Juliane Breinl

Graue Wolken im Kopf

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Juliane Breinl hat Klinische Linguistik studiert und war lange Jahre als Sprach – und Stimmtherapeutin tätig. Seit 2012 ist sie hauptberuflich freie Autorin und arbeitet auch als Sprechtrainerin, Dozentin für kreatives Schreiben und Stimmbildnerin. Sie ist Siegerin des zweiten Kinder- und Jugendbuch-Wettbewerbs des Arena Verlags, des Münchner Merkurs und der Literary Agency Michael Meller, hat zwei Kinder und lebt in München.

 

 

 

Zu diesem Titel stehen Unterrichtserarbeitungen
zum kostenlosen Download zur Verfügung

 

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Originalausgabe
1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2017
© 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Clara Nagel unter Verwendung von
Bildmaterial von © Plainpicture und Carla Nagel
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80654-9

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Für Antonia

1
Tiziana

»Ich fühlte mich wie aus dünnem Glas. Bis zum Platzen mit Leere angefüllt. Druck. Von allen Seiten. Ich drohte zu zerbrechen. Deshalb bewegte ich mich nicht.«

Der Aufschlag zischte flach über das Netz und beinahe hätte der Abwehrblock der Gegner ihn nicht mehr erwischt.

»Macht sie fertig!«, hörte Tiziana ihre Freundin Vivian rufen. Ihre glockenhelle Stimme war unverkennbar. Ob sie schon lange zuschaut?, fragte Tiziana sich und winkte ihr. Vivian stand seitlich des Spielfelds, mitten in den gegnerischen Fans, die ihren Zwischenruf jetzt mit einem Pfeifkonzert beantworteten.

Mit dem Handrücken wischte sich Tiziana über die Augen. Der Schweiß brannte, sie zwinkerte und Lea pritschte nun den Ball auf die linke Seite – ihre Seite. Tiziana sprintete über die Angriffslinie, setzte fest die rechte Ferse auf, während ihre Arme nach hinten schwangen. Dann sprang sie mit beiden Beinen ab und ihr rechter Arm schnellte wie eine Peitsche nach vorne. Sie traf den Ball mit voller Kraft und wusste, das war der Siegtreffer … wenn er über das Netz ging.

»Shit«, schrie sie im nächsten Augenblick.

»24 zu 24«, verkündete der Ansager. Ihr Schmetterball war vom obersten Rand des Netzes abgeprallt. Heiß schoss Tiziana das Blut ins Gesicht, sie ballte die Fäuste und spürte, wie sich ihr Herz kurz zusammenzog. Loser!, verfluchte sie sich selbst.

Nun hatten die Gegner Aufschlag. Der Ball landete glücklicherweise im Aus und so führte Tizianas Mannschaft wieder mit einem Punkt. Sie nestelte nervös an ihrer kurzen Hose. Der Aufschlag war bei ihnen, und wenn sie den in einen Treffer verwandelten, war das Spiel entschieden. Gespannt sah sie Gesine zu, wie sie den Ball mindestens sieben Mal auf den Boden prallte. Dann warf sie ihn hoch, ihre rechte Hand zielte nach vorne, mit links schlug sie zu und keine der Gegnerinnen konnte diesen Schlag parieren. Aus Tizianas Kehle löste sich ein lauter Schrei und schon lagen sich alle sechs Spielerinnen in den Armen. Sieg mit 26 zu 24 für Tizianas Mannschaft.

»Yeah! Ich wusste doch, dass ihr gewinnt!« Vivian kam auf das Spielfeld gelaufen und strahlte.

»Nur mit Glück!«, sagte Tiziana atemlos und versuchte ungeduldig, den Gummi aus ihrem Pferdeschwanz zu ziehen. »Beinahe hätte ich uns alles versaut. Autsch!« Ihre Kopfhaut brannte.

»Hey, willst du dich skalpieren?!«, rief Vivian und löste das braune Haarknäuel auf Tizianas Kopf mit zwei Handgriffen.

»So ein Mist«, fluchte Tiziana noch einmal, während sie sich die schmerzende Kopfhaut massierte. »Keine Ahnung, was mit mir los war. Dabei war ich heute eigentlich richtig gut drauf. Hättest mich mal in den ersten beiden Sätzen sehen sollen. Ich hab einen Punkt nach dem anderen geholt.«

»Sei doch einfach happy, dass ihr gewonnen habt!« Vivian legte ihr den rechten Arm um die Schulter.

Die Spannung in Tizianas Körper ließ nach und sie musste lachen. »Hast ja recht. Mein Schmetterball hätte nur einfach so ein cooler Siegtreffer werden können … Aber egal. Ich dusche schnell und dann können wir los, okay?«, sagte sie und trabte Richtung Umkleiden.

Zehn Minuten später war Tiziana wieder da. Ihre nassen, langen Haare trug sie jetzt offen und die große Sporttasche hatte sie geschultert. Auf ihrer anderen Schulter hing ein Kamerarucksack.

Vivian und Lea warteten im Gang auf sie. »Kommt ihr mit ins Nuvola?«, fragte Lea und cremte sich noch schnell die Hände ein. Den Rest der Creme verteilte sie im Gesicht. »Wir wollen unseren Sieg feiern.«

»Ich bin zwar keine Volleyballerin, komme aber trotzdem supergerne mit!«, hörte Tiziana Vivian antworten.

Was soll das denn jetzt?, dachte sie. Will Vivian etwa einen Rückzieher machen? Wir wollten heute doch endlich mit unserem Projekt beginnen.

»Sorry, wir müssen erst noch was Wichtiges erledigen«, mischte sie sich ein. »Aber vielleicht kommen wir nach. Je nachdem, wie lange Vivi und ich brauchen.«

Bevor Vivian noch etwas sagen konnte, zog Tiziana sie mit sich nach draußen. Sie blinzelte gegen die helle Sonne und eine warme Brise strich ihr über die Haut. »Zum Glück war es in der Halle nicht so heiß«, sagte Tiziana und sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier. »Um diese Uhrzeit treffen wir garantiert jemanden im Park.«

Vivian legte ihren Kopf schräg und sagte mit deutlich hörbar ironischem Unterton: »Na prima, dann lass uns an unserem freien Samstagnachmittag in den Park latschen und dort nach Opfern suchen.«

Tiziana blieb stehen und sah Vivian an. Irgendwie hatte sie schon befürchtet, dass Vivian wieder rummeckern würde. »Wir haben ausgemacht, dass wir uns heute deshalb treffen!«, sagte sie. »Hättest dich ja nicht für das Projekt melden müssen, wenn du gar keinen Bock darauf hast.«

»Ach Tizia, das Thema hatten wir doch schon. Ich mache ja mit. Aber deshalb muss ich nicht in Begeisterungsstürme verfallen, oder?«, antwortete Vivian und schwenkte auf ihr derzeitiges Lieblingsthema um, ihren Rollerführerschein. Während sie den großen Stadtpark ansteuerten, erläuterte sie Tiziana in allen Einzelheiten den Inhalt ihrer ersten Theoriestunde. »Ich schlage drei Kreuze, wenn ich die Theoretische geschafft habe. Nur dummes Auswendiglernen von langweiligen Verkehrsregeln. Aber auf meine erste praktische Stunde freue ich mich saumäßig!«

Tiziana versuchte, Vivian zuzuhören, hielt aber gleichzeitig Ausschau nach einem möglichen Kandidaten für ihr Projekt. »Wie wäre es mit dem?«, unterbrach sie Vivians Ausführungen und deutete auf einen Mann, der beim Ententeich saß.

»Okay, den nehmen wir«, sagte Vivian und setzte sich seufzend in Bewegung.

Bis auf den ungepflegten rotblonden Bart, der gut ein Dreiviertel seines wettergegerbten Gesichts versteckte, sah ihr erstes Opfer ganz zivil aus. Er schien nicht besoffen zu sein, seine Klamotten waren sauber und Tiziana nahm auch keinen strengen Geruch an ihm wahr. Flüsternd raunte sie Vivian ins Ohr: »Vielleicht geht unser erstes Interview ja voll easy über die Bühne.« Dann wandte sie sich dem Mann zu: »Entschuldigen Sie, ich bin Tizia und das ist Vivi. Wir gehen in die zehnte Klasse der Wilhelm-Busch-Realschule und arbeiten gerade an einem Projekt. An einer Fotostory. Dabei geht es um Leute wie Sie, die auf der Straße leben.«

»Auf der Straße? Klingt ungemütlich. Ich bin fast nur im Park – zumindest solange es warm ist«, antwortete der Bärtige und zwinkerte Tiziana zu. Seine buschigen Augenbrauen vollführten dabei kleine Hüpfer. »Und was wollt ihr von mir?«

»Dürfen wir Sie befragen?«

»Warum nicht. Dann muss ich nicht so viel arbeiten!«

Er lachte heiser und Tiziana kapierte erst einen Augenblick später, dass er einen Witz gemacht hatte, und lachte angestrengt mit. Vivian verzog keine Miene und richtete direkt und in einem nicht gerade freundlichen Tonfall, wie Tiziana fand, ihre erste Frage an ihn: »Mögen Sie den Park?«

»Sehr. Schöne Bänke. Sauber. Gute Luft.«

»Und schlafen Sie auch hier im Freien?«

»Ja. Um mich herum soll es weit sein. Frei. Keine Decken, keine Wände. Freier Himmel. Geschlossene Türen und Fenster – da krieg ich Panik.«

Tiziana sah ihn interessiert an. Dass den Mann etwas ängstigen konnte, war schwer vorstellbar. Er hatte die Statur eines Bären!

»Hatten Sie mal eine Wohnung?«, stellte Vivian schon die nächste Frage und Tiziana hatte Sorge, dass ihre forsche, fast unfreundliche Art zu fragen, den Bärtigen verärgern könnte.

Der nickte aber nur bestätigend und sagte: »Ich war mal ganz normal.« Wieder lachte er sein heiseres Lachen.

»Wie kommt es, dass Sie keine Wohnung mehr haben?«, wollte Vivian jetzt wissen.

»Du willst wirklich wissen, warum ich Penner bin?«

»Ähm, na ja«, sagte Vivian und sah Tiziana Hilfe suchend an.

»Ja, genau das interessiert uns. Wir wollen verstehen, warum Sie jetzt auf der Straße leben«, sagte Tiziana und lächelte dem Mann aufmunternd zu.

»Verheiratet, mit Kiosk, Wohnung und Wohnwagen. Plötzlich wurde Regina krank. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ratzfatz ging das. Acht Jahre ist das her.«

Der Mann starrte schweigend an Tiziana vorbei in die Ferne und strich sich dabei fortwährend über den Bart, sodass ein schabendes Geräusch zu hören war. Vivian war verstummt, und gerade als Tiziana anmerken wollte, dass ihr das mit seiner Frau leidtäte, öffnete er in Zeitlupentempo den Mund und erzählte weiter. Seine Stimme klang jetzt monoton, fast ein bisschen roboterhaft. »Nach der Beerdigung … Ich fühlte mich wie aus dünnem Glas. Bis zum Platzen mit Leere angefüllt. Druck. Von allen Seiten. Ich drohte zu zerbrechen. Deshalb bewegte ich mich nicht. Ging nirgendwohin. Nicht zum Arbeiten, keine Freunde treffen. Einfach rumliegen und gegen die Decke starren. Still halten. Ich war ein Jahr lang wie tot.«

Seine Augen, die aussahen, als hätte man sie zu einem fast transparenten Hellblau verdünnt, fixierten Tiziana eindringlich. Sie schluckte und sah zu Boden.

»Also, weil der Tod Ihrer Frau Sie so fertiggemacht hat, konnten Sie nicht mehr arbeiten und haben alles verloren?«, hakte Vivian nach und schrieb wieder geschäftig mit.

»So kann man das auch sagen«, antwortete der Mann und begann wieder, über seinen Bart zu streichen.

»Haben Sie einen Lieblingsplatz im Park?«, schaltete sich Tiziana ein. »Wir würden Sie gerne dort fotografieren, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Wir sind schon an meinem Lieblingsplatz«, sagte er und Tiziana sah, dass seine Augen einen feuchten Glanz bekamen. »Sonntags haben Regina und ich oft hier gesessen.« Er deutete auf die grüne Parkbank, auf der er saß, dann wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen und Tiziana spürte, wie auch ihr fast die Tränen kamen. Sie räusperte sich und sagte: »Vivian, dann setz du dich doch dazu und ich fotografiere euch beide.«

Vivian zog ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Lass mich lieber fotografieren«, sagte sie. Den leicht piepsigen Ton, den ihre Stimme jetzt angenommen hatte, kannte Tiziana gut und schon nahm Vivian ihr den Apparat aus der Hand. »Ist das der Auslöser?«, wollte sie wissen und zeigte auf einen runden Knopf.

Tiziana sog die Luft scharf durch die Nase und gab nach, damit der Mann nicht merkte, dass Vivian sich nicht neben ihn setzen wollte. Schnell erklärte sie ihr, was sie machen musste, damit das Bild scharf eingestellt war, und setzte sich neben den Mann auf die Bank.

Vivian drückte dreimal ab. »Fertig«, verkündigte sie und streckte Tiziana die Kamera wieder entgegen. »Wie heißen Sie überhaupt?«, wandte die sich dann an den Bärtigen.

»Nennt mich einfach H. T.«, sagte er und begann dann wieder, über seinen Bart zu streichen.

»Alles klar. Wir müssen dann mal weiter. Tschüss!«, sagte Vivian kurz angebunden und wandte sich auch gleich Richtung Parkausgang.

Tiziana, die sich noch bei H. T. bedankte, musste rennen, um Vivian einzuholen. »Warum bist du so schnell los? Mir wären jetzt noch tausend Fragen eingefallen. Ob er Kinder hat, wie er im Winter klarkommt und was sein größter Traum ist.«

»Also ich finde, wir haben genug Fragen gestellt.«

»Aber der war doch voll lieb.«

»Voll lieb?« Vivian starrte sie an, als hätte sie behauptet, Kakerlaken wären ihre Lieblingstiere. »Wie viele von diesen Typen müssen wir eigentlich befragen?«

»Zehn oder zwölf.« Tiziana blieb stehen und sah nun ihrerseits Vivian erstaunt an. Das hatte sie ihr doch alles bereits erklärt.

»Zwölf?« Vivian verschränkte die Arme vor der Brust und pustete sich eine kinnlange Strähne aus den Augen. »Tizia, never ever rede ich mit zwölf Pennern!«

Heiß schoss das Blut in Tizianas Wangen. »Dann lass es halt bleiben!«, sagte sie und ihre Stimme zitterte leicht.

»Oh, Mann!«, rief Vivian jetzt und fuhr sich hektisch durch ihren blonden Bob. »Sei nicht gleich eingeschnappt, nur weil ich nicht so begeistert bin von diesem Projekt wie du! Ich habe von Anfang an klargestellt, dass ich nur mitmache, damit du deine Fotostory kriegst und ich den blöden Vermerk für mein Abschlusszeugnis.« Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie Tiziana an. Dann standen sie eine Weile schweigen nebeneinander und jede schaute in eine andere Richtung.

»Und was machen wir jetzt?«, sagte Tiziana dann.

Vivian steckte sich einen Kaugummi in den Mund.

»Ich schlage vor, wir gehen ins Nuvola zu den anderen und trinken einen großen Cappu!«

Ihr Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Und auf dem Weg dahin erklärst du mir mal, warum du auf Penner stehst.«

»Tu ich doch gar nicht!«

»Aber wie kannst du so einen wie H. T. voll lieb finden? Mich kostet es echt Überwindung, mit solchen Typen zu reden.«

»Mir fällt das auch nicht leicht«, sagte Tiziana. »Aber findest du es nicht spannend zu erfahren, warum diese Leute auf der Straße leben?«

»Na ja. Was soll daran spannend sein? Die meisten sind wahrscheinlich einfach nur Alkis. Oder haben null Bock auf frühes Aufstehen.«

»H. T. hat nicht nach Schnaps gerochen. Wahrscheinlich kriegt er sein Leben einfach nicht mehr auf die Reihe. Stell dir mal vor, dir passiert so was. Horror! Irgendwie tut der mir voll leid.«

»Okay, Tizia, du bist wirklich ein guter Mensch«, sagte Vivian und hakte sich bei ihr ein. »Dich interessieren die Schicksale von wildfremden Leuten. Ganz ehrlich, ich bewundere diese Eigenschaft von dir! Ich bin da glaube ich herzloser.«

»Quatsch«, sagte Tiziana. »Das hat doch nichts mit Herzlosigkeit zu tun. Mich interessieren solche Geschichten aus beruflichen Gründen. Schließlich will ich mal Journalistin werden. Und die sind von Natur aus neugierig. Aber vielleicht solltest du dir wirklich ein chilligeres Projekt suchen!«

»Nix da«, sagte Vivian kopfschüttelnd. »Ich lass dich nicht hängen!«

Tiziana drückte ihr ein Küsschen auf die Wange und strahlte mit der Septembersonne um die Wette.

2
Vivian

»Haste mal ein Euro für ’n ehemaliges Unterhosenmodel?«

Ratlos sah sich Vivian im Nuvola um. »Wo sind die Mädels aus deiner Mannschaft?«

Tiziana zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte sie und tippte eine Nachricht an Gesine.

Prompt kam die Antwort: Sind im Vereinsheim geblieben. Der Trainer hat vier Family-Pizzen bestellt.

»Und jetzt?«, fragte Vivian und sah Tiziana mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich habe mehr Lust auf Vanillehörnchen«, sagte die.

Vivian freute sich. »Super! Ich auch. Und ehrlich gesagt habe ich null Bock auf das Vereinsheim. Im Nuvola ist es viel gemütlicher!«

Sie steuerten auf einen der weißen Holztische zu. Vivian ließ sich auf einem der runden Hocker nieder und Tiziana setzte sich auf die himmelblaue Bank an der Wand. Ihre Sporttasche schob sie darunter und dann zog sie die Kamera aus dem Rucksack. Während Vivian für sie zwei Cappuccini und Vanillehörnchen bestellte, klickte Tiziana sich durch die Bilder, die Vivian gemacht hatte.

»Man kann deutlich sehen, dass du auf diesen H. T. nicht besonders scharf warst.«

»Zeig her«, sagte Vivian und stöhnte im nächsten Moment: »Mist, die sind ja alle voll verschwommen!«

»Könnte man so sagen. Und ein Ohr hast du dem armen Kerl auch abgeschnitten«, sagte Tiziana und prustete los.

»Lach nicht! Ich bin vielleicht eine tolle Hilfe bei deinem Traumprojekt! Diese Fotos kann man alle in die Tonne treten!«

»Das nächste Mal nimmst du einfach dein Smartphone. Ich hätte wissen müssen, dass du mit meiner Kamera nicht klarkommst. Ich hab ja auch erst einen Kurs machen müssen, um sie zu kapieren.«

»Ach ja, DER Kurs«, sagte Vivian und zwinkerte Tiziana zu. »Mit Boris als Fotomodell …«

»Vivi, Boris ist mit Kaya zusammen.«

»Jetzt sei mal nicht so pessimistisch. Mein Orakel sagt, dass es sich bei Boris bald ausge-kayat hat!« Vivian kicherte vergnügt und fügte hinzu: »Ehrlich, Tizia. Ich glaube, Kaya langweilt Boris, und dich sieht er immer etwas zu lange an.«

»Du schaust zu viele Soaps.« Tiziana schob sich einen Löffel mit süßem Milchschaum in den Mund und band ihre kastanienbraunen Haare wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen.

»Hey, lass sie doch mal offen«, sagte Vivian. Gerne hätte sie ihrer Freundin einmal ein komplettes Make-over verpasst. Tiziana machte viel zu wenig aus ihrem Typ. Immer nur Jeans und T-Shirts. »Wir sollten nächste Woche unbedingt einen Stylingnachmittag einlegen!«, schlug Vivian vor. »Ich komme zu dir, wir checken den Inhalt deines Kleiderschranks und probieren neue Kombis aus!«

»Au ja, ich will dann diesen superkurzen Ledermini anziehen!«

Ruckartig drehte sich Vivian nach der albernen Donald-Duck-Stimme um und sah in Phils lachende Augen. Er beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen Kuss. »Ich dachte, mein Luxusgirl muss harte Projektarbeit leisten, dabei hängt sie im Nuvola ab und gibt Stylingtipps!«

»Wir haben hart gearbeitet und erholen uns jetzt etwas von den Strapazen«, sagte Vivian lachend, zog Phil neben sich auf den freien Stuhl und küsste ihn noch einmal. »Hey, Boris«, begrüßte sie dann auch Phils besten Freund, der sich, wie sie mit Genugtuung registrierte, auf die Bank neben Tiziana setzte.

»Was für ein Projekt habt ihr euch ausgesucht?«, wollte der von Tiziana wissen.

Vivian freute sich, dass die zwei sich einmal ohne Kaya begegneten, und wieder einmal kam es ihr so vor, als würde Boris Tizianas Nähe genießen. Er hatte dieses Leuchten in den Augen und seine Stimme klang weicher als sonst. Sie ließ die beiden in Ruhe und schmiegte sich an Phil. »Soll ich dir mal was verraten?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Klar. Kannst mir ruhig sagen, dass du süchtig nach mir bist und die ganze Nacht kein Auge zubekommen hast, weil du an meinen unvergesslichen Silberblick denken musstest«, flüsterte Phil zurück und schielte sie an.

Vivian verstrubbelte seine Frisur, sodass ihm der überlange Pony vor den Augen hing. »Sehr sexy«, sagte sie lachend. »Am Mittwoch musst du jedenfalls ganz fest an mich denken.«

»Tu ich doch sowieso immerzu.« Phil sah sie schmachtend an.

»Nein, im Ernst. Ich hab da meine erste Rollerstunde.«

»Cool! Du bist sicher ein Naturtalent«, sagte Phil, gab ihr einen Kuss und strich ihr liebevoll eine Strähne aus der Stirn. Dann legte sich wieder ein schelmischer Ausdruck auf sein Gesicht. »Musst unbedingt ein Selfie machen. Ich entscheide dann, wer schnittiger ist. Der Roller oder du.«

Vivian wollte ihm gerade spielerisch einen Schlag auf den Arm verpassen, da kam die Bedienung an den Tisch.

»Für mich einen doppelten Espresso«, meldeten sich Boris und Phil gleichzeitig zu Wort.

Vivian musste insgeheim grinsen. Phil und Boris waren, wie Tizia und sie, schon seit Kindergartenzeiten beste Freunde. Erst hatte sie die beiden sogar für Brüder gehalten. Beide hatten blaue Augen, waren knapp über ein Meter achtzig groß und die einzigen Jungs in ihrer Jahrgangsstufe, die richtig männlich aussahen.

»Mit der Fotostory nimmt Tizia übrigens auch automatisch an so einem Wettbewerb teil«, mischte sich Vivian nun doch in die Unterhaltung von Boris und Tiziana ein, die gerade etwas ins Stocken gekommen war.

»Was für ein Wettbewerb?«, wollte Boris wissen und sah Tiziana dabei an.

»Ach, nichts Besonderes, nur so ein Jugend-Journalismus-Wettbewerb«, sagte Tiziana. »Und weil ich doch auch Chefredakteurin der Schülerzeitung bin, kann ich das Projekt einreichen. Vielleicht kriege ich so später mal leichter einen Platz an der Journalismus-Schule. Alle sagen ja, es wäre total schwer, da reinzukommen!«

»Wow. Du willst also Journalistin werden. Dann brauchst du auch super Noten, damit du Fachabi machen kannst, oder?«, fragte Boris, aber bevor Tiziana antworten konnte, erschien plötzlich Kaya auf der Bildfläche. »Hier steckst du also«, sagte sie zu Boris, der gleich aufsprang und sie mit einem Kuss begrüßte.

Vivian fluchte innerlich. Neben der durchgestylten Kaya wirkte Tiziana in ihrem sportlich-praktischen Outfit wie ein Mauerblümchen. Kurzerhand zählte sie das Geld für ihren Cappuccino und das Hörnchen ab und legte es auf den Tisch. »Tizia und ich müssen noch mal los, ein Foto schießen«, sagte sie, verabschiedete sich mit einem Kuss von ihrem Freund und sah Tiziana auffordernd an.

Die reagierte mit einem dankbaren Lächeln, legte auch ihr Geld auf den Tisch und zog ihre große Tasche unter der Bank hervor. Vivian schulterte hilfsbereit Tizianas Kamerarucksack, damit ihre Freundin nicht auch noch wie ein Packesel aussah. Dann verließen sie das Café.

»Danke«, sagte Tiziana draußen und fiel Vivian um den Hals.

»Reine Selbstschutzmaßnahme. Jedes zu viel gewechselte Wort mit Kaya ist verschwendete Lebenszeit.«

Fröhlich hakte Tiziana sie unter. »Und was jetzt?«

»Ab in den Park! Vielleicht erwischen wir diesen H. T. noch mal und dann machst du ein gestochen scharfes Bild von ihm«, schlug Vivian vor und beneidete Tiziana einmal mehr um diese kleinen Grübchen, die sich auf ihren Wangen bildeten, als sie lächelte.

Im Park hielten sie aber vergeblich Ausschau nach H. T. Auf der Lehne von dessen Lieblingsbank saß jetzt ein Punker mit schwarz-weiß geflecktem Hund.

»Das wird wohl doch nichts mehr mit dem Foto. Wollen wir zu dir oder zu mir?«, fragte Vivian.

Tiziana zögerte. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Ich würde echt gerne, aber ich muss dringend noch einiges für die Schülerzeitung erledigen«, sagte sie.

»Hey, es ist Samstag! Nur ein klitzekleines Stündchen bei dir chillen. Musikhören, über Kaya lästern, Popcorn futtern und so.«

»Wirklich sorry. Aber wir machen das ganz bald. Versprochen!«, sagte Tiziana mit dieser typischen Miene, die sie in letzter Zeit immer aufsetzte, wenn sie Stress hatte.

»Bin ich froh, dass ich keine so lästigen Zusatzjobs habe«, sagte Vivian und versuchte, ihre Enttäuschung zu überspielen. »Ich werde auch nie wieder jammern, wenn du vom Unterricht befreit wirst, um bei einem Sektempfang des Direktors dabei zu sein. Auf solche Ehre verzichte ich doch liebend gern. Meine Freizeit ist mir heilig!«

»Okay«, sagte Tiziana lachend. »Ich werde dich beim nächsten Mal daran erinnern.« Dann griff sie nach dem Rucksack, den Vivian immer noch für sie trug, umarmte sie noch einmal und steuerte mit ausgreifenden Schritten auf den östlichen Ausgang des Parks zu.

Vivian dagegen schlenderte gemütlich am Wasser des Sees entlang zum westlichen Parkausgang, wo sie prompt ein Penner anschnorrte: »Haste mal ein Euro für ’n ehemaliges Unterhosenmodel?«

Vivian sah ihn an und bekam einen Schreck. Der Typ hatte ein Loch im Hals! »Sorry, ich bin selbst pleite«, stotterte sie und beeilte sich, aus dem Park zu kommen. Hoffentlich, dachte sie, müssen wir den nicht auch interviewen!

3
Tiziana

»Mein Leben würde keiner leben wollen. Ich eigentlich auch nicht. Aber was soll ich machen. Man muss nehmen, was da ist.«

Wenn ich morgen nicht mehr da bin, interessiert das keine Sau! Und das ist gut so. Niemand soll wegen mir heulen.«

Tiziana biss auf ihren Stift und sah die Frau schweigend an. Ihr fiel auf, dass sie noch gar nicht so alt war, wie sie auf den ersten Blick schien. Wie die wohl ausgesehen hat, als sie sechzehn war?, fragte sie sich und wie von selbst kam ihr die nächste Frage über die Lippen: »Können Sie sich noch daran erinnern, was Sie als Jugendliche für Musik gehört haben?«

»Keine Ahnung.«

»Mutti Beimer ist ein großer Fan von The Doors«, kam plötzlich die Antwort von hinten.

Tiziana drehte sich überrascht um und da stand der Punker, den sie am Wochenende auf der Parkbank gesehen hatte. Sein schwarz-weiß gefleckter Hund lief zu Mutti Beimer und ließ sich von ihr streicheln. Unwillkürlich fiel Tizianas Blick auf die Dreckränder unter den Fingernägeln der Frau, die jetzt durch das seidig glänzende Fell des Hundes glitten.

»Mutti Beimer?«

»Alle nennen Ute so, weil sie der Schauspielerin aus einer Uralt-Fernsehserie ähnlich sieht«, antwortete der Punker, den Tiziana auf achtzehn schätzte.

»Ich bin Louis«, sagte der jetzt und streckte ihr seine Hand entgegen.

Irritiert über diese altmodische Geste, zögerte Tiziana einen Moment. Dann reichte sie ihm ihre. »Ich bin Tizia.«

»Und, Tizia, soll ich dir auch verraten, auf welche Musik ich so stehe?«

Tiziana konnte sehen, dass sich auf seiner rechten Wange ein tiefes Grübchen bildete, als er sie angrinste.

»Ich tippe mal auf Slime, die Toten Hosen und Sum 41«, sagte sie und grinste ihn nun ihrerseits an. Sie wusste, dass er niemals gedacht hätte, so eine wie sie – in praktischem Casual Look – würde Punkbands wie Slime und Sum 41 kennen.

»Echt jetzt?«, sagte Louis und Tiziana entging nicht, dass er sie nun ein wenig interessierter ansah. »Sehe ich etwa so aus, als ob ich auf Punk stehe?« Mit noch breiterem Grinsen schob er sich einen Kaugummi zwischen die Zähne. Seine blonden Haare, die er zu kleinen Irokesenstacheln aufgerichtet hatte, glänzten in der Sonne. Sein ganzes Outfit wirkte auf den ersten Blick zwar punkig, war bei genauerem Hinsehen aber nicht besonders extrem.

»Ich steh eher auf alte unpunkige Bands, wie U2, Depeche Mode. Okay, Boxhamsters und Sum 41 mag ich auch, aber ich hör auch gerne chilliges Zeug, wie Cro oder Reggae von Peter Tosh.« Tiziana wollte Louis antworten, dass Sum 41 ihre absolute Lieblingsband war, doch da stand Mutti Beimer plötzlich auf und packte ihre Plastiktüten.

»Ich wollte noch ein Foto von Ihnen schießen.« Tiziana griff nach ihrem Fotorucksack.

»Von mir? Bloß nicht. Mach lieber eins von Louis. Mich will keiner sehen.«

»Warum willst du sie fotografieren?«, mischte sich Louis ein.

»Ich mache eine Fotoreportage über Wohnsitzlose.« Tiziana umriss in Stichworten das Projekt.

»Wohnsitzlose«, mischte sich Mutti Beimer ein und zeigte all ihre Zahnlücken. »Das klingt, als ob ich mal ’ne Villa hatte. Ich bin Pennerin. Oder auch einfach nur ’ne Voll-Versagerin. Das kannste ruhig so schreiben. Aber ohne Foto!« Mutti Beimer legte den Kopf schief und fixierte sie mit einem undurchschaubaren Blick. Hatte sie das witzig gemeint oder war sie sauer?

»Ute«, sagt Louis und knuffte Mutti Beimer in die Seite. »Verschreck doch nicht immer die Leute so.« Zu Tiziana gewandt, sagte er: »Und warum machst du so ’ne Reportage? Hast du keine anderen Hobbys?«

»Ist für die Schule. Ich mach das mit einer Freundin zusammen. Die hat aber gerade ihre erste Rollerstunde und darum bin ich heute alleine unterwegs.«

»Ute«, sagte Louis und legte Mutti Beimer einen Arm um die Schulter, »hab dich nicht so. Ist doch für einen guten Zweck.«

Sie schmiegte sich an ihn und Louis schien es nicht zu stören, dass ihre Kleidung total versifft war und ihre strähnigen, fettigen Haare sogar seinen nackten Hals berührten.

»Kannst dich anstrengen, wie du willst, Louis Baby«, sagte sie und zeigte erneut ihre Zahnlücken. »Ich hab mich seit über zehn Jahren nicht mehr fotografieren lassen.«

»Dann ist es höchste Zeit«, konterte Louis, aber Mutti Beimer ließ nicht mit sich reden.

»Kannst ja ein zahnloses Strichmännchen mit dickem Busen und wabbligem Bauch unter meine Geschichte malen. Fotos von mir sind deprimierend«, sagte sie noch, ehe sie ihre Sachen nahm und ging.

Tiziana zuckte entmutigt mit den Schultern und sah auf ihr Smartphone. Jetzt hatte sie zwei Stunden gebraucht, um die Frau überhaupt zum Reden zu bringen, aber ohne Bild konnte sie den Beitrag vergessen. Wenn das so weitergeht, kann ich das Ganze gleich lassen. Dann brauche ich für dieses Projekt so viel Zeit, dass ich mein Lernpensum für den Abschluss nicht schaffe, dachte sie und presste die Lippen aufeinander.

Da stieß eine feuchte Hundeschnauze gegen ihre linke Hand und schmiegte sich an sie. »Wie heißt er?«, fragte Tiziana Louis und strich dem Hund über den Kopf.

»Das ist Fanta«, sagte Louis, und als die Hündin ihren Namen hörte, wedelte sie zustimmend mit dem buschigen Schwanz.

»Fanta?«

»Ja, weil Fanta der süßeste Hund ist, den ich kenne, und ich früher voll auf diese gelbe Limo gestanden habe!«, sagte Louis lachend. »Kannst mich übrigens immer fragen, wenn es um die Berber geht. Ich hänge oft mit denen im Park ab.«

»Danke«, antwortete Tiziana und musterte ihn zögerlich. So einen wie Louis hatte sie noch nie kennengelernt, aber irgendwie schien er echt witzig zu sein.

»Und wegen Mutti Beimer … Vielleicht erwischst du sie mal an einem besseren Tag. Heut ist sie ziemlich depri.« Er griff nach seiner Jacke, zog einen silbernen Flachmann aus der Innentasche und nahm einen Schluck.

Tiziana rümpfte unwillkürlich die Nase. Fand er das cool, schon am Nachmittag zu saufen?

Louis schien ihren Blick bemerkt zu haben und erklärte grinsend: »Das gehört zu meinem Halbpunker-Look.« Unvermittelt hielt er ihr das silberne Fläschchen unter die Nase. Fruchtig stieg ihr ein Gemisch nach Banane, Orange und noch irgendetwas in die Nase. »Entengrützensmoothie. Meine Erfindung. Giftgrün, weil echter Waldmeister drin ist. Den hab ich im Frühling gesammelt und tiefgefroren. Magst du mal probieren?«