{7}1

»Ich habe das Testergebnis, und es ist schlecht.«

Die Worte gingen mir nicht aus dem Kopf.

Ich saß im Schatten eines Rennprogrammhäuschens am Nordeingang der Rennbahn von Cheltenham und musterte die Gesichter der Leute, die durch die Drehkreuze hereinströmten.

Rund fünfzig Personen hatten Rennbahnverbot in Großbritannien, und nach ihnen hielt ich Ausschau, aber meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem morgendlichen Anruf meiner Schwester zurück.

»Ich habe das Testergebnis, und es ist schlecht.«

»Inwiefern?«, fragte ich bang.

»Ich habe Krebs«, sagte sie leise.

Das hatte ich befürchtet, aber trotz allem gehofft, mich zu irren.

Ich wartete schweigend. Sie würde weiterreden, wenn ihr danach war.

»Es kommt ziemlich dick.« Sie seufzte vernehmlich durch die Leitung. »Nächsten Montag OP, danach Chemotherapie.«

»Was für eine OP

»Die Gallenblase wird entfernt. Da sitzt der Krebs.«

»Kannst du ohne leben?«

{8}Sie lachte. »Ohne die Gallenblase oder ohne den Krebs?«

»Beides.«

»Ich hoffe es.« Das Lachen verschwand aus ihrer Stimme. »Die Zeit wird’s weisen. Im Moment sieht’s nicht so rosig aus. Ich habe vielleicht nur noch ein paar Monate.«

O Gott, dachte ich. Was tut man in so einer Situation? Macht man normal weiter, oder packt man die Zeit, die einem bleibt, so voll wie möglich? Im Endeffekt rissen wahrscheinlich die Behandlung und die Krankheit alles andere an sich. Wahrhaftig keine rosigen Aussichten.

Ich merkte, dass ich den Menschenstrom unbeachtet an mir hatte vorbeiziehen lassen.

Konzentrier dich, ermahnte ich mich und musterte wieder die Gesichter.

Es war Champion Hurdle Day, der erste Tag des jährlichen Cheltenham Steeplechasing Festivals, und trotz des ungastlichen Wetters wurden auf der Rennbahn hier in Gloucestershire mehr als fünfzigtausend Besucher erwartet. Alle hatten einen Schirm oder etwas wie ein Cape dabei – so konnten sich die wenigen Unerwünschten wunderbar in dem Gedränge verstecken.

Ich kannte alle mit Rennbahnverbot Belegten vom Sehen, aber mir ging es besonders um eine bestimmte Person, die unserem Nachrichtendienst zufolge heute in Cheltenham auf‌tauchen könnte.

Ein dicker Mann kam zu dem Häuschen, um ein Rennprogramm zu kaufen, und kramte in seinen Taschen nach Kleingeld. Ich setzte mich anders, weil er mir die Aussicht versperrte, und schaute nun über den Kopf des direkt vor mir sitzenden Verkäufers hinweg.

{9}Für mich, Jef‌f Hinkley, war das Alltag. Ich arbeitete als verdeckter Ermittler für die Britische Rennsportbehörde BHA. So verbrachte ich viel Zeit damit, mehr oder weniger versteckt Gesichter zu mustern auf der Suche nach denen, die auf der Rennbahn nichts verloren hatten. Denn auch wenn ihnen der Zutritt zur Rennbahn verboten war, rein wollten sie immer.

Gallenblasenkrebs.

Wie kam meine große Schwester Faye an Gallenblasenkrebs?

Faye war zweiundvierzig, zwölf Jahre älter als ich, und hatte nach dem Tod unserer Mutter, als ich acht war, deren Rolle in meinem Leben übernommen.

Ich fragte mich, ob Krebs erblich war.

Unsere Mutter war daran gestorben, aber ich wusste nicht genau, wo der Krebs bei ihr gesessen hatte. Darüber wurde weder vor ihrem Tod noch nachher gesprochen.

Ich entdeckte ein Gesicht in der Menge.

Nick Ledder, ein Exjockey, landesweit drei Jahre Rennbahnverbot wegen des Versuchs, einen anderen Jockey zu bestechen, damit er verlor. Ich sah zu, wie er seine Eintrittskarte einscannen ließ und mit hochgeschlagenem Mantelkragen und in die Stirn gezogener Schiebermütze im eisigen Wind durchs Drehkreuz eilte. An den Augen erkannte ich ihn. Es sind immer die Augen.

Aber sein Gesicht war nicht das eigentlich Gesuchte.

Nick Ledder war ein beschränkter kleiner Gauner, der nicht nein sagen konnte, als man ihm ein paar Scheine für eine Rennabsprache anbot, und er hatte seine Dummheit teuer bezahlt. Die Funktionäre würden es sicher nicht {10}gutheißen, wenn er sich trotz Bahnverbot in Cheltenham einschlich, dabei hätte er gern möglichst bald seine Lizenz zurückbekommen.

Ich ließ ihn durch, der lief mir nicht davon, und musterte wieder die Gesichter.

Meine Gedanken drehten sich um Gallenblasen. Wozu waren sie gut, wenn man auch ohne sie leben konnte?

»Jef‌f, bist du da?«, fragte eine Stimme über meinen In-ear-Kopfhörer.

»Ja, bin da, Nigel«, antwortete ich über das Mikrofon an meinem linken Handgelenk.

»Tut sich was?«

»Nein«, sagte ich. »Nur Nick Ledder ist hier, den nehm ich mir aber später vor.«

»So ein blöder Hund.«

»Und bei dir?«

»Bis jetzt nichts.«

Nigel Green war ein Kollege von mir beim BHA-Sicherheitsdienst. Er stand am Südeingang. Zwei weitere BHA-Leute kontrollierten die übrigen Zugänge, doch Nigel und ich gingen davon aus, dass unsere Zielperson am ehesten den Nord- oder den Südeingang nahm, wo der Andrang am größten war – wenn er sich überhaupt blicken ließ.

Ich musterte weiter die Gesichter und bemühte mich, nicht an Gallenblasen und Chemotherapien zu denken. Wie konnte sie nur Krebs haben?

Meine Aufgabe wäre einfacher gewesen, wenn ich die Leute, die durch die Drehkreuze kamen, nicht alle gekannt hätte. Dann hätte ich nur nach einem vertrauten Gesicht Ausschau zu halten brauchen. So aber kannte ich fast jeden {11}Vierten: Pferdebesitzer, Trainer, Jockeys oder andere Stammgäste, die ich regelmäßig zu sehen bekam. Den Job beim Sicherheitsdienst hatte ich nicht zuletzt deshalb, weil ich mir unheimlich gut Gesichter merken und sie mit Namen zusammenbringen konnte.

Ich sah Duncan Johnson hereinkommen, einen Top-Hindernistrainer, und dicht hinter ihm, ganz unverhohlen, die zwanzig Jahre jüngere Frau, mit der er gerade ein Verhältnis hatte. Von Mrs Johnson keine Spur. Sie wartete derweil wohl zu Hause in Lambourn auf John Sutton, einen jungen Stallburschen aus dem Ort, mit dem sie wie meistens den Samstagnachmittag im Bett verbringen würde, um unter anderem die Rennsportübertragungen auf Kanal 4 zu genießen.

Es war erstaunlich, was man in den Kneipen von Lambourn alles herausfinden konnte, wenn man die Augen und Ohren offenhielt. Schnüffeln gehörte zu meinen Hauptaufgaben, doch ich hatte gelernt, dabei diskret und unauf‌fällig vorzugehen, indem ich selbst kaum etwas fragte und stattdessen andere ermunterte, die Fragen für mich zu stellen.

Duncan Johnson entschwand aus meinem Gesichtsfeld, und die Stöckelschuhe der Geliebten klackten in niemand täuschendem Fünf-Schritte-Abstand auf dem Asphalt hinter ihm her.

Was für eine Galle speicherte die Gallenblase?

Im Internet hatte ich noch nicht nachsehen können, da Faye mich im Hotel angerufen hatte, als ich schon auf dem Sprung zur Rennbahn gewesen war. Ich würde das nachholen.

Der Menschenstrom lichtete sich, da das erste Rennen bevorstand und die meisten Leute zeitig gekommen waren, um {12}davor noch etwas zu essen, ein Bier zu trinken und in Ruhe ihre Wetten zu platzieren. Nur diejenigen, die vom Verkehr aufgehalten worden waren, hasteten jetzt noch durchs Drehkreuz und hielten schnurstracks auf die Wettannahme und die Tribüne zu.

»Und ab!« Die Lautsprecheransage zum Start des ersten Festivalrennens rief wie immer tosenden Beifall beim gespannten Publikum hervor.

Vielleicht war der Krebs zeitig genug entdeckt worden.

Ich wusste, dass Faye sich nach Weihnachten wegen Schmerzen im Unterleib hatte untersuchen lassen. Sie war allerdings davon ausgegangen, es seien wieder einmal Nierensteine.

Was hatte sie heute Morgen gesagt? Mir bleiben vielleicht nur noch ein paar Monate. Aber Faye nahm immer gern das Schlimmste an.

Die Zeit würde es weisen – auch das hatte sie ja gesagt.

Da ich wieder mit den Gedanken woanders war, hätte ich ihn beinah verpasst.

Gerade als das Rennen unter dem Jubel des Publikums in die rasante Schlussphase ging, rauschte die Zielperson durchs letzte Drehkreuz, als wollte sie den Einlauf noch mitbekommen. Roter Schal um Hals und Mund, verbeulter, feuchter Filzhut, tief über die Ohren gezogen. Verräterisch waren wieder die Augen.

»Volltreffer«, sagte ich ins Mikrofon. »Er ist da. Ich häng mich dran.«

Ich verließ das Programmhäuschen und wieselte mit rund zehn Metern Abstand hinter ihm her.

Er lief an den Verkaufsständen des Zeltdorfs vorbei und {13}hielt zielstrebig auf das Gedränge rechts zwischen Führring und Tribüne zu, als hätte er etwas Bestimmtes im Sinn. Vielleicht, so unsere Vermutung, war er mit jemandem verabredet, aber warum dann hier und nicht irgendwo im stillen Kämmerchen, wo es sicherer gewesen wäre?

Plötzlich blieb er stehen und drehte sich nach mir um.

Verdammt!

Ich ging, ohne zu verlangsamen, an ihm vorbei, und statt ihn anzusehen, sah ich auf das iPhone in meiner Hand.

Ich wusste, er würde mich nicht erkennen.

Ich hatte mich am Morgen in meinem Hotelzimmer ja kaum selbst im Spiegel erkannt. Meine Kollegen zogen mich zwar ständig damit auf, aber ich war überzeugt, dass es für Beschattungen am besten war, wenn der Verfolgte nicht wusste, wie ich eigentlich aussah. Deshalb verkleidete ich mich jedes Mal, färbte meinen Lockenschopf oder setzte Perücken und diverse mit Latexkleber angebrachte Gesichtsbehaarungen ein.

Eine gute Verkleidung lenkt die Leute von den Augen ab. Bot man ihnen einen anderen Blickfang, erinnerten sie sich vielleicht daran, aber nicht an die Person hinter der Maske.

Dieses Mal trug ich einen gepflegten Ziegenbart und kragenlanges dunkles Haar unter einer braunen Wollmütze, dazu einen blassgrünen Anorak über einem marineblauen Pullover und einem grauen Hemd sowie eine blaue Chinohose. Ich wollte bewusst nicht wie jemand vom »Establishment« aussehen, musste aber auch in der Umgebung aufgehen.

Ich ging zwanzig Schritte weiter, blieb stehen und wandte mich halb um. Ich hielt mir das Handy ans Ohr, als würde ich telefonieren, machte aber gleichzeitig mit dem Daumen {14}auf dem Touchscreen heimlich zwei Fotos von der Zielperson.

Er setzte sich wieder in Bewegung, und ich stand da und unterhielt mich mit niemandem auf dem Handy, als er direkt an mir vorbeiging. Ich wartete einen Moment, ließ ihm zehn, fünfzehn Meter Vorsprung, dann folgte ich ihm am Buchladen und am Süßwarenstand vorbei zum Centaur Centre und dem Tattersallring an der Tribüne.

Wir bewegten uns gegen den Strom der Menschen, die nach dem Rennen jetzt von der Tribüne kamen und zum Absattelring für den Sieger wollten.

Die Zielperson drängte sich in den Strom hinein und tankte sich so energisch durch, dass ich Mühe hatte, an ihm dranzubleiben.

Wegen einer Gruppe athletisch gebauter, angetrunkener Zocker, die zu sechst nebeneinander liefen und mich grölend hin und her schubsten, hätte ich ihn beinah aus den Augen verloren.

»Was hastes denn so eilig, Mann?«, fragte einer, der mich nach hinten stieß. »Rangdevu, oder was?«

Er lachte herzlich über sein Witzchen, und ich tauchte unter seinem erhobenen Arm durch, als er sich noch einen Schluck Bier genehmigte. Wie konnte man bloß nach dem ersten Rennen schon halb betrunken sein?

Ich suchte in dem Gewimmel der Köpfe vor mir nach einem verbeulten Filzhut.

Wo war er hin?

Verzweifelt stürzte ich voran und lief beinah von hinten in die Zielperson hinein, die durch das Gedränge am Engpass unter der Hall of Fame aufgehalten worden war.

{15}Beruhige dich, ermahnte ich mich.

»Hast du ihn noch, Jef‌f?«, fragte Nigel.

»Ja«, sagte ich leise in meinen linken Ärmel.

»Brauchst du Hilfe?«

»Ja«, antwortete ich.

»Wo?«

»Unter der Brücke zur Hall of Fame.«

»Bin unterwegs«, rief Nigel.

In diesem Moment verschwand die Zielperson in einer Bar unter der Tribüne.

»Jetzt ist er in der Winged Ox Bar«, gab ich Nigel durch.

»Okay«, kam die Antwort. »Bin in einer Minute da.«

Vor jeder Theke in der Bar stand eine Menschenschlange, aber die Zielperson wollte offensichtlich nichts trinken. Sie schob sich durch das Gewühl und trat auf die nun beinah leeren Aussichtsstufen hinaus.

In der überfüllten Bar war ich dicht hinter ihm gewesen, aber jetzt ließ ich mich etwas zurückfallen, um ihn nicht auf mich aufmerksam zu machen.

Er blieb einen Augenblick stehen, bewegte den Kopf hin und her, als suche er etwas, dann ging er die Stufen hinunter.

Was wollte er hier? Ihm musste doch klar sein, dass er mit einer Reaktion der Rennsportbehörde zu rechnen hatte, wenn er sich mit jemandem auf einer Rennbahn traf.

Ich trat auf die Aussichtsstufen und schaute hinunter.

Die Zielperson hielt rasch auf die Reihen der Buchmacher zu, die unter ihren Schirmen mit den Firmennamen dem Regen trotzten.

Hatte er vor, mit einem Buchmacher zu reden?

{16}Nigel Green stieß zu mir.

»Das ist unser Mann«, sagte ich, »der mit dem roten Schal.«

Die Zielperson war etwa zwanzig Meter von uns entfernt, und während wir sie beobachteten, zog sie die Hand aus der Manteltasche. Die Hand war nicht leer.

»Messer! Messer!«, rief ich laut und rannte die Stufen hinunter.

Der Wind verwehte meine Rufe, und ich konnte nur untätig zusehen, wie die Zielperson geradewegs zu einem der Buchmacher ging und ihm den Hals aufschlitzte. Ohne jede Vorwarnung, ohne jedes Wort, ein glatter Schnitt durch die ungeschützte Haut des Buchmachers, die sich sofort tiefrot färbte.

Es ging so schnell, dass selbst diejenigen, die direkt danebenstanden, erst begriffen, was passiert war, als der Buchmacher mit dem Gesicht auf den nassen Asphalt knallte und ihm das Blut aus der Halswunde schoss.

Die Zielperson entfernte sich mittlerweile raschen Schrittes an der Buchmacherzeile entlang und wich anderen Rennbahnbesuchern aus, auch den ersten, die zum Ort des Geschehens liefen, wo eine Frau laut losgeschrien hatte.

Ich folgte weiter der Zielperson, während Nigel nach dem Opfer sah.

Deshalb war er also gekommen. Nicht, um mit jemandem zu sprechen, sondern um jemanden zu ermorden.

Bei den gutbesuchten Imbissbuden am Ende der Tribüne bog er rechts ab und ging den Hang hinauf Richtung Südausgang. Ich setzte ihm nach, ohne noch auf Unauf‌fälligkeit bedacht zu sein.

{17}Er drehte sich um, sah, wie ich mich am Hamburgerstand vorbeidrängte, und rannte los.

Ich lief hinterher und sah, dass auch jetzt noch Zuschauer durch die Drehkreuze strömten.

Der Mann am Ausgang neben den Drehkreuzen wollte die Zielperson nicht hinauslassen. Er verlangte die Eintrittskarte, um sie für den Wiedereinlass zu scannen.

Inzwischen war ich nur noch ein paar Schritte entfernt, da hob die Zielperson den Kopf und sah mich an.

Er geriet in Panik und zog das Messer mit der noch rotverschmierten Klinge hervor.

»Zurück«, brüllte er und fuchtelte mit dem Messer herum. »Alle zurück.«

Ich trat einen oder zwei Schritte zurück, andere wesentlich weiter.

»Geben Sie auf«, sagte ich zu ihm. »Hier kommen Sie nicht raus.«

»Machen Sie das Tor auf«, befahl die Zielperson ungeachtet der beiden kräftigen Polizisten, die auf der anderen Seite erschienen waren und von denen einer hektisch in sein Sprechfunkgerät sprach. »Machen Sie das verdammte Tor auf!« Er war verzweifelt.

Der Pförtner hätte ihm nur zu gern gehorcht, brachte aber vor lauter Hast und Nervosität das Schloss nicht auf.

»Stellen Sie sich«, rief ich, doch er fuchtelte nur umso heftiger mit dem Messer in meine Richtung.

Ich trat noch ein paar Schritte zurück.

Weitere Polizisten erschienen, für die Zielperson gab es kein Vor und kein Zurück, sie umklammerte den bedauernswerten {18}Pförtner mit dem linken Arm und bedrohte ihn mit dem Messer in der Rechten.

»Machen Sie das Tor auf, sonst bringe ich ihn um.« Das Messer lag dicht am Hals des Pförtners.

»Wenn Sie ihn freilassen, öffnen wir das Tor«, rief ein Polizist von draußen.

»Nein«, schrie die Zielperson zunehmend panisch. »Machen Sie erst das Tor auf.«

Diese aussichtslose Situation dauerte an, bis schließlich einer der neu hinzugekommenen Polizeibeamten vortrat und die Zielperson mit einer Elektroschockpistole anschoss.

Der Getroffene ging sofort zu Boden, sein Körper zuckte unkontrolliert unter der Einwirkung des viele tausend Volt starken Stromschlages. Zwei weitere Polizisten nahmen ihm vorsichtig das Messer ab, bevor sie seine Arme auf den Rücken drehten und ihm massive Handschellen anlegten.

{19}2

»Was sind Sie bloß für Schwachköpfe!«

Nigel und ich saßen auf einem Bett in unserem Hotel und bekamen von unserem unmittelbaren Vorgesetzten, Paul Maldini, Einsatzchef des BHA-Sicherheitsdienstes, den Kopf gewaschen.

»Sie sind Unwin dicht auf den Fersen, und der kann hingehen und am helllichten Tag jemanden umbringen, während Sie dabeistehen!« Pauls Stimme wurde lauter und schriller, und er fuchtelte nach Art seiner italienischen Vorfahren mit den Armen.

Nigel und ich hielten lieber den Mund.

Es hätte nichts genützt, darauf hinzuweisen, dass wir beide nicht einfach nur still dagestanden hatten, als Matthew Unwin dem unglücklichen Buchmacher Jordan Furness die Gurgel durchschnitt. Oder dass alles so schnell ging, dass wir ihn auch nicht hätten aufhalten können, wenn wir unmittelbar neben ihm gestanden hätten. Oder dass die Polizei Unwin nur so schnell gefasst hatte, weil ich ihm nach der Tat auf den Fersen geblieben war.

Nigel und ich wussten, dass Paul seinem Ärger wie schon öf‌ter nach schiefgelaufenen Einsätzen »Luft machen« musste.

»Und wer hatte denn die blödsinnige Idee, ihn nicht gleich am Eingang festzuhalten?«

{20}Nigel und ich schauten uns an. Wenn uns nicht alles täuschte, hatte Paul selbst dafür plädiert, Unwin auf die Rennbahn zu lassen, damit wir sehen könnten, wen er dort treffen wollte. Aber jetzt war offensichtlich weder die Zeit noch der Ort, darauf hinzuweisen.

Und wer konnte schon sagen, ob der Mann dann nicht auf uns eingestochen hätte?

Während Paul Maldini über meinen Kopf hinweg polterte, dachte ich an den Vortag zurück. Der Nachmittag und Abend hatte weitgehend Detektivsergeant Galley von der Polizei Gloucestershire gehört, mit dem ich Matthew Unwins kurzen Auf‌tritt auf der Rennbahn wiederholt in allen Einzelheiten durchgegangen war.

Vor allem hatte ihn interessiert, wieso Nigel und ich mit Unwins Erscheinen gerechnet hatten.

»Einer unserer Analysten hat einen Tipp von einem CHIS bekommen.«

»Einem CHIS

»Ein geheimer Informant.«

»Und der wäre?«

»Das weiß ich leider nicht.« Ich war sicher, dass er mir nicht glaubte, aber ich wusste es wirklich nicht.

Allerdings wusste ich, dass der Informant als sehr zuverlässig galt. Alle beim Sicherheitsdienst eingehenden Informationen wurden nach Herkunft von A bis D und nach Qualität von 1 bis 5 eingestuft. Eine A1-Information wurde praktisch als Tatsache angesehen, alles unter C3 blieb als bloßes böswilliges Gerede unberücksichtigt. B2 war guter Durchschnitt, aber in diesem Fall hatte der Auswerter die Information mit A2 bewertet. Handeln war angesagt.

{21}»Mr Hinkley, können Sie mir sagen, weshalb Mr Unwin in Cheltenham Rennbahnverbot bekommen hat?«, hatte der DS gefragt.

»Auf allen Rennbahnen, nicht nur in Cheltenham. Im Januar ist er für acht Jahre von allen lizenzierten Rennbahnen verwiesen worden.«

»Weshalb?«

»Er war Turf‌trainer, und bei Pferden auf seinem Hof wurden verbotene Substanzen nachgewiesen. Die Tiere waren gedopt.«

»Acht Jahre kommen mir ziemlich hart vor.«

»Es geht. Er hätte bis zu fünfundzwanzig Jahre bekommen können. Nach Meinung vieler in der Rennwelt ist er eher glimpf‌lich davongekommen.«

»Jetzt spielt das sowieso keine Rolle mehr«, hatte der Kriminalbeamte gesagt. »Nach dem kleinen Auf‌tritt heute kommt er für wesentlich mehr als acht Jahre hinter Gitter. Haben Sie irgendeine Ahnung, weshalb er Mr Furness angegriffen hat?«

»Nein«, hatte ich erwidert, »aber es war ganz sicher kein Zufall. Ich konnte sehen, wie er ihn gesucht hat.«

Paul Maldini fluchte noch eine halbe Stunde lang über unsere Unfähigkeit, aber da hörte ich ihm schon längst nicht mehr richtig zu. Ich kannte das zur Genüge und wusste, er würde sich wieder beruhigen. Im großen Ganzen machte er seine Sache ziemlich gut, nur die Wutanfälle musste er meiner Meinung nach besser in den Griff bekommen.

Immerhin warf er uns nicht raus.

Im Gegenteil, am zweiten Festivaltag schickte er Nigel und mich erneut auf die Rennbahn.

 

{22}Alle redeten vom Mord an dem Buchmacher, aber eher, weil er das Programm durcheinandergebracht hatte und das letzte Rennen wegen Dunkelheit verschoben werden musste, als aus Mitgefühl für den Mann.

»Bin ich froh, dass es nicht heute passiert ist«, hörte ich jemanden sagen. »Des einen Leid, des anderen Freud.« Das ausgefallene Rennen sollte vor dem planmäßigen ersten Lauf am zweiten Tag nachgeholt werden.

Die Anteilnahme für den ermordeten Buchmacher hielt sich also trotz seines gewaltsamen Todes in Grenzen.

»Er hat’s wahrscheinlich verdient«, meinte eine tweedbekleidete Frau in der Arkle Bar, und die Umstehenden nickten beifällig.

Über den Täter, Matthew Unwin, wurde zwar nicht so viel geredet, dafür wurde ihm aber deutlich mehr Mitgefühl entgegengebracht.

»Den hat man dazu getrieben, den Ärmsten«, meinte ein Standinhaber im Zeltdorf.

»War sicher vollkommen verzweifelt«, gab ihm seine schmollmundige Kundin recht und schüttelte den Kopf.

Ich wanderte mit offenen Augen und Ohren durch die Zuschauerbereiche. Und ich war unverkleidet, ganz ich selbst, nicht zuletzt, weil ich wegen Paul Maldinis Standpauke keine Zeit gehabt hatte, mich »zurechtzumachen«.

Von Amts wegen hatte ich auf allen achtundfünfzig offenen britischen Rennbahnen überall Zutritt, auch zur Jockey-Umkleide und zu den königlichen Logenplätzen. Doch statt dem »BHA: Uneingeschränkter Zutritt«-Schlüsselband, das mich als »Amtsperson« ausgewiesen hätte, trug ich lieber ein »Besitzer«-Ansteckschildchen aus Pappe, mit {23}dem ich genauso überall hinkam, allerdings mit dem Vorteil der Anonymität. Wenn mich ausnahmsweise einmal jemand fragte, welches mein Pferd sei, sagte ich einfach, ich gehöre zu einer Besitzergemeinschaft, und der Fragesteller verlor augenblicklich das Interesse.

Ich verfolgte das nachgeholte Rennen von der Tribüne für Besitzer und Trainer, wo die Gerüchteküche wieder einmal brodelte.

»Hast du schon von Peter und Marianne gehört?«, fragte eine Dame hinter mir ihren Begleiter. »Trennung auf Probe nennen sie das, aber ich weiß genau, dass er mit einem seiner Stallmädchen pennt. Hoffentlich zieht Marianne ihm das Fell über die Ohren.«

»Lorne Taylor, seh ich, ist schon wieder schwanger«, sagte ein Mann zu meiner Rechten. »Das ist dann das Sechste. Wie viele Kinder wollen die, Herrgott noch mal?«

»Von Trevor hab ich gehört, dass Hot Target kastriert werden und als Hurdler zu Lawrence Ford kommen soll. Ein Jammer, dass er nur mit Platzpatronen schießt.«

Ich nahm das alles wie ein Schwamm in mich auf. Man konnte nie wissen, welche Information sich irgendwann als nützlich erweisen würde.

»Meinen Sie, wir siegen?«, fragte eine aufgeregte Besitzerin den Mann hinter ihr, einen mittelprächtigen Trainer aus Lambourn.

»Er hat eine reelle Chance«, sagte der Trainer zurückhaltend. »Kommt drauf an, wie gut er springt.«

Das fragliche Pferd sprang ganz gut, kam am Schlussberg aber aus der Puste und landete auf einem achtbaren fünf‌ten Platz in dem Zwölferfeld.

{24}»Vielleicht nächstes Mal«, tröstete der Trainer die sichtlich enttäuschte Besitzerin, als sie ihren Schützling absatteln gingen.

Ich schlenderte zum Buchmacherplatz hinüber.

Irgendjemand hatte dort mit einem Hochdruckreiniger gewirkt, von dem erst vor vierundzwanzig Stunden vergossenen Blut war nichts mehr zu sehen. Der einzige Unterschied zu vorher war, dass jetzt der Schirm mit der Aufschrift Jordan Furness in der Runde fehlte. Nicht, dass man aus Respekt eine Lücke gelassen hätte – die anderen Buchmacher waren einfach alle eins weitergerückt.

Der Detektivsergeant hatte mich immer wieder gefragt, ob ich mir denken könnte, warum Matthew Unwin Furness umgebracht hatte.

»Fragen Sie ihn doch selbst«, hatte ich geantwortet. »Vielleicht hat er ihm Geld geschuldet.«

Aber Mord war schon ein drastisches Mittel, um sich vorm Schuldenbezahlen zu drücken.

Ich dachte an den Fall zurück, der zu Unwins Disqualifizierung und seinem Rennbahnverbot geführt hatte. Nach einem anonymen Hinweis an die BHA waren mehrere Pferde aus seinem Stall positiv auf verbotene leistungssteigernde Substanzen getestet worden.

Lag da der Grund? War es Rache?

Aber warum sollte ihn ausgerechnet ein Buchmacher verpfeifen?

Das Klingeln meines Handys unterbrach meine Gedanken.

»Hallo?«

»Jef‌f? Hier ist Quentin.«

{25}Quentin ist mein Schwager, Fayes Mann.

»Tag«, sagte ich. »Tut mir leid, das mit Faye zu hören.«

»Ja«, antwortete er. »Es sieht nicht allzu gut aus, aber sie ist eine Kämpferin und weiß sich zu wehren.«

»Gut.«

»Eigentlich rufe ich aber aus einem anderen Grund an. Ich brauche deine Hilfe.«

»Ja, klar. Wobei?«

»Ich muss etwas ermitteln lassen, und du bist doch Ermittler.«

»Ich ermittle aber nur im Galopprennsport«, sagte ich.

»Hör zu, ich kann dir das nicht alles am Telefon erzählen. Kannst du mal bei mir vorbeikommen?«

»Schlecht. Ich bin bis Freitag in Cheltenham.«

»Samstagmorgen wäre ideal.« Quentin konnte sehr hartnäckig sein.

»Na gut«, sagte ich. »Ich freu mich auf dich und Faye.«

»Kein Wort davon zu Faye«, sagte er scharf. »Sie hat im Moment genug eigene Sorgen. Ich möchte nicht, dass sie damit behelligt wird.«

»Okay«, antwortete ich etwas besorgt. »Um elf dann?«

»Komm um neun«, sagte er entschieden. »Ich hab um halb elf eine Telefonkonferenz.«

Das war’s mit meinem herbeigesehnten Ausschlafen. Aber wie hätte ich nein sagen können? Und ich hatte ohnehin vorgehabt, Faye am Wochenende zu besuchen.

»Okay«, sagte ich wenig begeistert. »Dann treff ich mich um neun mit dir und bleib danach eine Weile bei Faye.«

»Sag Faye nichts von der Ermittlung«, herrschte er mich erneut an.

{26}»Hör zu, Quentin«, gab ich ebenso schroff zurück, »noch habe ich nicht zugesagt, überhaupt irgendwas für dich zu ermitteln, und ich weiß auch nicht, ob ich das mache. Aber am Samstagmorgen um neun bin ich bei dir.«

Ich legte auf.

Wie brachte mein Schwager es nur immer fertig, dass ich mich von meiner schlechtesten Seite zeigte? Oder war es umgekehrt? Jedenfalls waren wir noch nie gut miteinander ausgekommen.

Er war rund zehn Jahre älter als meine Schwester und bereits zweimal verheiratet gewesen, als er Faye an einem Sommertag im Sturm eroberte, nachdem sie sich mit zweiunddreißig fast schon damit abgefunden hatte, unverheiratet zu bleiben.

Quentin Calderf‌ield war ein angesehener Rechtsanwalt, von seinen Anwaltskollegen schlicht QC genannt, und Faye war eine Bürogehilfin in seiner Kanzlei gewesen. Er verfügte über ein enormes Selbstbewusstsein, war es gewohnt, sich durchzusetzen, und wer sich mit ihm stritt, zog meist den Kürzeren.

Quentin hatte einen rasanten Aufstieg zum Queen’s Counsel, einem Anwalt der Krone, hinter sich, so dass er inzwischen korrekterweise auch QCQC genannt wurde. Sein Vater war ein bedeutender Richter und Gründungsmitglied des UK Supreme Court gewesen, nachdem er zuvor als oberster Revisionsrichter im House of Lords gesessen hatte. Ein ähnlicher Weg zur Spitze seines Fachs wurde auch von Quentin erwartet, zumindest war es seine eigene Erwartung, und kaum jemand bezweifelte, dass er es schaffen würde.

Ich wanderte die Buchmacherzeilen rauf und runter, {27}war aber in Gedanken zu sehr bei Quentin und seiner gewünschten Ermittlung.

Er kennt doch haufenweise Ermittler, dachte ich. An den Gerichten wimmelt es davon. Warum muss ich es also sein? Am Samstag würde ich es sicher erfahren.

 

Die übrige Woche in Cheltenham war relativ ereignisarm, und nachdem ich zugesehen hatte, wie Electrode, ein von Duncan Johnson trainiertes Pferd, zum zweiten Mal den Gold Cup holte, stieg ich am Freitagabend in den übervollen Zug nach London.

Matthew Unwin war am Donnerstagmorgen vors Amtsgericht gebracht, des Mordes an Jordan Furness angeklagt und in Untersuchungshaft genommen worden.

Auf der Rennbahn hatte es Spekulationen über Unwins Geisteszustand gegeben, doch die Polizei ging wohl von einem klaren Mordfall aus. Ein Kriminalbeamter hatte mich angerufen, ich müsse an dem Termin nicht teilnehmen, würde aber meiner unterschriebenen Aussage wegen bestimmt noch als Zeuge der Anklage geladen, sofern sich Unwin nicht schuldig bekannte.

Der Zug fuhr um kurz nach acht in den Bahnhof Paddington ein, von dort nahm ich die Bakerloo Line zur Willesden Junction und ging die letzten paar hundert Meter zu unserer Wohnung in der Spezia Road zu Fuß.

»Bin wieder da!«, rief ich beim Aufschließen.

»In der Küche«, kam die Antwort.

Lydia Swif‌f‌in, seit vier Jahren meine Freundin, stand in einer gestreif‌ten Schürze vor dem Herd und rührte in einem Topf auf der Wärmeplatte.

{28}»Gute Fahrt gehabt?«, fragte sie und drehte sich zu mir, um sich einen Kuss abzuholen.

»Na ja. Zu viele Betrunkene, die schief gesungen haben.«

»Keine Chance auf ein Nickerchen?«

»Nicht die geringste. Und bei dir? Wie war dein Tag?«

»Ganz okay. Zwei Anbieter haben Kaufangebote angenommen.« Sie lächelte. »Was heutzutage ja nichts heißt. Die Provision habe ich erst in der Tasche, wenn der Vertrag unterschrieben und die erste Anzahlung überwiesen worden ist.«

»Gratuliere trotzdem. Ich geh auspacken.«

»Dein Essen ist in fünf Minuten fertig. Ich hab leider schon.«

Ich brachte meine Tasche ins Schlafzimmer.

Vor unserer zweiten gemeinsamen Weihnacht hatten wir diese Erdgeschosswohnung in einem ehemaligen Einfamilienhaus gekauf‌t, das zwei Familien beherbergte, uns und ein italienisches Ehepaar mit Baby im ersten Stock.

Es war ein wahrer Freudentag gewesen, als ich Lydia damals über die Schwelle in unser erstes gemeinsames Zuhause trug, aber mittlerweile fühlte ich mich etwas eingesperrt.

Unsere Beziehung funktionierte immer noch gut, aber ich wusste, dass Lydia und auch unsere Eltern fest mit einer baldigen Heirat rechneten. Ich hatte sogar einen Zettel gefunden, auf dem Lydia ihre Unterschrift als »Lydia Hinkley« geübt hatte.

Mir dagegen machte die Aussicht aufs Heiraten eher Angst. Das war zu langfristig, zu dauerhaft. Ich musste an den Witz über die drei Stufen der Sexualität denken: Erst kommt der Haussex, da hat man Sex im ganzen Haus, dann {29}der Schlafzimmersex, da gibt’s ihn nur noch im Bett, und schließlich der Flursex, da beschränkt sich das Sexuelle auf flüchtige Begegnungen im Flur und ein gegenseitiges »Leck mich!«

Lydia und ich befanden uns wohl schon im zweiten Stadium. Vorbei war’s mit dem spontanen, leidenschaftlichen Gerangel auf dem Küchentisch oder dem Wohnzimmerboden. Sogar das Vögeln unterm Sternenhimmel war dahingegangen wie der Mond.

Vielleicht passiert das eben, wenn man in die Dreißiger kommt.

Ich kam zurück in die Küche und setzte mich an besagten Tisch.

»Was hast du gemacht, während ich weg war?«, fragte ich.

»Nicht viel«, erwiderte Lydia. »Tagsüber gearbeitet, abends ferngesehen.«

Sie stellte einen Teller Vollkornnudeln mit Pesto vor mich.

Im Zug hatte ich überlegt, wir könnten vielleicht zum Inder in der Harrow Road gehen, aber Lydia war auf einer ihrer endlosen Diäten, da schieden Curryspeisen von vornherein aus.

Irgendwie machten wir so was nicht mehr oft.

»In einer halben Stunde kommt ein Film, den ich sehen möchte«, sagte Lydia, als sie den Topf ausspülte. »Der erste Teil kam gestern Abend und war richtig gut.«

Ich hätte zu gern gesagt, dass ich mir unter Vergnügen etwas anderes vorstellte als freitagabends vorm Fernseher zu hocken. Hol das kleine Schwarze raus, hätte ich ihr am liebsten gesagt, heute Abend lassen wir’s im Westend krachen, wir trinken zu viel, tanzen bis zum Morgengrauen, {30}und auf der Rückfahrt im Taxi fallen wir übereinander her. Alles Sachen, die wir schon gemacht hatten.

»Wer spielt mit?«, fragte ich.

»Jack Sherwood, so ein neuer Typ. Er ist gut und sehr sexy.«

Ich fragte mich, ob sie mich noch sexy fand.

»Möchtest du was trinken?«, fragte ich. »Wie wär’s mit Wein?«

»Für mich nicht, ist tabu. Aber nimm du dir doch ein Glas.«

Warum nicht?, dachte ich. Vielleicht betrink ich mich sogar. Wenn das auf lange Sicht auch nichts besser oder einfacher machte.

»Morgen fahre ich zu Faye«, sagte ich.

»Das hast du schon am Telefon erzählt. Wie geht’s ihr?«

»Sie freut sich nicht auf Montag.«

»Das kann ich mir vorstellen. Sonst was Neues?«

»Nein. Ich hab Gallenblasenkrebs recherchiert, viel Hoffnung macht das nicht. Die Überlebenschancen sind nicht gerade groß.«

»Ach herrje«, sagte Lydia. »Das tut mir sehr leid.«

Ich seufzte. »Hoffen wir, dass sie es früh genug entdeckt haben. Ich nehme an, morgen erfahre ich mehr.«

»Soll ich mitkommen?«

»Das wäre toll, aber Quentin will noch etwas anderes mit mir besprechen. Deswegen soll ich schon um neun da sein.«

Sie verzog das Gesicht. An Wochenenden blieben wir beide gern lange im Bett. Da fand schließlich aktuell auch der Großteil unseres Sexlebens statt.

{31}»Fahr du um neun. Ich komm dann später, wenn du mit Quentin gesprochen hast.«

Lydia verstand sich mit Quentin auch nicht besonders. Aber wer tat das schon? Wenn man sein Leben lang in der konfliktgeladenen Atmosphäre arbeitet, die an britischen Gerichten herrscht, gewöhnt man sich vermutlich an, jeden als Gegner zu begreifen. Das half ihm bestimmt, Fälle zu gewinnen, Freunde aber wohl weniger.

Wäre er nicht mit meiner kranken Schwester verheiratet gewesen, hätte ich mir auf gar keinen Fall ein Schäferstündchen entgehen lassen, um mit ihm über eine Ermittlung zu sprechen, die ich ohnehin nicht zu übernehmen gedachte.

{32}3

Lydia schaute ihren Film, und ich ging ins Arbeitszimmer, wie ich unser zweites Schlafzimmer inzwischen nannte. Lydia hingegen bezeichnete es immer als Kinderzimmer.

Ungefähr zum zehnten Mal sah ich Gallenblasenkrebs im Internet nach.

Je nachdem, welche Webseite man heranzog, gab es vier oder fünf Stadien, aber keins davon hörte sich vielversprechend an. Der einzige Hoffnungsschimmer war vielleicht, dass die Entfernung der Gallenblase nur in den frühen Stadien der Krankheit in Betracht gezogen wurde. Gleichwohl lebten selbst von den Patienten mit im ersten Stadium festgestelltem Krebs nur fünfzig Prozent noch mehr als fünf Jahre, und die meisten im zweiten Stadium starben innerhalb von sechs Monaten.

Es war deprimierend.

Ich versuchte, es positiv zu sehen, und sagte mir, dass die anderen fünfzig Prozent durchkamen, dass also trotz Fayes Untergangsstimmung am Telefon einer Fif‌ty-f‌if‌ty-Wette nichts im Weg stand.

Dann loggte ich mich in den Hauptrechner der BHA ein und sah mir die Akte zum Fall Matthew Unwin an.

Sechs Pferde aus seinem Stall waren positiv auf das Stimulans Dexedrin getestet worden.

{33}Er hatte behauptet, keine Ahnung zu haben, wie die Droge verabreicht worden war, und vor dem Disziplinarausschuss der BHA ausgesagt, jemand, der ihm Geld abpressen wollte, müsse sie den Pferden verpasst haben. Unwin hatte dem Ausschuss jedoch weder den Namen des Betreffenden nennen noch einen einzigen Beweis für seine Behauptung vorlegen können.

Ungeachtet seiner hartnäckig wiederholten Unschuldsbeteuerungen wurde er für schuldig befunden, ein verbotenes Stimulans verabreicht zu haben, und für acht Jahre vom Rennsport ausgeschlossen.

Detektivsergeant Galley von der Kripo Cheltenham hatte die Acht-Jahres-Sperre ziemlich hart gefunden, und in Anbetracht der geringen Mengen Dexedrin, die bei den sechs Pferden nachgewiesen wurden, hätte man ihm recht geben können.

Doch es war nicht Matthew Unwins erstes Dopingvergehen gewesen. Drei Jahre zuvor war ein Pferd von ihm positiv auf das verbotene Diuretikum Lasix getestet worden, und nach seinem Geständnis hatte man ihn für die Zukunft verwarnt.

Dummer Kerl, dachte ich. Er hatte eine zweite Chance bekommen und sie vertan. Jetzt würde er im Gefängnis schmachten. Aber für wie lange? Lebenslänglich war selten wörtlich zu nehmen. Bei ihm lief es wohl auf mindestens zwölf Jahre hinaus. Fünfzehn vielleicht. So oder so war er im Rennsport erledigt.

Aber er war schon vor der Messerattacke erledigt gewesen.

Rennpferde zu trainieren ließ sich mit keinem anderen Beruf vergleichen.

{34}Der Galopprennzirkus war zur tagtäglichen Beschäftigung geworden, und auch die Pferde daheim bedurf‌ten ständiger Pflege.

Auf das morgendliche Training folgte typischerweise ein Nachmittag auf der Rennbahn und danach ein langer Abend am Schreibtisch mit dem Durchgehen der Nennungen und dem übrigen Papierkram, ganz abgesehen von der stundenlangen Fahrerei zu den Rennbahnen und zurück. Die Frau eines Trainers hatte mir mal erzählt, dass sie ihren Mann immer zum Pferderennen begleitete, nicht weil sie unbedingt jeden Tag dabei sein wollte, sondern weil sie lediglich auf den Fahrten dazu kam, mit ihrem Mann zu reden. Doch dank des Mobiltelefons hatte sich das jetzt auch erledigt.

Ein Trainer war nicht nur Arbeitgeber und »Chef« eines Heers von Pflegern, Trainingsreitern und anderen Angestellten, sondern zugleich der respektvolle und höf‌liche Mitmensch, dem Pferdebesitzer ihre teuren Lieblinge anvertrauten.

Matthew Unwin hätte auch nach Ablauf seines Rennbahnverbots sicherlich nie wieder das Vertrauen von Pferdebesitzern erlangen können. Acht Jahre Rennbahnverbot bedeuteten im Grunde lebenslänglich.

Ich ging die Unwin-Akte auf dem Computer komplett durch.

Ganz unten auf Seite zweiundzwanzig des Protokolls seiner Anhörung vor dem Disziplinarausschuss war als mildernder Umstand notiert, dass Unwins fünfzehnjähriger Sohn wegen einer als Kleinkind erlittenen Hirnhautentzündung lernbehindert war, dass seine Ehe kürzlich zerbrochen war und dass ohne seine Trainingseinkünf‌te Haus und Ställe {35}wahrscheinlich an die Bank fallen würden. All das hatte den Ausschuss nicht daran gehindert, ihm die Trainerlizenz zu entziehen.

Vielleicht hatte er einfach gedacht, er habe nichts mehr zu verlieren.

Ich suchte in den BHA-Dateien nach Jordan Furness.

Buchmacher werden im Gegensatz zu Pferden, Besitzern, Trainern, Jockeys, Agenten, Jockeydienern, Rennställen, Rennbahnen und Pferdeschwimmbecken, die sämtlich der Aufsicht der BHA unterstehen, vom Glücksspielamt registriert und lizenziert. So war über das Opfer von Unwins Angriff nichts zu finden. Erfasst war allerdings ein Lee Furness als ehemaliger Stallangestellter bei Matthew Unwin.

War das nun ein Zufall, oder was?

 

Ich nahm den Zug nach Richmond-on-Thames, und Quentin erwartete mich vor dem Bahnhof.

»Ich möchte das lieber nicht zu Hause besprechen«, sagte er. »Gehen wir einen Kaffee trinken.«

Wir gingen in ein Café in der Brewers Lane, nicht weit von Quentins und Fayes Haus, und setzten uns ein gutes Stück vom Fenster weg.

»Also«, sagte Quentin, als wir unseren Kaffee bekommen hatten, »du musst etwas für mich erledigen, und zwar ganz im Stillen. Es muss wirklich vollkommen diskret passieren.«

»Nun mal langsam«, sagte ich etwas gereizt. »Ich arbeite für die BHA. Ich ermittle nur in Rennsportangelegenheiten.«

Es war wie König Knuts Versuch, die Flut zurückzuhalten.

»Das weiß ich doch alles«, meinte er obenhin, »aber du {36}gehörst zur Familie, und das musst du jetzt wirklich mal für mich machen. – Und für Faye«, fügte er einen Augenblick zu spät an. »Gerade jetzt.«

»Worum geht’s?«, fragte ich.

»Um Kenneth«, sagte er und schaute sich um, ob auch niemand unsere Unterhaltung mithörte. »Der Dummkopf hat sich offenbar ein bisschen Ärger eingehandelt.«

Kenneth war Quentins dreiundzwanzig Jahre alter Sohn. Nicht von Faye, sondern aus einer früheren Ehe. Mein Stiefneffe. Ich hatte ihn ein paarmal bei Familientreffen gesehen, kannte ihn aber nicht näher.

»Was für Ärger?«, fragte ich.

»Er ist festgenommen worden.«

»Weswegen?«

»Verurteilt ist er noch nicht, bis jetzt jedenfalls.« Quentin war ziemlich aufgeregt, etwas, das ich bei meinem überaus selbstbeherrschten Schwager nicht erwartet hatte.

»Weswegen?«, fragte ich noch einmal.

Erneut vergewisserte er sich, dass die Bedienung nicht in der Nähe war, und antwortete leise: »Besitz einer gefährlichen Droge mit Verkaufsabsicht.«

»Oh«, sagte ich. Das hörte sich für mich durchaus nach mehr als nur einem bisschen Ärger an. »Ist er schuldig?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Quentin schnell. »Kenneth hat mir geschworen, dass er reingelegt worden ist. Die Drogen sind in seiner Wohnung deponiert worden, und ein sogenannter Freund von ihm lügt der Polizei was vor.«

»Was für Drogen?«, fragte ich.

»Crystal Meth. Der Freund behauptet, Kenneth hätte ihm welches verkaufen wollen.«

{37}»Und du rechnest damit, dass Kenneth schuldig gesprochen wird?«

Er seufzte. »Wenn die Geschworenen dem Freund glauben, ja. Wir müssen nachweisen, dass das Rauschgift deponiert worden ist oder der Freund lügt.«

»Kann die Polizei das nicht feststellen?«

»Der Mann hat sich in Luft aufgelöst, er ist spurlos verschwunden. Aus seiner Wohnung ausgezogen, Handynummer geändert, weg. Und die Polizei glaubt ohnehin, dass Kenneth da nur Mist erzählt. Für die ist das erledigt. Sie sind von seiner Schuld überzeugt.«

Vielleicht ja zu Recht.

»Kann sich Kenneth vor dem Amtsgericht nicht einfach schuldig bekennen und ein Bußgeld zahlen? Das ist heutzutage doch wohl keine so große Sache mehr.«

Quentin sah mich mit einiger Verachtung und mehr als einem Hauch von Ärger an.

»Ich sehe, es war Zeitverschwendung, mich an dich zu wenden. Du begreifst offensichtlich die Lage nicht.«

»Erklär sie mir.«

»Zunächst mal ist es mit einer Geldstrafe nicht getan. Der Fall ist ans Staatsgericht verwiesen worden, und Kenneth kommt bei einer Verurteilung definitiv ins Gefängnis. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Er macht zurzeit sein Anwaltspraktikum. Mit einer Haftstrafe kann er das vergessen, seine Karriere wäre am Ende, er würde niemals als Anwalt zugelassen.«

»Hast du keine Kontakte bei der Polizei, über die du erreichen kannst, dass noch einmal neu ermittelt wird?«

»Meinst du, das hätte ich nicht versucht, Herrgott noch {38}mal?! Aber da ich hauptsächlich als Verteidiger am Old Bailey arbeite, habe ich mich bei der Polizei nicht gerade beliebt gemacht, und der Leiter des Strafverfolgungsdiensts hat mir im Stillen schon geraten, meine Nase nicht in Sachen zu stecken, die mich nichts angehen.« Verblüfft fragte ich mich, ob es Tränen waren, was ich da in seinen Augen sah. »Eine Katastrophe ist das«, sagte er erbittert. »Und wahrscheinlich kann ich deshalb niemals Richter werden, Berufungsrichter oder irgendwas in der Liga werde ich jedenfalls im Leben nicht mehr.«

Aha, dachte ich, daher weht der Wind.

»Kannst du dir vorstellen, wie das für die Presse aussähe? Herr Richter Calderfield, dessen Sohn wegen vorsätzlichen Handels mit einer gefährlichen Droge einsaß, verhandelte heute den Fall eines Drogenhändlers. Die würden sich nicht mehr einkriegen.«

»Weiß Faye von all dem?«, fragte ich.

»Nein. Gott sei Dank. Bis jetzt konnte Kenneth verhindern, dass es nach außen drang. Er dachte, das verläuft sich, die Sache wird fallengelassen. Aber bei der Anhörung letzte Woche gab der Strafverfolgungsdienst bekannt, dass er mit der Aussage des verdammten Freundes genug Material für eine Verurteilung in der Hand zu haben glaubt. Der Prozess ist für Juni angesetzt.«

Quentin sah unglücklich aus. Ihm war klar, dass der rasanten Erfolgsfahrt des QCQC-Expresses eine Vollbremsung bevorstand und dass die nächste Generation vielleicht gar nicht erst auf die Schienen kam.

»Was soll ich denn nun eigentlich für dich tun?«, fragte ich.

{39}Er sah mir ins Gesicht.

»Such den Scheißfreund, der bei der Polizei ausgesagt hat, und weis nach, dass er lügt.«

»Und wenn er nicht gelogen hat?«

Quentin sah mich erneut an. »Dann kauf ihn. Biete ihm ein paar hundert Pfund, damit er seine Aussage zurückzieht.«

Leicht gesagt.

 

Ich trank noch einen Cappuccino, während Quentin allein nach Hause fuhr.

»Wir sollten nicht zusammen dort auf‌tauchen«, hatte er unnötigerweise erklärt.

Ich rief Lydia an.

»Ich will gerade los«, sagte sie.

»Dann warte ich auf dich. Ich bin in einem Café in der Brewers Lane, du weißt schon, die Abkürzung vom Bahnhof zu Faye, die wir manchmal nehmen.«

»Ich weiß.«

»Gut, dann bis gleich.«

Während ich meinen Cappuccino abkühlen ließ, kauf‌te ich an der Ecke schnell eine Racing Post. Die las ich normalerweise auf meinem Tablet, aber das hatte ich dummerweise zu Hause vergessen.

Der Samstag nach dem Cheltenham Festival fiel für mich immer etwas ab, da die besten Pferde alle an den vier Tagen zuvor gelaufen waren, aber immerhin gab es noch fünf Rennveranstaltungen in Großbritannien und zwei in Irland. Und da in beiden Ländern fünfundzwanzigtausend Rennpferde trainiert werden, herrschte an Pferden kein Mangel.

{40}Die britische Rennsportindustrie kennt keine Pause.

Mit einer Handvoll Ausnahmen finden tagtäglich irgendwo im Vereinigten Königreich mindestens zwei Rennmeetings statt, und am zweiten Weihnachtsfeiertag können es allein in England bis zu zehn sein.

Die Zeitung blickte jedoch hauptsächlich auf die vergangenen vier Tage zurück und brachte auf der Titelseite ein Foto von Electrode beim letzten Sprung zu seinem Gold-Cup-Sieg. Im Innenteil waren noch mehr Fotos, auch eins von Duncan Johnson und seiner Frau, beide herzlich lächelnd, im Absattelring für den Sieger. Schon jetzt boten die Buchmacher nur 6:1 dafür, dass das Pferd im nächsten Jahr den Hattrick schaffen würde.

Ich fragte mich, ob die derzeitige Mrs Johnson dann wohl noch dabei war.

Während ich wartete, las ich den Rennsportteil und die Klatschspalten. Für meinen Job musste ich über alles, was auf der Rennbahn oder um sie herum geschah, auf dem Laufenden sein.

Lydia kam gegen zehn, und wir gingen gemeinsam um die Ecke zu Fayes und Quentins herrlichem dreigeschossigem Stadtpalais mit Blick auf den Richmond Green. Als Spitzenanwalt war QCQC nicht schlecht bei Kasse.

»Allzu lange sollten wir nicht bleiben«, meinte Lydia auf dem Weg zur Haustür. »Nicht, dass es für Faye anstrengend wird.«

»Finde ich auch. Bleiben wir eine halbe Stunde oder so.«

Faye sah, als sie uns aufmachte, ganz und gar nicht wie jemand aus, der gegen eine lebensbedrohende Krankheit ankämpft. Sie war gut gelaunt, das Make-up makellos unter {41}den gestylten braunen Locken, und sie trug ein schickes blaues Kleid mit weißem Gürtel und weiße Schuhe.

»Hallo, ihr Lieben«, rief sie und breitete die Arme aus. »Rein mit euch. Q sagte mir, ihr kämt vielleicht.«

Sie umarmte uns beide und bugsierte uns durch den Flur in die geräumige Küche.

»Kaffee?«, fragte sie. »Oder was Stärkeres?«

Es war zehn nach zehn am Vormittag.

»Kaffee«, sagte Lydia, und ich nickte. »Klingt gut.«

Wir sahen zu, wie Faye mit ihrer tollen schwarz-chromsilbernen Maschine drei Tassen dampfenden Kaffee mit schaumig-weißer Milch zubereitete.

»Instantkaffee kann ich nicht ausstehen«, sagte sie. »Nichts geht über richtige Bohnen.«

Wir setzten uns an den Küchentresen und tranken in kleinen Schlucken, ohne über das zu reden, was uns so sehr beschäftigte.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte Lydia schließlich.

»Prima«, sagte Faye. »Das ist ja das Schlimme. Meistens geht’s mir richtig gut. Ich kann gar nicht glauben, dass ich was habe, aber die verdammten Ärzte behaupten es. Und jedenfalls freue ich mich nicht auf Montag.«

»Nein«, fiel mir nur ein. »Welches Krankenhaus?«

»Das Royal Marsden.«

»Wie lange bleibst du dort?«

»Drei, vier Tage, vielleicht auch fünf. Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Auf den Chirurgen, denke ich mal.«

»Was genau wird er tun?«, fragte Lydia.

»Mir ein bisschen was rausschneiden«, sagte sie mit einem {42}gezwungenen Lächeln. »So nehm ich vielleicht endlich mal ab.«

Wir lachten nicht.

»Wenn ich Glück habe«, meinte sie, »entfernt er nur meine Gallenblase. Das heißt, wenn der Krebs nicht durchgebrochen ist. Sonst muss er vielleicht noch mehr rausnehmen. Darüber möchte ich am liebsten gar nicht nachdenken.« Sie holte tief Luft. »Aber ich krieg’s nicht aus dem Kopf.«

»Warum hast du die OP nicht schon letzte Woche machen lassen, als du Bescheid bekommen hast?«, fragte ich.

»Ich habe auf den richtigen Arzt gewartet. Er war auf irgendeiner Konferenz in den Staaten. Am Sonntag kommt er anscheinend zurück, deshalb war Montag der frühestmögliche Termin. Da mir die Klinik gesagt hat, es lohne sich, auf ihren besten Mann zu warten, habe ich das getan. Ich hoffe nur, es war richtig.«

Faye verlor völlig die Fassung. Sie ließ die Schultern sinken und war den Tränen nahe.

»Es tut mir leid«, sagte sie unnötigerweise.