Alienwandler #3: Ein Feind der Menschheit

Alfred Bekker

Published by Uksak Sonder-Edition, 2017.

Inhaltsverzeichnis

Title Page

​  Alienwandler 3: Ein Feind der Menschheit

​  Copyright

​  Vorwort

​  1. Kapitel

​  2. Kapitel

​  3. Kapitel

​  4. Kapitel

​  5. Kapitel

​  Epilog

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​  Alienwandler 3: Ein Feind der Menschheit

Science Fiction Roman von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 122 Taschenbuchseiten.

Im Jahr 348 vor Christus stürzt ein Alien-Raumschiff auf der Erde ab. Ein gestaltwandelnder Außerirdischer strandet auf dem blauen Planeten. Seine Lebenserwartung beträgt Jahrtausende. Über viele Zeitalter hinweg lebt er unter den Menschen – bis die Erdbewohner sich schließlich weit genug entwickelt haben, um selbst den Weg zu den Sternen zu finden.

Aber in all dieser Zeit hat er einen Gegenspieler – ein Wesen seiner eigenen Art, das mit der Erde einen teuflischen Plan verfolgt...

––––––––

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell

​  Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.

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© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

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postmaster@alfredbekker.de

​  Vorwort

Nächtelang lauschte ich Mitte 2962 den Berichten Orik Daans, der mir in langen Nächten – oder sollte ich besser „Schlafperioden” sagen? – Episoden aus seinem erstaunlichen Leben erzählte.

Im Jahre 348 war der Nugrou-Mutant an der Küste Jütlands gestrandet. Ein Außerirdischer, der Menschengestalt angenommen hatte und sich physisch von den barbarischen Bewohnern des Tabu-Planeten Erde nur durch seine nach Jahrtausenden zählende Lebenserwartung unterschied. Zunächst kurzzeitig als Donnergott Thor verehrt, lernte der eigentlich eingeschlechtliche Nugrou mit der Germanin Gerhuld die Liebe kennen und begriff vielleicht erst jetzt, wie sehr er auch durch die biochemischen Prozesse seines menschlichen Körpers geprägt wurde. Während eines Sturms in der Ägäis verlor Orikdaan – so der Name, der ihm einst unter der blauen Sonne des Planeten Yope in der Galaxis Nyroo gegeben worden war – nicht nur seine Geliebte Gerhuld, sondern auch die letzten Reste seiner Ausrüstung, darunter einen Koffer mit Spezialwerkzeugen und einen Strahler, dessen „Blitze” ihm zunächst geholfen hatten, sich als Donnergott zu etablieren.

Jene Schiffskatastrophe überlebte Orikdaan als einziger.

Er kam an den Hof des makedonischen Königs Philipp in Pella und unterstützte Aristoteles bei der Erziehung Alexanders des Großen.

Später begleitete Orikdaan Alexander auf seinen Feldzügen. Ein Umstand, der ihm noch Jahrtausende später offenkundig Gewissensqualen bereitete. Er sah es als Fehler an, diesen von skrupellosem Machtwillen und grenzenlosem Ehrgeiz gezeichneten Despoten unterstützt zu haben. Auch Alexander strebte Gottgleichheit an – und war der Makedone nicht ein entsetzliches Zerrbild dessen, was auch Orikdaan, wenn auch unter anderen Umständen, während seines Aufenthaltes bei den Germanen an der jütländischen Küste des späteren Dänemarks versucht hatte?

„Der Unterschied lag vielleicht nur in der Zahl der Opfer, die zu beklagen waren”, erklärte Orik Daan mir gegenüber, während er eine kurze Pause in seinem Bericht einlegte.

Während Alexanders Indien-Expedition trennte er sich von dem Gewaltherrscher, der sich inzwischen in der Art eines orientalischen Gottkönigs anbeten ließ, was für seine griechischen Gefolgsleute eine Zumutung der besonderen Art darstellte. Freie Griechen, die sich vor einem Herrscher in Staub warfen? Das schien zunächst undenkbar – und doch fügten sie sich letztlich der Hybris ihres Anführers. Der für menschliche Maßstäbe unsterbliche Daan täuschte seinen Tod erfolgreich vor. Etwas, das er in den darauffolgenden Jahrhunderten noch oft wiederholen sollte, um unter den kurzlebigen Menschen nicht aufzufallen.

Daan hatte am Himmel einen abstürzenden Nugrou-Raumer gesehen, wie er von seinen Nugrou-Brüdern benutzt wurde, und folgte dessen Flugbahn nach Osten. Auf dem Gipfel des Mount Everest fand er das havarierte Schiff, dessen Energiespeicher vollkommen entleert waren, und stieß dabei auf einen anderen Nugrou. Er hieß Kertop und hatte die Gestalt eines gehörnten, rothäutigen und gelbäugigen Biiken angenommen, die er auf Grund der Tatsache, dass auch er ein Mutant war, nicht mehr zu verändern vermochte. Die äußere Erscheinung dieses Wesens, zu dessen Kennzeichen auch paarige Hufe anstatt, menschlicher oder zumindest menschenähnlicher Füße gehörten, trug, wie auch Orik Daan wiederholt mir gegenüber einräumte, sicher viel zur Formung der menschlichen Vorstellung vom Aussehen des leibhaftigen Satans bei.

Zunächst unterstützte Daan den gestrandeten Artgenossen dabei, sich Menschen untertan zu machen, aber die inhumane Vorgehensweise seines Artgenossen stieß ihn zutiefst ab, so dass es zum Zerwürfnis zwischen ihnen kam. Kertop versuchte Daan zu töten, und im Verlauf der folgenden Zeitalter trafen sie immer wieder aufeinander. Sie wurden zu Widersachern im Kampf um die Zukunft der Menschheit, wobei Kertop eine äußerst destruktive Rolle spielte. Insbesondere nachdem er erkannt hatte, dass es auf der Erde so gut wie kein Tofirit (von den Nugrou Ala-Metall genannt) gab, das die Voraussetzung war, um das havarierte Raumschiff auf dem Mount Everest wieder in Betrieb nehmen zu können, wurde Kertops Verhalten von blankem Zynismus geprägt. Daan traf ihn an der Seite Kaiser Neros, dann Jahrhunderte später zur Zeit des Hunnenkönigs Attila. Im dreizehnten Jahrhundert breitete Kertop das Reich Kublai Khans mit Hilfe einer Atombombe gen Süden aus, und Daan verhinderte unter Einsatz seines Lebens die Eroberung Japans. Damit durchkreuzte Daan Kertops Pläne nicht nur empfindlich, es schien auch so, als hätte er den ewigen Widersacher vernichtet.

Jahrhunderte lang hörte er nichts mehr von dem Gehörnten, bis sich die Hinweise verdichteten, dass er die Katastrophe seiner Flotte vor Japan wider Erwarten doch überlebt hatte und erneut aktiv geworden war.

Gerade schien sich die Menschheit aus einem tiefen Tal  emporgearbeitet zu haben. Forschung und Wissenschaft erblühten und konnten sich erstmals seit Jahrhunderten wieder aus den Fesseln des Aberglaubens befreien. Auf dem Umweg über die Schriften der Araber begann Europa sein eigenes antikes Erbe wiederzuentdecken.

Doch schnell waren die empfindlichen Gewächse des Fortschritts wieder in Gefahr. Religiöse Kriege, Seuchen, ein sich verschlechterndes, kälteres Klima, und die Rückkehr des mittelalterlichen Hexenwahns sorgten dafür, dass ganze Landstriche verwüstet wurden. In vielen zeitgenössischen Darstellungen ist der Tod als Herr der Welt gezeichnet worden, auf einem Knochenthron sitzend und mit der Sense in der Hand. Das entsprach den Empfindungen der Menschen im Deutschland des dreißigjährigen Krieges. Das Böse schien zu triumphieren, und Trost konnte allenfalls das in Kürze erwartete Nahen des Jüngsten Tages bringen.

Wie nahe diese allgemeine Empfindung doch an der Wahrheit lag, denn tatsächlich zog aus dem Hintergrund heraus ein gehörntes Wesen die Fäden, das sich darüber hinaus mit der Illuminaten-Sekte eine mächtige Geheimorganisation geschaffen hatte, deren Arme in die Spitzen der Kirche ebenso hineinragten, wie in Königshäuser und Paläste.

Kertop!

1610 kam Daan nach und nach dieser Verschwörung auf die Spur. Kertops Ziel war es, das Heilige Römische Reich und die Kirche gleichermaßen zu zerstören, um auf den Trümmern der alten Ordnung sein eigenes dunkles Imperium errichten zu können.

Mit einer Söldnerarmee unter dem Heerführer Mansfeld zog Kertop im Jahr 1626 nach Süden, um den Kaiser gefangen zu nehmen und anschließend köpfen zu lassen. Doch Daan hatte Wallenstein dazu bewegen können, sich endlich mit seinem Heer in Bewegung zu setzen und dem Feind entgegen zu ziehen, anstatt darauf zu warten, dass auch Tilly – sein Konkurrent im eigenen Lager – sich mit seinen Truppen dem Gegner entgegenwarf.

An der Dessauer Elbbrücke stellte sich Wallensteins Heer der Macht des Feindes. Die Mansfeld’schen Truppen wurden zurückgeworfen und fluteten zurück. Unter ihnen eine schwarze Kutsche, von der Daan wusste, dass sie niemand anderem als Kertop gehörte, der sich von den Mitgliedern seines Illuminat-Ordens demütig als „Dominum Potrecium“ bezeichnen ließ.

Wallenstein unterband den Beschuss mit Artillerie. Wichtiger als die Vernichtung des Verschwörers war in seinen Augen die Erhaltung der Brücke, deren Bestand er auf keinen Fall gefährden wollte – schließlich wäre sonst der weitere Vormarsch für seine Männer erheblich erschwert worden.

Daan trennte sich nun von Wallenstein und ritt mitten in das chaotische Getümmel der sich auflösenden Schlacht hinein, in der Hoffnung, Kertop doch noch stellen und vernichten zu können ...

*

Orik Daan wirkte sehr nachdenklich, als wir diese Stelle seiner Erzählung erreicht hatten. Die Aufzeichnungsfunktion meines Datenkristalls war noch immer aktiviert, aber das Schweigen Daans dauerte so lange, dass auf der Anzeige des Gerätes die Frage erschien, ob die Aufzeichnung tatsächlich fortgesetzt werden sollte, da keinerlei akustische Sprachsignale mehr empfangen würden.

„Sie haben Kertop damals in der Schlacht an der Dessauer Brücke nicht stellen können, nehme ich an“, sagte ich schließlich vorsichtig, denn wenn es anders gewesen wäre, hätte Daans Schweigen, dass ich in gewisser Weise als Ausdruck der Scham empfand, keinen Sinn gemacht.

Er nickte stumm.

Er hatte sich eine Mitschuld am Aufstieg Alexanders gegeben, doch verglichen damit lastete wohl noch viel schwerer jene Schuld auf seinem Gewissen, die er empfand, weil Kertop ohne Daans Eingreifen gar nicht in die Lage gekommen wäre, seine Rolle als Graue Eminenz, die aus dem Hintergrund heraus die Fäden spann, aufzubauen. Kertop war inzwischen zu der Ansicht gelangt, dass es für sie beide kaum eine Chance auf Rückkehr zu den Nugrou gab, und sie daher das Beste aus ihrem irdischen Aufenthalt machen sollten. Aber das, was sie jeweils darunter verstanden, war natürlich grundverschieden.

„Vielleicht denken Sie, dass Sie versagt haben, Mr. Daan – aber ich bin mir sicher, dass Sie das Möglichste versuchten, um Kertop damals auszuschalten“, sagte ich, in der Hoffnung, ihn wieder zum Reden zu bringen. Sein Schweigen beunruhigte mich, je länger es andauerte. Schließlich hatte er zu Anfang jegliche Auskunft über sein jahrtausendelanges Leben auf der Erde rundweg abgelehnt, und nur mit sehr großer Mühe sowie der Unterstützung einiger enger Freunde Daans – allen voran seinem Kollegen und Freund Professor Chris Barrington – war es mir überhaupt gelungen, ihn zu diesen Aufnahmen zu bewegen.

Ich fürchtete schon, dass dies alles möglicherweise umsonst gewesen sein konnte und Daan es sich doch wieder anders überlegte. Er, der mir zu Anfang unserer nächtlichen Sitzungen eröffnet hatte, dass die Geschichte der Menschheit in wesentlichen Punkten neu geschrieben werden müsste, wenn er mit seinen Erlebnissen an die Öffentlichkeit ginge. Er, von dem ich zu Beginn den Eindruck hatte, dass er nur um die sozialpsychologische Auswirkungen fürchtete, die es haben konnte, wenn die Menschen wussten, dass sie über viele Zeitalter hinweg unter der Beobachtung von Außerirdischen gelebt und dass manches von dem, was sie als ihre eigene Errungenschaft angesehen hatten, in Wahrheit durch Denkanstöße Fremder, auf der Erde gestrandeter Wesen entstanden war. Im Guten wie im Schlechten. Doch im Verlauf unserer Gespräche gewann ich zunehmend den Eindruck, dass ein anderer Aspekt bei der Sache viel Wesentlicher war. Im Laufe der Zeit war er jedenfalls immer mehr in den Vordergrund getreten, wie mir schien. Orik Daan hatte bis in das Jahr 2962, als seine Identität  aufgedeckt worden war, als Mensch unter Menschen gelebt, er fürchtete den Zorn jener Wesen, von denen er in all dieser Zeit nicht nur die körperliche Gestalt, sondern zu einem Gutteil auch deren Psyche und inneres Wesen angenommen hatte. Zunächst hatte ich geglaubt, dass er vielleicht den Zorn darüber fürchtete, dass er die Menschheit technisch nicht genug gefördert habe, so dass sie schneller ein fortgeschritteneres Stadium hätte erreichen können. Jetzt aber war ich zu der Überzeugung gelangt, dass er den Zorn seiner Mitmenschen – und diesen Begriff wähle ich an dieser Stelle ganz bewusst – fürchtete, weil er es nicht geschafft hatte, Kertop wirklich auszuschalten.

„Ich habe tatsächlich mein Möglichstes versucht“, sagte Daan schließlich, und ich war froh, dass er damit endlich wieder sein Schweigen brach und in seiner Erzählung fortfuhr. „Aber das war offenbar nicht genug, Mr. Vanstranger! Es war einfach nicht genug! Einem Gegner wie Kertop war ich letztlich nicht gewachsen.“

„Erzählen Sie mir, was damals an der Dessauer Brücke geschah“, sagte ich. „Reden Sie es sich von der Seele ...“

„Jahrhunderte später ist das nur noch ein bedingter Trost“, gab er zu bedenken. „Aber ich will es trotzdem tun. Jetzt bin ich schon so weit auf diesem Weg gegangen und habe Ihnen das Wesentliche meines Kampfes gegen Kertop berichtet, so will ich auch nicht vor den letzten Kapiteln zurückschrecken, nur weil mich die Erinnerung daran noch heute quält und mitunter in meinen Alpträumen heimsucht.

Ich ritt also in das Schlachtgetümmel hinein. Die Mansfeld’schen Truppen waren in heller Aufregung begriffen und fluteten zurück. Die Dessauer Elbbrücke bildete dabei das Nadelöhr. Natürlich konnten nicht alle schnell genug ans andere Ufer gelangen. Pulverdampf hing über dem Schlachtfeld. Die sich zurückziehenden Mansfeld’schen Landsknechte hatten keine Zeit, ihre Musketen und Pistolen nachzuladen. Und so schossen Wallensteins Männer sie der Reihe nach wie die Hasen ab. Es war ein furchtbares Gemetzel. Trotz der Einstellung des Artilleriefeuers, wie Wallenstein befohlen hatte, hing ein dichter Nebel aus Pulverdampf über dem Schlachtgeschehen. Die Schreie der Sterbenden und Verwundeten werde ich niemals vergessen. Sie haben sich wie tiefe Kratzer in die Oberfläche meines Bewusstseins eingegraben. Gerne werde ich nicht daran erinnert, aber bisweilen lässt es sich einfach nicht vermeiden.

Kertop hatte mit seinem düsteren Gespann die eigenen Leute rücksichtslos zur Seite gedrängt. Das Schicksal seiner Mitstreiter, jener Männer, die bereit waren für seine Ziele auf dem Schlachtfeld zu sterben, war ihm offenbar völlig gleichgültig. Er wollte sich selbst nicht in Gefahr bringen und hatte die Elbbrücke längst passiert. Ich hingegen musste mich durch das Chaos aus Wallensteins Soldaten und den zurückflutenden, völlig aufgelösten Landsknechten der Gegenseite erst einen Weg bahnen. Meine beiden selbst angefertigten Spezialwaffen waren mir dabei durchaus eine Hilfe. Ich feuerte wild um mich, nahm in meinem verzweifelten Versuch, Kertop doch noch einzuholen, keine Rücksicht auf mein eigenes Leben oder meine Sicherheit und schaffte es schließlich, mich im wahrsten Sinn des Wortes zur Brücke vorzukämpfen.

Ich erreichte auch das andere Ufer.

Auch dort herrschte das blanke Chaos.

Die Trosswagen der Mansfelder wendeten und suchten das Weite. Jeder lief um das eigene Leben und hoffte, dass die Wallenstein’schen Landsknechte nicht allzu weit nachsetzen würden, so dass  es irgendwann, vielleicht nur wenige Meilen entfernt, wieder möglich war, eine Schlachtordnung herzustellen.

In einem scharfen Ritt folgte ich der Kutsche, von der ich annahm, dass sie bei den sich erneut sammelnden Verbänden Mansfelds bleiben würde.

Hier und da traf ich auf versprengte Landsknechte, musste mich mit meinen Waffen zur Wehr setzen und erreichte schließlich eine Ebene, auf der sich das flüchtende Heer neu formierte. Man hielt mich dort für einen der ihren. Das Heer bestand schließlich aus einer zusammengewürfelten Söldnertruppe, deren Soldaten aus alle Herren Länder kamen. Dänen, Tschechen, Deutsche, Polen und auch der eine oder andere Franzose oder Engländer waren hier zu finden. Man hörte sächsischen Dialekt ebenso wie niederdeutsche Zungen oder das Friesisch der Schleswiger.

Ein einzelner Reiter fiel da nicht weiter auf.

Die Kutsche jedoch, die ich gesucht hatte, fand ich nicht.

Ich erkundigte mich bei den Soldaten und erhielt teils widersprüchliche Auskünfte. Manche wollten diese Kutsche – die auch ihnen zum größten Teil nicht recht geheuer war – in einer gänzlich anderen Richtung davonfahren sehen, als ich es bisher angenommen hatte.

Wo auch immer sie verschwunden sein mochte, ein Ergebnis meiner Suche schälte sich klipp und klar heraus: Kertop war entgegen meiner Annahme nicht bei seinem Heer geblieben.

Er hatte schnell erkannt, dass sein ursprünglicher Plan eines schnellen Durchmarsches in Richtung Prag und Wien angesichts des sich bietenden Widerstandes nicht realisierbar war. Diese Erkenntnis hatte offenbar dazu geführt, dass er umdisponiert und seine Pläne geändert hatte.

Ich hätte es wissen müssen!

Mein Pferd war beinahe zu Schanden geritten und brauchte Ruhe.

Seit den Tagen Attilas reiste ich ja normalerweise immer mit zwei Reittieren, um eine Erschöpfung der Tiere zu vermeiden und auf diese Weise schneller weiter reisen zu können. Aber bei meinem überstürzten Aufbruch von Wallensteins Heer hatte ich nur jenes Tier mitgenommen, auf dem ich saß. Auch das beschränkte meine Möglichkeiten.

In den nächsten Tagen und Wochen streifte ich in der Umgebung herum und versuchte, die Kutsche Kertops zu finden. Offenbar verfügte mein Widersacher über ein gut ausgebautes Netz an Zuträgern, Informanten und Helfershelfern, denn er hatte, wie ich herausfand, mehrfach Gelegenheit dazu, die Pferde zu wechseln.

Gedungene Meuchelmörder lauerten wiederholt auf mich – und ich kann es heute zwar nicht mehr beweisen, aber es steht für mich so gut wie außer Frage, dass Kertop sie geschickt hatte. Bei einem von ihnen fand ich ein Amulett mit dem Zeichen der Illuminati – einem Auge in einer Pyramide – und das war für mich Beweis genug.

Ich schaffte es nicht, Kertops Spur aufzunehmen. Der Krieg verwüstete insgesamt dreißig Jahre lang Deutschland. Es war nur ein schwacher Trost, dass an dessen Ende Kertops Pläne zumindest nicht zu Gänze aufgegangen waren.

Nachdem immer wieder Meuchelmörder meine Spur aufnahmen, wurde ich mehr und mehr aus der Rolle des Jägers in die des Gejagten gedrängt. Kertop – der mir noch in Kopenhagen die Teilhabe an seiner Macht angeboten hatte, wenn ich mich ihm unterwarf und als Vasall diente – schien zu der Ansicht gelangt zu sein, dass er mich jeden Preis ausschalten musste, wollte er seine Pläne von einem ganz persönlichen „Imperium Potrecium“ ungestört weiterverfolgen.

Es blieb mir als nichts übrig, als mich zurückzuziehen.

Mit Einzelheiten meines weiteren Lebenslaufes will ich Sie nicht langweilen, Mr. Vanstranger. Ich lebte eine Weile in Venedig, war Berater des Sultans in Konstantinopel, und besuchte die Neue Welt. Von Kertop hörte ich Jahrhunderte lang nichts mehr. Hier und da glaubte ich, Spuren seiner Aktivitäten zu erkennen. Sein Illuminat-Orden bildete noch immer eine mächtige Organisation. Das einzige, was sich vielleicht geändert hatte, war die Geduld, mit der Kertop nun seine Ziele verfolgte. Vielleicht hatte er inzwischen eingesehen, dass ihm zur Verwirklichung seiner Machtinteressen im wahrsten Sinn des Wortes alle Zeit der Welt blieb ...“

„Sie wollen doch wohl nicht andeuten, dass dieser Kertop noch heute unerkannt auf der Erde lebt und möglicherweise aus dem Verborgenen ...“

„Nein, nein ...“ Orik Daan schüttelte den Kopf. „Sie haben recht, ich bin es Ihnen schuldig, die Geschichte zu Ende zu erzählen und sollte mich dabei nicht länger mit Nebensächlichkeiten aufhalten ...“

„Wann begegneten Sie Kertop wieder?“

„Das war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber ich muss den Beginn meiner Erzählung ein paar Jahre früher ansetzen. Der Ort: Afrika. Übrigens benutzte ich in jenen Jahren bereits jenen Namen, den ich heute noch trage – Orik Daan.“

Wie immer lauschte ich voller Spannung Daans Schilderungen. Wieder sprach er von sich selbst in der dritten Person wie von einem Fremden – aber wie er zuvor nicht müde geworden war zu betonen, empfand er den Orik Daan der Vergangenheit auch so.

Norbert Vanstranger im Dezember 2962 an Bord der NOVA GALACTICA

​  1. Kapitel

Am Fuß des Kilimandscharo, Anno 1882

Die Mittagshitze lag schwer über dem Land am Fuße der schroff aufragenden Felsmassive, deren schneebedeckte Gipfelregion hinter einem Kranz aus grauen Wolken verborgen lag. Ein Ort, den man sich gut als geheimes Refugium von Göttern und Geistern vorstellen konnte.

Abgesehen vom Zirpen der Grillen und den Geräuschen zahlloser Insekten, die zwischen den hohen, braunen Gräsern in halbhohen Büschen herumschwirrten, herrschte absolute Stille. Eine Stille, die angesichts der Tatsache, dass diese Landschaft normalerweise voller Leben war, vollkommen unnatürlich wirkte.

In einem gewissen Umkreis schien alles, was atmete, für einige Augenblicke die Luft anzuhalten und abzuwarten, bis eine unsichtbare, namenlose Gefahr vorübergezogen war.

Madaba umfasste seinen Assegai, die speerähnliche traditionelle Jagdwaffe des Volkes der Massai. Die Entschlossenheit des Jägers stand in seinen Zügen zu lesen. Jeder Muskel und jede Sehne seines geschmeidigen und sich mit katzenhafter Eleganz bewegenden Körpers waren gespannt. Kein Laut entstand, wenn seine Füße den Boden berührten. Er wandte sich kurz zur Seite und wechselte einen Blick mit seinem Zwillingsbruder Mahenge, der diesen Blick mit einer eher ratlosen Geste erwiderte.

Mahenge und Madaba waren gerade 18 Jahre alt und auf der Jagd nach einem Leoparden, um ihre Mannbarkeit zu beweisen und in den Stand der Krieger aufgenommen zu werden. Beide Männer waren sehr schlank, von grazilem Körperbau, und gut zwei Meter groß. Sie zu unterscheiden war nahezu unmöglich, da sie beide das traditionelle rote Gewand der Massai trugen und auch ihr Kopfschmuck sich sehr stark ähnelte. Ihre Gesichtszüge jedenfalls schienen das genaue Spiegelbild des jeweils anderen zu sein.

Madaba deutete mit seinem Assegai auf den Boden zu seinen Füßen.

Für einen Europäer oder Nordamerikaner hätte es dort nicht das geringste zu sehen gegeben.

Anders für den angehenden Massai-Krieger.

Eine Spur!, sagte die Geste, die er mit dem Assegai ausführte, unmissverständlich – und sein um wenige Minuten  älterer Bruder Mahenge stimmte ihm mit einem Handzeichen zu. Für eine Unterhaltung brauchten sie keine Worte.

Keiner der beiden jungen Männer hatte auch nur den Hauch eines Zweifels daran, dass sie die Spur einer großen Raubkatze vor sich hatten.

Madaba deutete zu einem Gebüsch.

Dorthin musste der große Jäger, den die beiden Brüder jetzt zum Gejagten machen wollten, vor Kurzem gegangen sein. Größte Vorsicht war geboten. Ein Leopard hatte gute Ohren. Schon das geringste Geräusch konnte ihn warnen und davonschnellen lassen. So gute und ausdauernde Läufer die beiden Massai-Brüder auch waren – einem davonspurtenden Leoparden zu folgen, war selbst für die besten Läufer unmöglich. Die Mühe von Tagen wäre  in diesem Fall umsonst gewesen.

Die beiden angehenden Massai-Krieger näherten sich dem verdächtigen Busch. Ihre Füße verursachten dabei keinen Laut. Außerdem näherten sie sich ihrer Beute gegen den Wind, so dass diese sie schlecht wittern konnte.

Madaba erreichte den Busch vor seinem Bruder.

Er hob den Assegai – jederzeit bereit zum tödlichen Stoß.

Da brach plötzlich etwas Gewaltiges aus dem Gebüsch hervor. Etwas, das viel größer als ein Leopard war. Ein ohrenbetäubendes, kehliges Raubtierbrüllen durchdrang die unnatürliche Stille, die bis dahin geherrscht hatte. Ein Maul, das so gewaltig war, dass ein Mann vom Kopf zu den Schultern darin verschwinden konnte, öffnete sich.

Ein Löwenmännchen sprang auf den jungen Mann zu, der rückwärts taumelte.