsphasen begleitet und betreut, wenn ihre berufstätigen Mütter etwas Luft brauchten. «Weisst du, was dein Problem ist?», fragte sie, bevor sie den vollen Löffel in den Mund steckte. «Du lässt Mila zu nahe an dich herankommen.»

«Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?», gab Cora zurück. «Sie ignorieren? Da hätte ich sie geradeso gut zu meiner Ex-Schwiegermutter gehen lassen können, wie Matthias vorgeschlagen hat. Somit wäre ich endgültig die unfähige Mutter.»

«Lass die Kirche mal im Dorf», sagte Patrizia einen Zacken energischer. «Mila war bei Matthias, und du hast Julian neben deiner Arbeit aufgezogen. Und Julian ist mehr als super herausgekommen.» Sie umfasste Coras Hände.

Cora dachte an ihren inzwischen verstorbenen Vater Nicolas Johannis, den sie zwischendurch schmerzlich vermisste, auch wenn sie nicht immer ein Herz und eine Seele gewesen waren. Julian hatte glücklicherweise viele der positiven Charakterzüge seines Grossvaters geerbt, dem Grosszügigkeit, Gerechtigkeit und Respekt vor Schwächeren stets wichtig gewesen waren. Julian war das Resultat einer Liebschaft Coras mit Marzuq, einem Maghrebiner, den sie während eines Jobs in Casablanca kennengelernt hatte. Nachdem er erfahren hatte, dass sie schwanger war, hatte er es vorgezogen, sich abzusetzen. Cora würde ihm immer dankbar sein, dass durch ihn Julian entstanden war. Im Übrigen konnte er, soweit es sie betraf, bleiben, wo der Pfeffer wuchs.

«Darf ich dir trotz meiner fehlenden Praxis als Mutter einen Rat geben?», fragte Patrizia.

Cora seufzte. «Du tust es ja ohnehin.»

«Lass Mila mehr Freiheiten. So schonst du euch beide.»

Cora schnaubte abschätzig. «Mila schont sich die ganze Zeit. Du solltest mal den Zustand ihres Zimmers sehen. Würde mich nicht wundern, wenn die UNO es demnächst zum Krisengebiet erklärt und Blauhelme hinschickt.»

«Genau das meine ich. Zwischen dir und deiner Tochter steht zunächst mal dein Ordnungsfimmel. Erinnerst du dich, als wir letztes Jahr zusammen auf Madeira waren, in diesem wunderschönen, sündhaft teuren Hotel, in dem wir uns zusammen eine Suite geleistet haben?»

Cora dachte nicht ungern an die vierzehn Tage, die sie in Funchal verbracht hatten. «Und ob! Du wolltest die Suite anstelle eines Doppelzimmers, damit du ungestört deine Gigolos vernaschen konntest. Ich habe in den zwei Wochen mindestens drei Typen gezählt.»

«Na und?», sagte Patrizia und strich sich mit einer Hand über die mit intensivem Fitness- und Yogatraining gestraffte Figur. Ihre naturroten Haare und die frechen Sommersprossen unter einem Paar graugrüner Augen taten das Übrige, damit sich die Männer nach ihr umdrehten. «Ich bin dreiundvierzig und nicht umsonst ledig. Warum soll ich wie eine Nonne leben, solange ich nicht dafür bezahlen muss? – Und fürs Protokoll: Du hast dich auch nicht gerade wie eine Heilige benommen.»

Cora hatte sich mit nur einem Ferienflirt begnügt, der es wiederum in sich gehabt hatte. Alvaro, ein Spanier Anfang vierzig, der ihr versprochen hatte, dem Ausdruck «Spanische Hofreitschule» eine neue Bedeutung zu verleihen. Seither war sie im Gegensatz zu ihrer Freundin mit keinem Mann mehr zusammen gewesen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fehlte ihr das.

«Die Männer waren nicht der eigentliche Grund, warum ich auf separate Schlafzimmer bestanden habe», fuhr Patrizia fort.

«Was denn sonst?»

«Weil du jedes Mal, wenn du zu mir reingekommen bist, angefangen hast, aufzuräumen. Ich hätte das keine zwei Wochen im gleichen Zimmer mit dir ausgehalten.»

«Willst du mir damit sagen, dass Mila und ich ein Herz und eine Seele werden, wenn ich sie in Frieden in ihrem Saustall hausen lasse?»

«Wenn ich mich an früher erinnere, warst du auch nicht immer ein Ausbund an Zucht und Ordnung, zumindest was dein Zimmer betraf. Jedenfalls hast du dich regelmässig mit deiner Mutter in die Haare gekriegt und –»

«Langsam, das ist was ganz anderes. Die war damals so was von pingelig.»

Patrizia deutete an, in ihren Ohren zu stochern. «Warum habe ich ständig das Gefühl, deine Mutter zu hören, wenn du von Mila sprichst? Ist Sturheit bei euch Johannis-Frauen eine genetische Voraussetzung? Ich wette, in zehn Jahren liegen Milas Kleider mit dem Massstab ausgerichtet im Schrank und ihr Fussboden wird sauberer sein als dein Esstisch.» Sie winkte ab. «Versuch, mit ihr eine Vereinbarung zu treffen. Ansonsten lass sie so sein, wie sie ist, und mäkle nicht ständig an ihr herum. Ich bin sicher, das ist der Grund, warum sie lieber bei ihrem Vater sein möchte.»

Cora zog eine verächtliche Schnute. «Der hat sie nur verwöhnt, damit er in Ruhe seine …» Sie machte eine frustrierte Geste. «Grazyna hat sich wegen ihm extra die Brüste machen lassen. Das hat er mir brühwarm unter die Nase gerieben.» Sie blickte an sich herunter. «Womöglich wären wir heute noch verheiratet, wenn ich mir rechtzeitig ein Paar massgeschneiderte Porno-Hupen zugelegt hätte.»

«Wie lange seid ihr beide schon auseinander?»

«Knapp acht Jahre», sagte Cora mürrisch. Sie glaubte zu wissen, worauf Patrizia herauswollte. «Was hat das damit zu tun?»

«Direkt eigentlich nichts. Ich erinnere dich lediglich daran, dass Matthias und Grazyna seit bald sieben Jahren verheiratet sind, fast schon so lange, wie ihr beide es wart. Ich kann ja verstehen, dass es dir schwerfällt, ihm zu verzeihen. Aber dass du die Ehe der beiden immer noch als reine Fickbeziehung abtust, ist unter deiner Würde.»

«Geschenkt.»

«Gib Mila Luft und Raum, lass sie sie selbst sein.»

«Luft und Raum? Patty, sie ist gerade mal vierzehn und dreht sich schon nach den Jungs um.»

«Wenn nicht jetzt, wann dann?» Patrizia sah auf ihre Uhr und sah sich nach der Kellnerin um. «Ich muss noch in die Kanzlei.»

«Am Sonntag?»

«Morgen steht uns ein wichtiger Prozess bevor, und der Mandant will das Dossier mit mir und Daniel noch mal durchgehen.»

Patrizia arbeitete in der Anwaltskanzlei Vom Staal, Strebel & Partner International Lawyers als Juniorpartnerin. Sobald Friedrich Strebel in den Ruhestand ging, würde sie seine Nachfolge antreten.

Für Cora wurde es auch Zeit. Sie zückte ihr Portemonnaie.

«Lass mal, meine Runde», sagte Patrizia. «Dafür, dass du dir von mir einiges hast anhören müssen.» Sie reichte der Kellnerin das Geld. «Apropos. Daniel hat mich gestern angerufen und sich nach dir erkundigt.»

«Daniel vom Staal?»

«Genau.»

«Weshalb denn?»

«Keine Ahnung. Er hat gefragt, was du gerade tust.» Sie lehnte sich mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck zu ihr herüber. «Möglich, dass er an einem politischen Comeback arbeitet und jemanden für seine Kampagne sucht, der sich mit den Medien auskennt.»

«Das würde mich wundern. Der ist doch fertig mit der Politik seit der Geschichte mit seiner Frau damals und nach all dem, was die Medien und seine sogenannten Parteifreunde mit ihm angestellt haben.»

«Dann gibt’s nur eine Erklärung. Er sucht eine gute Partie und hat sich die einzig Richtige dafür ausgeguckt: dich.»

Cora verdrehte die Augen. «Hat er sonst noch was gesagt?»

«Dass er dich demnächst anruft. Wart’s halt ab.»

«Wie dem auch sei, die nächsten paar Wochen werde ich mich ausschliesslich mit der Reportage befassen, über die Wagner mit mir reden will.»

«Bist du sicher, dass du das wirklich willst, Cora?», fragte Patrizia zweifelnd. «Wieder diese Tragik mit all diesen Flüchtlingen? Damals hast du geschworen, nie wieder –»

«Patty, ich kann mich nicht ewig verstecken. Ausserdem ist es Italien und nicht Kurdistan. Ich muss wieder etwas tun, bevor mir Mila meinen letzten Funken Selbstvertrauen austreibt. Vor allem brauche ich den Zustupf.»

«Du solltest mal versuchen, nicht ständig vor den wirklichen Herausforderungen davonzurennen.» Patrizia hob die Schultern und stand auf. «Vielleicht bringt dich vom Staal auf andere Gedanken.»

***

Cora sass Wagner gegenüber und fixierte ihn, bis er seinen Blick senkte und einen imaginären Fleck auf seiner Schreibtischunterlage kontemplierte. Sie war wütend und hatte nicht vor, ihn so schnell vom Wickel zu lassen. Seine Nachricht war kurz vor ihrem Treffen per SMS auf ihr Handy gekommen. Darin hatte er ihr mitgeteilt, dass sie den Lunch verschieben und sich stattdessen in seinem Büro im Medienhaus treffen sollten. Den gediegenen Lunch im «Zum Alten Stephan» mit einem Glas Wasser und einem trockenen Biskuit im Medienhaus eintauschen zu müssen, war jedoch nicht Anlass ihres Zorns gegenüber Wagner.

«Glaub mir, Cora», sagte der Chefredaktor mit verständnisheischendem Dackelblick. «Ich habe wirklich alles versucht. Ich habe ehrlich nicht damit gerechnet, dass die in Langenthal sich so direkt in die Redaktion einmischen.»

Im Grunde wusste sie, dass er es ehrlich meinte und es sich auf keinen Fall mit ihr verderben wollte. Cora Johannis war ein Begriff und eine respektierte Grösse in der Printmedienszene.

«Es sind die Sparmassnahmen. Du bist zu teuer, Cora.»

Sie schnaubte. «Blödsinn, meine Honorare bewegen sich im Rahmen der Kollegen. Das weisst du genau.» Sie beugte sich vor. «Was steckt wirklich dahinter? Welchem Billigschreiberling gebt ihr die Story?»

Wagners Interesse für den vermeintlichen Fleck auf der Tischunterlage wuchs zusehends.

«Wagner, verdammt!» Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Du hast mir gerade ein finanzielles Problem verpasst. Ich habe wenigstens das Recht zu wissen, wen ihr an meiner Stelle nach Kalabrien schickt.»

Das «Solothurner Tagblatt» hatte mit seinem Portfolio ein Magazin in den Mittelland-Verlag eingebracht. Es trug den klingenden Namen «WP&G», der für Wirtschaft – Politik – Gesellschaft stand. Cora hatte mehrmals aufsehenerregende Artikel für die Publikation veröffentlicht und war trotz ihres Status als Freischaffende gewissermassen zur Hausjournalistin des Blattes avanciert. Die Mittelland-Verlagsgruppe mit Sitz in der Oberaargauer Metropole Langenthal hatte den Tagblatt-Verlag vor einigen Monaten übernommen. Seither schien es, dass in ihrem Geschäft Erbsenzähler eine wesentlichere Rolle spielten als fundierter Journalismus.

Cora machte sich keine Illusionen, dass die Digitalisierung einen Medienmenschen hervorgebracht hatte, der mit ihrer Vorstellung von Journalismus nicht zu vereinbaren war. Facebook, Twitter und YouTube hatten eine neue Qualität der Berichterstattung geschaffen. Eine, die wenig mit dem ausgewogenen und sorgfältig recherchierten Journalismus zu tun hatte, für den sie einstand und dessen hohem Niveau «WP&G» seine hervorragende Marktstellung als Printmagazin zu verdanken hatte. Es ging mit der Zeit und verfügte über eine Online-Plattform, von der man das ganze Magazin oder einzelne Artikel nach Erscheinen in der Printausgabe gegen Entrichtung einer Gebühr herunterladen konnte.

Die Artikelserie mit Fotos über die Zustände in den Aufnahmezentren für Flüchtlinge, die über das Mittelmeer von Nordafrika nach Südeuropa gelangten, und die Verstrickungen zwischen Behörden, Politikern und der Mafia, welche aus der Schlepperei Profit schlugen, wäre für sie eine echte Herausforderung gewesen. Nach all den Jahren wollte sie sich den Dämonen der Vergangenheit stellen, die sie damals beinahe zerstört hatten. Ausserdem hätte sie zu gerne die Exponenten der nationalen und EU-Institutionen gegrillt und Hintergründe beleuchtet. Menschenhandel war ein Thema, das ihren südosteuropäischen Wurzeln besonders nahestand. Ausserdem brauchte sie das Geld wirklich dringend.

«Sag schon, wer kriegt den Zuschlag?»

Wagner wand sich. «Es ist nicht nur dein Honorar, Cora. In Langenthal wissen sie von … was damals passiert ist. Sie fürchten, dass du den Herausforderungen nicht gewachsen sein wirst. Sie wollen –»

«Das geht sie verdammt noch mal nichts an. Das ist lange her. Ich bin wieder voll da, das weisst du am besten.»

Wagner hielt die Augen gesenkt. Cora glaubte seiner Versicherung, dass er sich für sie eingesetzt hatte. Das mit dem Vorfall von damals konnte nur ein Vorwand sein. «Also, wen schickt ihr?»

«Heizmann», sagte er nach einigen Sekunden Stille.

Cora vergass vor Verblüffung, den Mund zu schliessen.

«Du meinst nicht etwa … den Heizmann?»

Der eingebildete Fleck übte nach wie vor eine ungebrochene Anziehungskraft auf Wagner aus.

«Das ist nicht wahr», blaffte Cora. «Ihr schickt tatsächlich diesen aufgeblasenen Schmierfinken vom ‹N.T.› dort hinunter? Du weisst schon, worüber der bisher geschrieben hat, oder?»

Der «NEUE TAG» war eines der grössten Boulevardblätter des Landes und nicht gerade bekannt für sorgfältig recherchierte Artikel. Reisserische Aufmachungen, bei denen entweder Blutvergiessen oder neben Sport der Austausch von Körperflüssigkeiten im Vordergrund standen, gehörten zur Stammdomäne des Blattes.

«Er kostet die neuen Bosse weniger als du, Cora», sagte Wagner hilflos. «Das hat den Ausschlag gegeben.»

«Und mit dem setzt ihr den guten Ruf von ‹WP&G› aufs Spiel? Ich wusste nicht, dass in eurer Chefetage publizistische Suizidgelüste umgehen. Was war Heizmanns letzter grosser Wurf? Die gefühlt tausendste Busenverkleinerung eines Pornosternchens oder der neue Toyboy von DJ Rocca, für den sie letzte Woche ihrer Freundin den Laufpass gegeben hat?»

«Heizmann macht auch gute politische Reportagen», sagte Wagner kleinlaut. «Die mit Nationalrat Urner zum Beispiel.»

«Ja richtig, der Urner von der Fortschrittspartei, die am liebsten alles, was auch nur im Entferntesten nach Ausland tönt, in der Verfassung verbieten lassen will. Klar, dass es ein Top-Scoop und politisch relevant war, den Urner zusammen mit einer thailändischen Nutte am Strand von Phuket fotografieren zu können. Wie viel Spesen hat Heizmann dafür noch mal eingeheimst?»

«Bleib sachlich, Cora. Der neue CEO will alle grossen Vergaben an externe Journalisten selbst absegnen. Bei dir hat er Nein gesagt. Tut mir leid, ehrlich.»

Das glaubte sie ihm sogar. «Schon gut, Wagner. Ich weiss, dass du nichts dafür kannst und ich deswegen in einen finanziellen Engpass gerate, ausgerechnet jetzt, da Mila vor Kurzem bei mir eingezogen ist.»

Wagner kam hinter seinem Tisch hervor. Mit seinem Schnauz, den wirren Haaren und seiner ganzen Körpermasse wirkte er wie ein Bär, als er sie umarmte. «Kann sein, dass ich bald was anderes habe. Nichts Grosses, aber immerhin etwas.»

«Solange es mehr als null Franken einbringt …» Sie löste sich aus der Umarmung seiner Pranken und kniff ihn in den vorstehenden Bauch. «Ich muss nach Hause – rechnen gehen. Du schuldest mir was, Wagner. Mindestens ein Essen im ‹Alten Stephan›.»

Auf dem Weg zu ihrem Auto erwog Cora, Matthias zu bitten, seine Unterstützung für Mila zu erhöhen, bis sie finanziell wieder Oberwasser hatte. Nach kurzer Zeit verwarf sie den Gedanken. Es war wichtig, zu versuchen, die Krise allein zu meistern. Wichtig für sie – und wegen Mila.

***

Ihr Handy klingelte. Sie stand auf dem Parkplatz des Landi-Shops in Lohn, dem einzigen grossen Supermarkt der Region, der weder direkt an einen Bahnhof noch an eine Tankstelle gebunden war und zudem an Sonntagen durchgehend geöffnet hatte. Sobald sie ihre Einkäufe in den Wagen geräumt und die Hände frei hatte, fischte sie den Apparat aus ihrer Tasche. Die Anrufer-ID zeigte lediglich die Nummer, keinen Namen.

«Johannis!»

«Daniel vom Staal, können Sie frei sprechen, Frau Johannis?», antwortete eine angenehm sonore Stimme.

Für einen Moment war Cora baff. Sie hatte Patrizias Ankündigung vom Vormittag komplett vergessen.

«Herr vom Staal, was kann ich für Sie tun?», fragte sie eine Spur zu kühl.

«Haben Sie meinen Anruf nicht erwartet? Ich rechnete damit, dass Patrizia Ihnen gesagt hat, dass wir über Sie gesprochen haben», entgegnete er mit neutraler Stimme.

Warum zum Teufel konnte er davon ausgehen, dass Patrizia ihr alles brühwarm erzählte? «Ich erinnere mich vage, dass Patty etwas in der Art erwähnte», log sie und hoffte, dass sie ihm nicht von ihrem Gespräch am Morgen berichtet hatte.

«Ich würde Sie gerne persönlich sprechen, Frau Johannis. Haben Sie heute Abend Zeit?»

Sie wusste für einen Moment nicht, was sie sagen sollte. Was wollte der alt Regierungsrat von ihr, der trotz seiner zweiundfünfzig Jahre einer der begehrtesten Männer auf dem Solothurner Heiratsmarkt für gehobene und bindungswillige Frauen war?

«Heute Abend?» Cora dachte an das Essen mit ihren Kindern, für das sie soeben eingekauft hatte. «Das kommt etwas unerwartet. Ich hatte eigentlich andere –»

«Bitte!» Vom Staals Stimmlage wurde eindringlich. «Glauben Sie mir, Frau Johannis. Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre. Es geht um Leben und Tod, und das meine ich genau so. Sie sind die Einzige, die mir weiterhelfen kann.»

«Aha!» Eine geeignetere Replik fiel ihr nicht ein. Jedenfalls machte es nicht den Anschein, dass es sich um einen von Patrizias Versuchen handelte, sie zu verkuppeln. «Dürfte ich wissen, worum es geht? So kann ich mich etwas vorbereiten.»

«Das möchte ich lieber nicht am Telefon besprechen», antwortete er bestimmt. «Sie erfahren alles Nötige heute Abend. Sagen wir um sieben Uhr bei mir?»

Der Mann war zielstrebig, das musste sie ihm lassen. «Bei Ihnen? In der Kanzlei?»

«Nein, bei mir zu Hause.»

Vom Staal bewohnte eine grosse Villa in Oberdorf. Es behagte Cora nicht sonderlich, sich für ein Erstgespräch auf nicht-neutrales Terrain zu begeben.

«Sollten wir uns nicht besser morgen irgendwo in der Stadt –»

«Frau Johannis, es ist besser, wenn wir das in einem diskreten Rahmen machen, einem sehr diskreten Rahmen.»

Cora sagte nichts.

«Ausserdem soll es Ihr Schaden nicht sein», fügte er hinzu.

Das war allerdings etwas anderes. Eine finanzielle Kompensation für die Reportage, die ihr gerade durch die Lappen ging, war höchst willkommen.

«Also gut, Herr vom Staal. Ich bin um sieben Uhr bei Ihnen in Oberdorf.»

Vom Staal klang hörbar erleichtert, als er das Gespräch beendete.

***

Vlady und Austin – erster Chat

Vlady_03: «Mist, sie ist schon zu Hause.»

AustinXXX: «Du hast gesagt, sie kommt später.»

Vlady_03: «Mann, weiss ja auch nicht. Schreib gerade die Entschuldigung für Schleimi-Hirschi, weil ich Fucking-Französisch am Freitag bei ihm schwänzte.»

AustinXXX: «Schleimi-Hirschi?»

Vlady_03: «Unser Franz-Lehrer. Alter Spannersack, guckt den Chicks nie in die Augen, dafür tiefer – du weisst schon.»

AustinXXX: «Sehenswert J?»

Vlady_03: «Geht’s dich was an?»

AustinXXX: «Komm schon, wir sind doch befreundet.»

Vlady_03: «Sicher, grad mal eine Woche.»

AustinXXX: «Immerhin.»

Vlady_03: «Und du glaubst, du kriegst deshalb gleich alles von mir zu sehen?»

AustinXXX: «Zeig dir auch gerne was von mir.»

Vlady_03: «Will ich das sehen?»

AustinXXX: «Wart’s ab. – Warum eigentlich Vlady?»

Vlady_03: «Wegen meiner Grosseltern.»

AustinXXX: «Dein Opa heisst Vladimir ☺?»

Vlady_03: «Idiot! Nein, die kamen damals aus Rumänien in die Schweiz, genauer aus Transsilvanien.»

AustinXXX: «Dracula-Land!»

Vlady_03: «Eben, Vlady – Vampir-Lady.»

AustinXXX: «Böses Mädchen?»

Vlady_03: «Musst du andere fragen.»

AustinXXX: «Tust du das, was böse Mädchen so tun?»

Vlady_03: «Weiss nicht. Was denn?»

AustinXXX: «Die schicken Pix von sich.»

Vlady_03: «Du hast ja mein Profilpic.»

AustinXXX: «Eine Fledermaus mit langen Zähnen?»

Vlady_03: «Okay, kannst mein Passfoto haben.»

AustinXXX: «LOL

Vlady_03: «Was?»

AustinXXX: «Ich will mehr.»

Vlady_03: «Mehr was?»

AustinXXX: «Mehr Haut.»

Vlady_03: «Spinnst du? Ich stell mich sicher nicht nackt ins Netz.»

---

Vlady_03: «Austin?»

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AustinXXX: «Ist sicher nicht das erste Mal.»

Vlady_03: «Was? Nicht das erste Mal?»

AustinXXX: «Sag bloss, du hast nie mit einem Jungen rumgemacht?»

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AustinXXX: «Sag schon.»

Vlady_03: «Einmal.»

AustinXXX: «Und? War’s gut?»

Vlady_03: «Geht so. Hab ihm eine geschmiert, als er an mein Höschen wollte.»

AustinXXX: «Autsch! Ich will nur ein Pic von deinem Höschen.»

Vlady_03: «Ich schick dir eins vom Wäschestapel.»

AustinXXX: «LOL! Mit dir mittendrin?»

Vlady_03: «Ich überleg’s mir, okay?»

AustinXXX: «Nicht zu lange.»

---

AustinXXX: «Hey Vlady?»

Vlady_03: «Sie will rein. Muss Schluss machen. C u!»

ZWEI

Cora hätte schwören können, aus Milas Zimmer ein Geräusch gehört zu haben. Die Zimmertür war verriegelt. Als sie ein Ohr an die Füllung gelegt hatte, drang kein Ton heraus. Der Volleyballmatch müsste zu Ende sein. Cora war sich allerdings nicht mehr sicher, wann genau Mila aus Aarau zurückkehren wollte.

Beim Einräumen der Einkäufe realisierte sie, dass es schon halb fünf war und dass sie sich beeilen musste, wenn sie noch für die Kinder das Abendessen zubereiten wollte. Ausserdem hatte sie sich vorgenommen, im Internet über Daniel vom Staal zu recherchieren, bevor sie ihm gegenüberstand. Während seiner Zeit als Regierungsrat hatte die Solothurner Politik nicht im Fokus ihrer Arbeit gestanden. Der Umstand, dass er eine Osteuropäerin geheiratet hatte, die nach knapp zwei Jahren Ehe spurlos verschwunden war, hatte sie weder beruflich noch privat sonderlich interessiert. Politisch war ihr vom Staal in keiner Weise nahegestanden.

Sie war hungrig. Nach dem ausgefallenen Frühstück, dem Verzicht auf das Kaffeegebäck beim Hofer und dem geplatzten Mittagessen war sie bisher nicht zu einer richtigen Mahlzeit gekommen. Obwohl vom Staal angeblich ein begnadeter Hobbykoch war, erwartete sie nicht unbedingt, dass er ihr einen Dreigänger servieren würde.

Kurz nach sechs war sie nahezu bereit. Sie trug ihr volles dunkles Haar offen. Vorne umrahmten zwei weisse Strähnen ihr ovales Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Sie trug Make-up und Lippenstift diskret auf und zog die Lider mit einem Eyeliner fein nach, sodass ihre bernsteinfarbenen Augen zur Geltung kamen. Je nach Lichtverhältnissen nahm in ihrer Iris ein grünlicher Schimmer überhand. Sie hatte sich für einen schwarzen Hosenanzug entschieden, der ihr trotz des gefühlt breiteren Hüftumfangs tadellos sass.

Das Timing war perfekt. Notizblock und das Handy in die Handtasche packen und weg war sie. Ein Blick auf das Display des iPhones zeigte ihr, dass sie es unbedingt aufladen musste, wenn sie nicht mitten am Abend an einem fremden Ort ohne direkte Verbindung zur Aussenwelt dastehen wollte.

Während sie nach dem Ladegerät suchte, trat eine ihr wohlbekannte Situation auf: Man glaubt, vor einer Verabredung oder einer fahrplanmässigen Zugsabfahrt genug Zeit zu haben, wenn das Unvorhergesehene eintritt. Der vermaledeite Lader war unauffindbar. Sie ging nach unten ins Wohnzimmer. Mila lümmelte auf dem Sofa vor dem Fernseher und sah sich eine Folge von «Berlin – Tag & Nacht» im Replay an. Schon auf der Türschwelle stieg Cora der süss-fruchtige Duft des Haarshampoos in die Nase, mit dem sich ihre Tochter ihr dunkelblondes Haar wusch. Die Sonne, die jetzt gerade in den Raum schien, verlieh ihm einen rötlichen Glanz.

Cora umrundete das Sofa, um sich ihr von vorne zu nähern. Mila hasste nichts mehr, als von hinten überrascht zu werden. Erst als Cora vor ihr stand, blickte sie auf und sah ihre Mutter an. Der Ausdruck in ihren grünen Augen schwankte zwischen fragend und gelangweilt. Milas Augenfarbe war die ihrer Grossmutter. Cora hatte die geschwungene Mandelform beigesteuert. Cora ging durch den Kopf, was Patrizia am Vormittag zum Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihr selbst gesagt hatte. Cosima Johannis war unerbittlich gewesen, wenn sie bei ihrer Tochter Ordnung und Disziplin durchsetzen wollte. Als Cora in Milas Alter gewesen war, flogen zwischen den beiden buchstäblich die Fetzen. Cosima war mehr als einmal die Hand ausgerutscht. Was die Johannis-Frauen aus drei Generationen gemeinsam hatten, war das Katzenhafte in ihrem Ausdruck. Coras bernsteinfarbene Augen hatten ihre Schulkameraden in Solothurn oft zu Bemerkungen verleiten lassen, die auf ihre transsilvanische Herkunft und eine mögliche Verwandtschaft mit einem berühmten literarischen Vampir anspielten.

Auf Milas Schoss lag Van Helsing, der sich schnurrend von ihr kraulen liess. Der dreijährige Keltische Kurzhaarkater war Cora vor einigen Monaten zugelaufen. Julian hatte aus gegebenem Anlass die Idee gehabt, ihm den Namen von Bram Stokers berühmtem Vampirjäger zu geben. Man könne ja nie wissen. Bisher hatte sich Van Helsings feliner Namensvetter bei der Jagd nach vierbeinigen Nagern, Vögeln und Fröschen erfolgreicher gezeigt als nach Untoten mit Fangzähnen. Mila und der grau getigerte Kater hatten sich sofort angefreundet, und zwar derart, dass Van Helsing seine Hauptlagerstätte von der Küche in Milas Zimmer verlegt hatte, dessen Unordnung seinen Bedürfnissen entgegenzukommen schien.

Sie sieht mir so ähnlich, dachte Cora, als sie Mila einen Moment betrachtete, bevor sie sie ansprach. Wenn sie nicht die Haare von Matthias geerbt hätte, könnten wir beide, bis auf den Altersunterschied, als Zwillingsschwestern durchgehen.

«Hey, Mila, wie war euer Spiel? Habt ihr gewonnen?»

Van Helsing hüpfte zu Boden und strich zur Begrüssung zweimal um Coras Beine, bevor er sich wieder auf Milas Schoss niederliess.

Milas Begrüssungsritual erschöpfte sich in einem erhobenen Daumen und einem zufriedenen Grunzen, worauf sie sich wieder dem Drama zuwandte, das sich auf dem Fernsehbildschirm abspielte.

«Gratuliere. Hast du mein Ladegerät gesehen?»

«Was soll ich mit deinem Ladegerät?», fragte Mila, ohne diesmal den Blick von den Freuden und Leiden abzuwenden, denen man sich im fernen Berlin aussetzte.

«Ich habe dich nicht gefragt, ob du es hast, sondern ob du es gesehen hast.»

«Passt nicht auf mein Android. Guck mal bei Julian nach. Der hat das gleiche iPhone wie du.»

Cora erachtete es als einen Akt der Notwehr, durch die Schubladen von Julians Schreibtisch zu gehen. Im Gegensatz zu Mila hatte Julian ihr Ordnungsgen geerbt. Er verabscheute es, seine Sachen auf dem Arbeitstisch liegen zu lassen. In der untersten Schublade wurde sie fündig. Als sie den Lader herausnahm, verhedderte sich ein Ende des lose gewickelten Kabels in einem Stapel Dokumente in der Schublade, sodass sich dieser auf dem Fussboden verteilte. Seufzend sammelte Cora die losen Blätter auf. Um die Papiere fein säuberlich zurückzulegen, musste sie die Schublade ganz herausziehen. Sie stutzte, als sie etwas sah, das offensichtlich nicht dorthin gehörte.

***

Coras alter Passat verfügte über kein Navigationsgerät. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, die entsprechende App in ihrem Handy zu programmieren. Ihr war bekannt, dass vom Staal in der Nähe des Seniorenheimes «Bellevue» in Oberdorf wohnte. Sie hatte Glück, als sie den Dorfplatz passierte und den Wegweiser «Altersheim» im letzten Augenblick bemerkte, bevor sie daran vorbei war. Sie bog rechts ab und fuhr die steil ansteigende Nebenstrasse hoch. Fast schon auf der Höhe des Seniorenheimes tauchte auf der rechten Seite eine moderne Villa im Kubusstil auf, die von einem hohen Stahlzaun eingesäumt wurde. Sie stoppte vor dem Tor und stieg aus. Über ihr bewegte sich etwas. Sie blickte hoch und sah eine Videokamera, die umschwenkte und sie mit einem rot blinkenden Auge ins Visier nahm. Cora erwartete eine metallische Stimme aus dem Nichts, die sie aufforderte, ihr Anliegen zu äussern. Stattdessen ertönte ein hohler Klang, als ob jemand einmal mit einem Hammer auf Eisen schlug. Das Tor glitt zur Seite und gab die Einfahrt frei.

Etwas verschämt parkierte Cora ihren klapprigen Passat neben einen silbergrauen Maserati GranTurismo vor einer geräumigen Garage, deren Tor offen stand. Im Abstellraum standen ein Volvo XC90 der aktuellsten Serie und ein funkelnagelneuer roter Mini Cooper. Sie fragte sich, ob vom Staal das grosse Anwesen allein bewohnte. Er konnte unmöglich alle diese Autos selbst fahren. Diese Protzigkeit war einer der Gründe gewesen, weshalb sie damals dem jungen, spritzigen Kantonsrat der Liberalen Partei ihre Stimme für die Regierungsratswahl verweigert hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Menschen in der Lage waren, die Anliegen der Bürger, die sie wählten, zu verstehen, geschweige denn, sie zu vertreten. Solche Politiker machten sie grundsätzlich misstrauisch, wobei sie sich eingestehen musste, dass sie vom Staals Geld nehmen würde, sofern es mit einem einigermassen akzeptablen Auftrag in Verbindung stand.

Als sie ausstieg, trat ein attraktiver Mann aus dem Haus und kam auf sie zu. Sie hatte Daniel vom Staal noch nie persönlich getroffen und kannte ihn nur von Bildern. Er sah in Wirklichkeit noch besser aus, wie sie sich trotz der Klischeehaftigkeit des Gedankens eingestehen musste. Sie wollte ihren Wagen abschliessen, besann sich jedoch eines Besseren. Das Anwesen war besser gesichert als manche Bank in der Region.

«Frau Johannis, herzlich willkommen und danke, dass Sie sich die Mühe machen, zu mir zu kommen.»

Ihr Lächeln blieb professionell distanziert, als sie ihm die Hand gab. «Danke, Herr vom Staal. Ich fühle mich geehrt, dass Sie mich in Ihr Heim einladen. Das ist anscheinend keine Selbstverständlichkeit, wenn ich mich hier so umsehe.»

«Beeindruckend, nicht wahr? Glauben Sie mir, ich leide nicht unter Verfolgungswahn. Die Sicherheitsmassnahmen waren vor Jahren notwendig. Aber das ist eine lange Geschichte und vorbei.» Er liess eine Hand herumschweifen. «Zumindest hält es Einbrecher ab.»

Er ging voraus ins Haus und führte sie in das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, an dessen Wänden einige Gemälde hingen. Cora konnte zwei davon Albert Anker zuweisen. Sie liebte den Maler aus dem Seeland mit seinen unvergleichlichen Porträts und Szenen aus der ländlichen Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

«Sind das Originale?», fragte sie bewundernd und sah sich die Bilder näher an. Eines zeigte das Porträt eines Mädchens, das sich die blonden Zöpfe flocht, während das andere einen Schulausflug darstellte. Eine Frau, wahrscheinlich die Lehrerin, ging umringt von einer Kinderschar über einen Feldweg.

Vom Staal machte eine entschuldigende Geste. «Meine Familie besitzt eine der grössten Anker-Sammlungen der Schweiz. Sie ist über alle Museen des Landes verteilt. Diese Stücke hier habe ich meinem Vater abgeschwatzt, weil Elisabeth sie gerne mochte.» Kaum hatte er den Namen seiner verschollenen Frau ausgesprochen, verdüsterte sich sein Blick.

Cora trat ans Panoramafenster, das einen weiten Garten mit einem grossflächigen Pool überragte. Die Aussicht war atemberaubend. Inzwischen war der Himmel von Wolken reingewaschen. Lediglich ganz im Westen zeigte er Anzeichen neuen Regens, der im Lauf der Nacht über der Gegend niedergehen könnte. Vor dem Hintergrund der in der Abendsonne rot leuchtenden Alpen hob sich der Zwiebelturm der barocken Wallfahrtskirche von Oberdorf ab. Im Westen glaubte sie hinter der ersten Alpenkette die mächtige weisse Kuppel des Mont Blanc zu erkennen. Ihr Blick schweifte über das Aaretal und das Äussere Wasseramt bis zum Oberaargau im Osten. Unten im Tal erhob sich die weisse Fassade der Kathedrale über der Solothurner Altstadt. Sie ertappte sich bei dem bösartigen Gedanken, dass es nicht verwunderlich war, wenn eine Partei, deren Exponenten so lebten, derart inhaltlich perspektivenfrei politisieren konnte. Es musste ein Naturgesetz geben, welches besagte, dass grandiose Aussichten oft den Blick zur Basis verdeckten.

Vom Staal hielt eine weitere Überraschung für sie bereit, als er sie einlud, sich an einen gläsernen Tisch zu setzen, der ohne Weiteres einem Dutzend Gäste Platz bot. Es waren lediglich zwei Gedecke aufgelegt. «Ich habe mir erlaubt, ein kleines Abendessen zu arrangieren, wenn ich Sie schon zu dieser Stunde zu mir bitte. Sie haben nicht etwa schon gegessen?»

«Nein, das trifft sich gut. Ich könnte tatsächlich etwas vertragen.»

«Erwarten Sie bitte nicht, dass ich selbst gekocht habe. Das Essen kommt von einem Catering aus Bern, das oft für mich arbeitet. Es ist ausgezeichnet und das Personal diskret.»