image

Dieses E-Book ist die digitale Umsetzung der Printausgabe, die unter demselben Titel bei KOSMOS erschienen ist. Da es bei E-Books aufgrund der variablen Leseeinstellungen keine Seitenzahlen gibt, können Seitenverweise der Printausgabe hier nicht verwendet werden. Stattdessen können Sie über die integrierte Volltextsuche alle Querverweise und inhaltlichen Bezüge schnell komfortabel herstellen.

„Aggression ist ein Teil der Kommunikation eines jeden Hundes, aber auch eines jeden Menschen.“

Martin Rütter

image/S1.jpg

Zu diesem Buch

Das Thema Aggression ist in unserer Gesellschaft sehr negativ besetzt. Was wir alle aber immer wieder vergessen: Aggression ist ein Teil der Kommunikation von jedem Tier, aber auch von jedem Menschen. Sie ist biologisch notwendig und ein ganz normales Verhalten. Die Ursachen von gesteigerter Aggression sind meistens Unsicherheit, Angst, Stress oder Frustration, die aufgrund von ungeklärten Verhältnissen und/oder situationsbedingter Überforderung entstehen.

Wir bei D.O.G.S. erfahren täglich, dass Menschen mit einem Hund, der sein Aggressionspotential auslebt, von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Leider müssen wir auch immer wieder feststellen, dass es nicht nur Aggressionen von Hund zu Mensch gibt, sondern auch von Mensch zu Hund. Diese können dazu führen, dass sich der Hund Menschen gegenüber unsicher, ängstlich, panisch oder auch aggressiv verhält.

Mit Hilfe der Theorien über Aggressionsverhalten und der Kommunikation von Hunden, versucht D.O.G.S. Ursachen zu erkennen, diese an den Menschen weiterzugeben und Trainingsformen individuell abzustimmen.

Unsere Arbeit besteht darin, zwischen Mensch und Hund und zwischen Hund und Mensch zu vermitteln. Unser Ziel ist es, den Menschen zu erklären, warum ihr Hund dieses Verhalten zeigt und wie sie damit umgehen können bzw. wie sie es formen und trainieren und somit kontrollieren können.

Ein Verständnis des Hundes ist wichtig, damit der Mensch lernt, dass aggressives Verhalten in jedem von uns vorhanden ist.

Ihr Martin Rütter

image/Vorwort_gross.jpg

Aggression –
Definition und Ausprägung

image/001_Aufm.jpg

Allgemeine Definition –
was wir Menschen darunter verstehen

Das Wort Aggression wird meist willkürlich benutzt, entweder für „wütend sein“ oder für den „gegen jemanden gerichteten“ Unmut in Worten und Stimmlagen. Jemand wird als aggressiv bezeichnet, der z. B. zur Frustrationsaggression neigt, Dinge beschädigt, Türen zuschlägt oder seinen Frust am Sozialpartner oder an seinen Freunden auslässt. Aggression kann aber auch versteckt auftauchen, z. B. in der Stimme, wenn ein bestimmter Unterton benutzt wird, um sein Gegenüber zu provozieren.

Wir alle nutzen die verschiedenen Formen von aggressivem Verhalten im Alltag, die dazu dienen, Ressourcen oder Privilegien zu verteidigen, wie z. B. das Vordrängeln beim Einsteigen in einen Zug oder an der Kinokasse, oder auch den Wettstreit um Nahrungsressourcen am Buffet, wenn man z. B. einem anderen Menschen das größte oder letzte Stück Fleisch vor der Nase wegschnappt.

image/PraxisTipp.jpg

Info

Aggression

Wortursprung

aggredi (lat.) = angreifen, in Angriff nehmen

aggressio (lat.) = Angriff

Definition

„Angriffsverhalten, feindselige Handlung eines Menschen oder eines Tieres als Reaktion auf eine wirkliche oder vermeintliche Minderung der eigenen Macht, mit dem Ziel, die eigene Macht zu steigern oder die Macht des Gegners zu mindern.“ (Duden)

Das menschliche Aggressionsrepertoire

Aggressionsverhalten unterscheidet sich in erster Linie aufgrund der Motivation des Aggressors. Auch wenn die Ausprägung des Verhaltens durchaus gleich ist, kann die Motivation für das Verhalten sowohl beim Menschen als auch beim Hund aus sämtlichen Lebensbereichen kommen. Beispiele aus dem menschlichen Aggressionsrepertoire:

Man könnte die Liste ins Unendliche verlängern, denn Aggressionsverhalten zieht sich durch fast alle Funktionskreise, die unser Leben bestimmen. Wichtig ist: „Aggressionsverhalten kann in vielen Funktionskreisen als Mittel zum Zweck gezeigt werden, stellt aber selbst keinen eigenen Funktionskreis dar.“ (Schöning, 2008)

Unter Funktionskreisen versteht man „Aktivitäten und Funktionen, die der Erfüllung von Grundbedürfnissen, wie beispielsweise Brutpflege oder Nahrungserwerb, dienen.“ (Weidt, 1996)

Aggression gehört zum Leben

Aggression ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, z. T. sichert aggressives Verhalten sogar das Überleben, z. B. wenn man sich gegenüber einem Angreifer verteidigen oder aber überlebenswichtige Ressourcen gegenüber Konkurrenten sichern muss. Aggressionsverhalten dient jedoch immer einem bestimmten Zweck innerhalb eines Verhaltenskomplexes und stellt somit ein vollkommen natürliches Verhalten dar. Erst wenn Aggression zum Selbstzweck wird, nimmt sie Formen an, die unter natürlichen Lebensbedingungen nicht vorkommen würden. Zeigt ein Hund also aggressives Verhalten, um z. B. seinen Futternapf, sein Revier oder seinen Sexualpartner zu verteidigen, kann das für die Menschen, die mit diesem Hund zusammenleben, zwar sehr belastend sein und sollte auch durch gezieltes Training abgestellt werden, aber man kann keinesfalls wie von vielen Hundehaltern und -trainern oft formuliert, automatisch von einem gestörten Verhalten sprechen.

image/S._009_DSC6173.jpg

Aggression gehört zum normalen Verhaltensrepertoire der Hunde. Der Mensch muss Sorge dafür tragen, dass es für die Umwelt nicht belastend oder gefährlich wird.

Wissenschaftlich –
Aggression aus biologischer Sicht

Es gibt verschiedene Definitionen von Aggression und deren Ursachen:

Intra- und Interspezifische Aggression

Aggressionen dienen unter anderem dazu, eine räumliche Distanz zum Gegner zu schaffen und sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen. Werden die biologischen Grundbedürfnisse wie z. B. Futter, Wasser, Schlaf, Gesundheit, Sozialkontakt und Fortpflanzung nicht befriedigt, kann sich ein fehlgeleitetes Aggressionsverhalten entwickeln. Dieses kann gegen sich selbst oder durch Frustration gegen ein anderes Objekt oder Lebewesen gerichtet sein. Für jedes Lebewesen ist die Erhaltung und auch die Steigerung der biologischen Grundbedürfnisse ein Lebensprinzip. Das Erreichen dieser Ziele wird in intra- und interspezifische Aggression unterteilt. Intraspezifische Aggression bedeutet gegen Artgenossen gerichtete und interspezifische Aggression gegen Nicht-Artgenossen gerichtete Aggression.

image/003_RS.jpg

Dieser Hund zeigt territoriale Aggression und verbellt den Eindringling.

Intraspezifische / Innerartliche Aggression

Interspezifische Aggression

image/004.jpg

Er zeigt deutlich, dass er bereit ist, sein Grundstück zu verteidigen.

Kosten-Nutzen-Rechnung

Die Wichtigkeit einer Ressource, diese zu erlangen oder zu behalten, muss im Gegenzug zu den Chancen abgewogen werden, diese zu verlieren bzw. nicht zu erhalten. Es wird eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt. Das bedeutet, dass der Aggressor die Risiken des Angriffs abwägen muss, ob er also das Risiko einer evtl. Verletzung gegenüber den Chancen und der Wichtigkeit dieser Ressource eingehen will.

Die Bedeutung einer Ressource wird dabei stets individuell bewertet. So kann es sein, dass es um eine objektiv betrachtete Ressource von geringem Wert wie z. B. einen Ball eine ernsthafte Auseinandersetzung gibt, der daneben stehende Futternapf jedoch keines Blickes gewürdigt wird.

Aggression –
angeboren oder erlernt

In der Gen- und Verhaltensforschung gibt es immer wieder Untersuchungen an verschiedenen Säugetieren, die eine Klärung über angeborene und erlernte Verhaltensentwicklung bringen sollen. Es lässt sich feststellen, dass es keine völlig angeborenen Merkmale gibt, die Reaktionsnorm aber vererbt wird. Beim Hund kann sich ein Verhalten auch über interaktive Lernprozesse wie Beobachtungslernen und Gewohnheit entwickeln.

Beispiel: Die Mutter eines Wurfes Welpen ist eine unsichere und auf Menschen schlecht geprägte bzw. schlecht sozialisierte Hündin. In der Zeit zwischen der 4. und 8. Lebenswoche kommen nun Interessenten für die Welpen zu Besuch. Die Hündin schießt schon beim Ertönen der Klingel bellend zur Haustür. Die Besucher werden die ganze Zeit misstrauisch beobachtet und bei jeder schnelleren Bewegung erfolgt eine Scheinattacke durch die Hündin. Die Welpen erleben nun in dieser wichtigen prägenden Zeit das Verhalten der Hündin gegenüber fremden Menschen. Sie erlernen damit das Verhalten der Mutterhündin durch Beobachten sowie Gewohnheit. Inwieweit eine generelle Unsicherheit und dadurch entstehende Aggression bereits durch die Gene der Mutter bei den Welpen veranlagt ist, kann aufgrund der Beeinflussung durch das Zusammenleben mit der Mutter nicht mehr eindeutig abgegrenzt werden.

image/005.jpg

Amos (rechts) zeigt imponierendes Verhalten. Mit hoch erhobener Rute und nach vorne gerichteten Ohren geht er im Imponiergalopp um Gaia herum. Diese läuft beschwichtigend, mit angelegten Ohren, einen Bogen.

Imponierverhalten –
zeigen, wer man ist

Kommunikation hat immer etwas mit einem Absender und einem Adressaten zu tun. Je nachdem, wie souverän oder unsicher der Absender oder Adressat ist bzw. sich verhält, kann schon das Imponieren oder Erscheinen in einem bestimmten Terrain zu aggressiven Auseinandersetzungen führen. Beides kann als eine Provokation aufgefasst werden, muss aber nicht.

Das Imponierverhalten gehört zu den agonistischen Verhaltensweisen. Diese zeigt ein Lebewesen immer nur dann, wenn ein Artgenosse bzw. Sozialpartner das eigene Verhalten stört. Imponierverhalten kann somit als Vorstufe des aggressiven Verhaltens angesehen werden. Auch wenn Imponieren keine direkte Drohung ist, bedeutet es eine Provokation.

image/PraxisTipp.jpg

Info

Definition Imponieren

„Eindruck machen; Imponiergehabe ist ein Ausdruck zur Demonstration von hohem sozialen Status und Territorialanspruch.“ (Feddersen-Petersen, 2004)

Mimik beim Imponieren

Zum Imponiergehabe gehören

Imponierverhalten tritt in übersteigerter Form zur Selbstdarstellung bei einem hohen sozialen Status und zur Demonstration eines momentanen Territoriums auf. Es kann auch sexuell motiviert sein, dieses Verhalten findet bei Haushunden unabhängig von der Jahreszeit statt. Dies liegt darin begründet, dass Hündinnen – im Gegensatz zum Wolf – mehrmals im Jahr läufig werden. Die Regel ist eine zweimalige Läufigkeit im Jahr, je nach Hund und Rasse kann es aber auch bis zu drei- oder viermal im Jahr zu einer Läufigkeit kommen. Zudem besteht keine Beschränkung auf eine bestimmte Jahreszeit wie es beim Wolf der Fall ist. Hündinnen können zu jedem Zeitpunkt im Jahr läufig werden. Daher gibt es keine Beschränkung des Imponierverhaltens aufgrund sexueller Motivation, wozu neben dem Vertreiben von Konkurrenten auch die Sicherung eines Territoriums sowie das Erstreiten von Ressourcen für das Überleben des Nachwuchses gehört. Wenn also aus der Sicht eines sexuell stark motivierten Haushund-Rüden, ständig potenzielle Sexualpartnerinnen „greifbar“ sind, warum nicht dann auch das ganze Jahr durchgängig sexuell imponieren?

Markierverhalten

Das Markierverhalten tritt in Anwesenheit von anderen Hunden oder dort, wo grundsätzlich viele Hunde verkehren, sehr häufig auf – sprich: überall da, wo es Urin- oder Kotmarkierungen und läufige Hündinnen gibt. Es kann auch im Beisein des Menschen häufiger auftreten, als wenn der Hund alleine ist. In diesem Fall kann das Imponierverhalten durchaus auch an den Hundehalter gerichtet sein. Für unsere Hunde existieren zwar äußere Territorien (Aktionsraum), diese können aber kaum erfolgreich verteidigt werden. Keiner kann den markierten Besitzanspruch beachten, denn Hunde können nur begrenzt entscheiden, wie der gemeinsame Spaziergang mit dem Menschen aussieht. Eine geruchliche und optische Überreizung findet statt, die für viele Hunde auch zu Stress führen kann. Die Geste des Markierverhaltens, ohne dass der Hund auch nur den kleinsten Tropfen Urin absetzt, ist ebenfalls ein Ausdruck der Reizüberflutung auf unseren Spazierwegen. Aus meiner Sicht sollte ein solches Verhalten unter keinen Umständen vom Menschen gemaßregelt werden. Ich sehe hier die Menschen in der Pflicht, ihren Hund geistig anders und vor allem intensiver zu beschäftigen, so dass dieser aus der Spirale von Stress wieder herauskommen kann.

image/006.jpg

Amos markiert mit erhobenem Hinterbein an einen Baum. Sein Blick ist fixierend in Richtung eines Konkurrenten gerichtet.